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Zürich, Juni 2010

Schatz, das Taxi ist da.« Damaris Morlot stand am Fenster und spähte durch die Gardinen auf die Straße hinab. Sie wandte sich um und horchte. Die Rockmusik, die seit den frühen Morgenstunden in Anouks Zimmer gehämmert hatte, war verstummt. »Anouk«, rief sie nochmals, »beeil dich bitte!«

Im oberen Stockwerk schlug eine Tür zu, und gleich darauf hörte Damaris Schritte auf der Treppe.

»Ist ja gut, bin schon da«, murmelte ihre Tochter und schlüpfte in ihre abgewetzte Jeansjacke.

Damaris versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Anblick ihrer Jüngsten sie erschreckte, die in den letzten Wochen noch dünner geworden war. Die blasse Haut spannte sich wie Pergament über ihren hochstehenden Wangenknochen. Die kupferfarbenen Locken sahen stumpf und ungepflegt aus; ihre grünen Augen waren trüb, als würden sie hinter einer milchigen Scheibe liegen. Das gefeierte Topmodel, das die Titelseiten internationaler Modemagazine geziert hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst.

Damaris’ Herz krampfte sich zusammen. Sie hoffte inständig, dass der Ortswechsel Anouk helfen würde, das Vergangene zu verarbeiten.

»Na, wenn das kein gutes Zeichen ist, Schatz«, wandte sie sich an ihre Tochter und bemühte sich um ein strahlendes Lächeln. »Soeben hat es aufgehört zu regnen. Wenn du Glück hast, wird’s noch ein sonniger Tag.«

Anouk zog gleichgültig die Achseln hoch, schulterte ihre Reisetasche und zog den Rollkoffer wie einen lahmen Hund hinter sich her.

»Tschüs, Mama«, sagte sie und hauchte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Ich rufe dich an, sobald ich da bin.«


Der Intercity war nahezu leer. Im Abteil muffelte es nach getragenen Socken und verbrauchter Atemluft. Anouk verstaute ihre Reisetasche im Gepäckfach, schob den Koffer unter den Sitz und stöpselte die Kopfhörer ihres MP3-Players ein. Sie legte die Füße auf den freien Sitz gegenüber, ignorierte den missbilligenden Blick einer älteren Dame und schaute zum Abteilfenster hinaus. Der Ansturm der morgendlichen Pendler war vorüber. Obwohl nur wenige Reisende mit einem Lächeln auf den Lippen unterwegs waren, schienen die meisten doch glücklich zu sein. Oder jedenfalls zufrieden. Viele marschierten zielstrebig an ihr vorbei. Den Blick geradeaus, einen Aktenkoffer oder eine Mappe in der Hand. Einige mit einer Zeitung unter dem Arm, andere wiederum mit vollgepackten Rucksäcken und Bergschuhen an den Füßen. Eine Horde Schulkinder lief johlend vorüber. Anouk beneidete sie. Irgendjemand wartete auf sie, irgendwo würden sie vermisst werden, wenn sie nicht ankämen, irgendwer liebte sie. Und wer liebte Anouk? Sie biss sich auf die Lippen. Etwas Selbstmitleid gefällig?

Die vergangenen Jahre war sie von Termin zu Termin, von Location zu Location gehetzt. Manchmal hatte sie sich nicht einmal mehr daran erinnern können, in welchem Land sie sich gerade befand. Die Hotelzimmer sahen alle gleich aus. Lediglich an den Außentemperaturen und der jeweiligen Vegetation konnte sie ausmachen, ob sie in den Everglades oder vor einem Fjord posierte. Zeit für eine Partnerschaft blieb bei diesem Job nicht. Jetzt wäre es schön gewesen, einen vertrauten Menschen neben sich zu haben. Jemand, der sie in den Arm nehmen und ihr sagen würde, dass alles gut wird … irgendwann.

Anouk fummelte an ihrem MP3-Player herum, bis sie einen Rocksong fand. Die harte Musik vertrieb ihre melancholischen Gedanken. Sie wippte mit dem Kopf im Takt. Genau vor ihrem Abteilfenster stand ein Liebespaar und küsste sich. Das Mädchen erinnerte sie an Julia. Die gleiche blonde Lockenmähne, die gleiche zierliche Gestalt. Anouks Kehle wurde eng. Sie bekam plötzlich kaum noch Luft und keuchte. Die Frau schräg gegenüber griff nach ihrer Handtasche. Vermutlich dachte sie, Anouk sei drogensüchtig. Doch Drogen hatten sie nie interessiert. Ihre Mitreisende war anscheinend nicht der gleichen Meinung, denn sie raffte hastig ihre Sachen zusammen und setzte sich auf einen freien Platz neben den Ausgang.

Anouk konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Aus den Augenwinkeln sah sie immer noch die blonden Locken des küssenden Teenagers. Geschwind senkte sie den Kopf. Sie hätte sich gerne eine Zigarette angezündet, doch im Zug war das Rauchen untersagt, deshalb langte sie nach ihrer Handtasche und kramte darin herum, bis sie einen Kaugummi fand. Abrupt hielt sie inne, als sie die pinkfarbene Packung erkannte. Julias Lieblingskaugummi! Anouk schossen Tränen in die Augen. Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie sie weg und zuckte zusammen. Die Wunde über ihrem linken Auge heilte gut ab, schmerzte aber immer noch. Es würde besser werden, hatten die Ärzte gesagt, sie könne auch sicher weiterhin als Model arbeiten. Nur müsse sie die kommenden Monate eine kaschierende Frisur tragen. Anouk verzog das Gesicht. Klar, ganz einfach. Alles vorbei und vergessen. Weitermachen, als wäre nichts gewesen.

AC/DC dröhnte in ihren Ohren. Hell’s Bells. Sie hatte sie gehört, die Höllenglocken. Sie hörte sie noch immer. Die Melodie bestand aus kreischenden Reifen, zersplitterndem Glas und krachendem Blech. Und sie wusste auch, wie die Hölle roch: nach verbranntem Gummi, Benzin und warmem Blut. Julias Blut.

»Nächster Halt Lenzburg. Umsteigemöglichkeiten nach …«

Anouk spuckte den Kaugummi in den Abfallbehälter, griff nach ihrem Gepäck und ging den Mittelgang entlang. Der Zug bremste abrupt; sie taumelte, verlor das Gleichgewicht und landete direkt auf dem Schoß eines Reisenden.

»Hoppla!«, sagte der Fremde erschrocken.

»’tschuldigung«, murmelte sie errötend, hob den Kopf und blickte in ein Paar haselnussbraune Augen. »Ich fahre selten Zug, aber seit dem Unfall …« Sie brach ab.

»Kein Problem.«

Der Mann lächelte. Anouk nickte und stolperte dann schnell Richtung Zugtür davon. War sie denn noch zu retten? Jetzt hätte sie beinahe einem Wildfremden von dem Crash erzählt. Sie brauchte wirklich Urlaub.

Der Lenzburger Bahnhof war modernisiert worden. Anouk blickte sich suchend nach der Haltestelle des Überlandbusses um. Sie war müde, überlegte kurz, ein Taxi zu nehmen, entschied sich aber dagegen. Ein Bus hatte viel mehr schützendes Metall um sich als ein Personenwagen.

Sie erinnerte sich daran, wie sie und ihre Schwester Aimée als Kinder Großtante Valerie in den Sommerferien besucht hatten. Die Dame war schon damals recht schrullig gewesen. Doch seitdem bei der Fünfundsiebzigjährigen Altersdemenz festgestellt worden war, ging es mit ihr stetig bergab, hatte der Hausarzt Anouks Eltern mitgeteilt. Körperlich sei sie noch recht fit, aber im Kopf purzele alles durcheinander. Sie hätte oft Phasen, in denen sie nicht mehr wüsste, wo und in welcher Zeit sie sich gerade befände.

Aus diesem Grund hatten Anouks Eltern, als Valeries nächste Verwandte, beschlossen, die alte Frau in ein Heim einweisen zu lassen. Dort wurde jedoch erst in sechs Monaten ein Zimmer frei. Und deshalb war Anouk dazu überredet worden, den Sommer in Seengen bei ihrer Großtante zu verbringen.

Anouk schnaubte und warf ihre Haare in den Nacken. Wie hatte sie sich bloß dazu breitschlagen lassen können? Vermutlich waren das noch die Nachwirkungen des Schocks gewesen. Aber als ihre Mutter mit dem Vorschlag angekommen war, hatte sie es als äußerst verlockend empfunden, aus Zürich wegzugehen. Die lauten Partys, die versnobten Vernissagen und die extrovertierte Modelszene mit ihrer Vorliebe für Drogen und Alkohol gingen ihr auf die Nerven. Und das Loft, das sie sich mit Julia geteilt hatte, konnte sie im Moment nicht betreten, ohne in Weinkrämpfe auszubrechen. Ein wenig Abstand würde ihr guttun, auch wenn Krankenpflege nicht unbedingt zu ihren liebsten Freizeitbeschäftigungen gehörte. Anouk seufzte. Vielleicht würde ja unverhofft doch noch ein Zimmer vor Ablauf des halben Jahres frei werden, und ihre Großtante könnte schon eher ins Heim ziehen. Dort lebten schließlich alte Leute – und alte Leute starben. Bis dahin hätte sie auch sicher wieder Aufträge. Womöglich keine Nahaufnahmen, die Narbe würde auch kein noch so geschicktes Make-up vollständig abdecken können, aber ein paar Laufstegjobs lagen durchaus im Bereich des Möglichen. Sie war schließlich erst vierundzwanzig; heutzutage kein Alter für ein Model. Seengen lag außerdem nicht am Ende der Welt. Mit dem Auto waren es bloß dreißig Minuten bis nach Zürich. Und irgendwann würde sie auch wieder einen Wagen steuern können. Hoffentlich.

Anouk ließ sich mit einem Stöhnen in den Polstersitz des Busses fallen. Es war kurz nach zehn Uhr – Montagmorgen – und das Fahrzeug nur spärlich besetzt: zwei ältere Hausfrauen mit Einkaufstaschen, ein pickliger Jüngling und ein schlanker Mann mit einem schlechten Haarschnitt.

Anouk betrachtete den Nacken des Fremden, der zwei Reihen vor ihr saß, und überlegte, ob sie sich zu einem Kurzhaarschnitt durchringen sollte. Der Gedanke kam ihr jeden Sommer, aber letztendlich hatte sie es noch nie übers Herz gebracht, ihre Locken abzuschneiden. Die Agenturen buchten Anouk, wenn sie ein Model mit katzenhafter Ausstrahlung suchten. Mit ihren grünen Augen und dem roten Haar war sie dafür wie geschaffen, doch im Moment wäre sie eher für ein Shooting in einem Krematorium geeignet. Sie hatte fünf Kilo Untergewicht und musste unbedingt etwas auf die Rippen bekommen.

Der braunhaarige Nacken drehte sich um und winkte. Anouk schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze und linste darüber hinweg. Toll, der Sturzhelfer aus dem Zug! Sie nickte ihrem Retter flüchtig zu und schaute dann demonstrativ aus dem Fenster. Sie hatte keine Lust, sich zu unterhalten.

Bei der Poststelle in Seengen stieg der Mann aus und schenkte ihr zum Abschied ein Lächeln. Sie verzog den Mund. Schlecht sah er ja nicht aus. Seine Aufmachung war zwar nachlässig, doch mit der richtigen Style-Beratung hätte man aus ihm eine ansprechende Erscheinung machen können.


Max sah dem Postauto hinterher und schulterte seine Tasche. Er fand es schade, dass ihm die rotgelockte junge Frau mit ihrer Reaktion so deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie kein Interesse an einem Kennenlernen hatte. Wirklich schade, denn sie gefiel ihm. Vielleicht etwas zu dünn und zu ernst für seinen Geschmack, aber schon im Intercity hatte er bedauert, dass sie ihm wie gerade eben keine Möglichkeit gelassen hatte, sich ihr vorzustellen. Nun ja, sie war sicher eine Touristin, die er sowieso nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Von daher konnte es ihm eigentlich egal sein. Und schließlich war da ja auch noch Brigitte.

Vom Kirchturm schlug es halb elf. Der kurze Ausflug nach Zürich zu einem früheren Studienkollegen hatte länger gedauert, als er gedacht hatte, und vermutlich platzte sein Wartezimmer bereits aus allen Nähten. Von einem »Arztbesuch nach Vereinbarung« hielten die Dörfler absolut nichts. Sie kamen einfach vorbei, wenn ihnen etwas fehlte. Max schüttelte schmunzelnd den Kopf und machte sich dann auf den Weg zu seiner Praxis.


Als Anouk beim Schloss Brestenberg ausstieg, schlug ihr die Junihitze wie eine Faust ins Gesicht. Sie beeilte sich, in den Schatten der ausladenden Eichen am Straßenrand zu kommen, und stellte ihr Gepäck ab. Um das Gebäude herum war ein Gerüst angebracht worden. Das Gemäuer war bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kaltwasser-Heilanstalt gewesen, was auch immer das bedeuten mochte, und hatte danach lange Zeit leer gestanden. Offenbar war man jetzt im Begriff, das Anwesen in ein Hotel umzuwandeln.

Sie überquerte die Straße und sah auf den Hallwilersee hinab, der nur zweihundert Meter entfernt lag. Das blaue Gewässer hockte wie eine brütende Henne zwischen zwei Hügelzügen. Im Süden sah man den kleineren Baldeggersee und dahinter, im morgendlichen Dunst, die schneebedeckten Alpen. Ein paar Segelboote dümpelten auf der spiegelglatten Wasseroberfläche. Anouk leckte sich über die Lippen. Sie war plötzlich schrecklich durstig.

Ein kleines Mädchen stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrte zu ihr herüber. Das Kind trug nur ein weißes Hängerchen, das wie ein Nachthemd aussah, und war barfuß. Rote Locken umgaben sein rundliches Gesicht wie Schlangen das Haupt der Medusa. Anouk schaute sich nach der Mutter des Mädchens um. Obwohl nicht viel Verkehr herrschte, war es doch unverantwortlich, ein Kind in diesem Alter ohne Aufsicht zu lassen. Doch außer ihnen beiden war weit und breit kein Mensch auszumachen. Ob sie die Kleine nach Hause bringen sollte? Das Kind war höchstens drei Jahre alt und sicher nicht weit gelaufen.

Dröhnendes Hupen ließ Anouk zusammenzucken. Mit einem Schrei sprang sie zurück auf den Gehsteig. Knapp einen Meter vor ihr raste ein Laster vorbei. Hinter der Autoscheibe sah sie einen Mann mit verzerrtem Gesicht, der wild mit der Hand herumfuchtelte. Sie schluckte. Das war knapp gewesen! Im dieselgeschwängerten Luftzug fröstelte sie plötzlich. Sie rieb sich die Arme und blickte zu dem kleinen Mädchen hinüber. Doch der Platz, an dem das Kind mit den roten Locken noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte, war leer. Hatte sie jetzt etwa schon Halluzinationen? Sie schüttelte den Kopf und griff nach ihrem Gepäck.

»Na, dann wollen wir mal!«, sagte sie und drehte sich um. Hoffentlich hatte die alte Dame in der Zwischenzeit nicht wieder etwas Verrücktes angestellt.

Landsitz derer von Diesbach, Mai 1743

»Ihr könnt mich nicht dazu zwingen!«

Bernhardines Augen funkelten. Wütend presste sie die Lippen aufeinander und warf den Kopf in den Nacken. Dabei verrutschte ihre Perücke, und eine rote Haarlocke stahl sich unter ihr hervor, die sie sich ärgerlich aus der Stirn pustete.

»Mädchen«, brummte ihr Vater, und eine Falte bildete sich über seinen buschigen Augenbrauen, »benimm dich! Es gibt nichts mehr zu diskutieren. Die Sache ist per Handschlag besiegelt.«

»Per Handschlag?« Bernhardines Stimme überschlug sich. »Bin ich denn ein Ackergaul, den man am Markttag an den Meistbietenden verhökert?« Sie ballte die Hände zu Fäusten.

Franz Ludwig von Diesbach, Freiherr zu Liebistorf, stieß den Stuhl zurück, stand auf und hieb mit der flachen Hand auf den Sekretär, so dass einige Schriftstücke in die Luft flogen und langsam zu Boden flatterten.

»Es reicht, Bernhardine Amalia!«, fauchte er seine Tochter an. »Du vergisst dich! Am Fünfzehnten wirst du dich auf den Weg nach Schloss Hallwyl machen, und im Juni wird geheiratet. So ist es abgemacht und wird geschehen!«

Er wies mit dem Arm zur Tür und ging drohend einen Schritt auf seine Tochter zu. Bernhardine raffte ihr Kleid und stürmte aus dem Arbeitszimmer.

Franz Ludwig ließ sich schnaufend auf seinen Stuhl zurückfallen und seufzte. Er strich sich den Schweiß von der Stirn, wischte die Hand an seiner Kniehose ab und kratzte sich unter der Allongeperücke, die einen penetranten Geruch nach Talkumpuder und Schweinefett verbreitete. Der Sommer hatte erst begonnen, doch schon jetzt ächzte das ganze Land unter einer brütenden Hitze, die breite Risse im Ackerboden entstehen ließ und das Vieh beutelte. Amandine, sein Eheweib, lag ihm seit Tagen in den Ohren, nach Bern zurückzukehren, um die heißen Tage in ihrer Stadtresidenz zu verbringen. Doch Franz Ludwig hatte keine Lust auf endlose Mahlzeiten in unbequemer Kleidung und städtisches Geschwafel.

Er hangelte mit seinem Schnallenschuh nach einem Pergament, das zu Boden gefallen war, und hob es auf. Es zeigte seinen zukünftigen Schwiegersohn. Der Künstler hatte den Bräutigam darauf mehr als geschönt.

Johannes von Hallwyl war Witwer, fünfundfünfzig und somit zwei Jahre älter als er selbst. Der Aargauer trug einen altmodischen Gehrock mit Aufschlägen, ein gefälteltes Hemd, das ihm wie eine Schaumkrone aus der geknöpften Weste sprang, dazu einen Dreispitz mit einer albernen Feder.

Franz Ludwig zog die Mundwinkel nach unten. Ein Adonis war sein zukünftiger Eidam wahrlich nicht. Aber Bernhardine war schon sechzehn Jahre alt, und ihr rebellisches Wesen hatte in der Vergangenheit alle Bewerber in die Flucht geschlagen. Seitdem er den Hallwyler im Frühjahr in Einsiedeln kennengelernt und dieser ihm von seinem einsamen Leben auf seinem Schloss berichtet hatte, hielt es Franz Ludwig daher für eine großartige Idee, ihm seine Jüngste schmackhaft zu machen. Der Mann war so vermögend, dass er keine übertriebene Mitgift forderte. Des Weiteren schickte ihm der Aargauer ein paar seiner besten Handwerker, die den von Diesbachs die löchrigen Decken reparieren sollten. Unentgeltlich!

Franz Ludwig legte das Porträt seines zukünftigen Schwiegersohns auf den Sekretär zurück. Bernhardine musste sich eben fügen. Schließlich war sie bloß eine Frau und hatte zu gehorchen.

»Weiber!«, knurrte er. »Man hat nur Scherereien mit ihnen.«


Bernhardine warf sich auf ihr Bett und trommelte mit den Fäusten auf das Kissen. Verkauft und verschachert! Abgeschoben ins Hinterland! Sie hasste ihren Vater abgrundtief. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Lieber würde sie ins Wasser gehen, als in der Einöde dieses Landstriches zu versauern. Sie riss sich die Perücke vom Kopf und schleuderte sie quer durchs Zimmer.

Warum nur war sie nicht als Mann auf die Welt gekommen? Dann hätte sie tun und lassen können, was sie wollte. Doch stattdessen verbrachte sie ihre Tage mit Stickarbeiten, Musizieren und gehobener Konversation. Was nützte ihr das alles, jetzt, da man sie einem Bauern versprochen hatte?

Sie drehte sich auf den Bauch, steckte ihre Hand unter die Rosshaarmatratze und zog einen schmalen Gedichtband hervor. Der braune Ledereinband war schon ganz abgegriffen. Und eine Seite so lose, dass sie ein Lufthauch hätte davonwehen können.

Wie konnte ihr der Vater nur so etwas antun? Es ziemte sich nicht, eine junge Edeldame einem tattrigen Zausel zu überlassen. Dieser Johannes war ja fast so alt wie Methusalem. Vielleicht hatte er schon gar keine Zähne mehr und sabberte beim Essen. Oder er hatte Mühe damit, das Wasser zu halten. Sie schüttelte sich. Vorsichtig entfernte sie das Lesebändchen.


Augen! Lasset Tränen fallen!
Weinet, was ihr weinen könnt!
Meine Hoffnung bricht mit Knallen,
weil das Glücke mir nichts gönnt.
Alle Freude ist nun hin,
hochbetrübt ist Seel und Sinn.

Sie drehte sich auf den Rücken, presste den Gedichtband an die Brust und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sidonia Hedwig Zäunemann wusste auf alles eine Antwort. Was für eine Dichterin! Bernhardine schniefte und starrte zur Decke. Die Stuckengel, die ihr Zukünftiger dort hatte anbringen lassen, lächelten auf sie herab, als wollten sie sie verspotten. Die drallen Figuren gefielen ihr nicht. Sie hatten etwas Unheimliches an sich. Als würden sie jeden ihrer Schritte verfolgen.

Bernhardine gähnte und rieb sich die Schläfe. Seit Tagen schlief sie schlecht, hatte Kopfschmerzen, und eine ständige Übelkeit raubte ihr den Appetit. Normalerweise war sie gesund wie ein Haflinger auf der Weide. Doch in letzter Zeit fühlte sie sich oft krank. Genauer gesagt, seitdem diese grässlichen Putten angebracht worden waren. Ob da ein Zusammenhang bestand? Sie fröstelte plötzlich, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.


Die Räder rumpelten über ein Schlagloch, und die Kutsche kam gefährlich ins Schwanken. Bernhardine schreckte auf, klammerte sich mit einer Hand an den Haltegriff, mit der anderen hielt sie ihren Hut fest. Die Karosse glich immer mehr einem fahrenden Backofen. Der Schweiß lief ihr schon seit Stunden den Rücken hinab. Das Mieder war durchnässt, die Unterröcke klebten ihr wie eine zweite Haut an den Beinen und begannen schon zu riechen. Marie, die sie auf der Fahrt begleitete, saß ihr gegenüber und war eingeschlafen. Ihre alte Amme schnarchte mit halb geöffnetem Mund. Ein Speichelfaden rann aus ihrem Mundwinkel und tropfte auf den stattlichen Busen.

Bernhardine massierte ihren verspannten Nacken und sah aus dem Fenster. Die Gemeinden waren klein und ärmlich. Nicht mehr als ein paar schäbige Hütten, die sich um ihre Dorfkirchen scharten wie Lämmer um das Mutterschaf. Äcker und Obstbäume säumten den unebenen Weg, unterbrochen von Tannenwäldern.

Sie mochte das Landleben nicht. Zu viel Vieh, zu viel Gestank und zu wenig Zerstreuung. In der Ferne erhoben sich schneebedeckte Gipfel im Dunst. Nach Auskunft des Kutschers würden sie ihr neues Zuhause bald erreicht haben.

Das Gefährt stoppte abrupt. Bernhardine wurde nach vorne geschleudert und fiel auf Marie, die mit einem Quieken aus dem Schlaf fuhr.

»Jesses Maria und Josef!«, stammelte sie und starrte Bernhardine entsetzt an. Im selben Moment wurde auch schon die Tür aufgerissen. Als der Kutscher Bernhardines verrutschtes Kleid sah, färbte sich sein Gesicht dunkelrot.

»Entschuldgen Se vielmals, die werten Damen. Eine Schafherde versperrt den Weg. Wollen Se sich die Füß’ vertretn? Ich such gleich den Schäfersmann und mach dem Halunk’ Beine.«

»Mache Er schnell!«, befahl Bernhardine und ordnete ihre Röcke.

»Sehr wohl, gnädges Fräulein«, erwiderte der Mann, verbeugte sich und machte sich aus dem Staub.

Bernhardine griff nach ihrem Sonnenschirm und stieg aus der Equipage. Sie befanden sich in einem Birkenwäldchen. Eine leichte Brise ließ die Blätter rascheln. Sie hätte gerne ihr Kleid angehoben, um etwas Luft an ihre Haut zu lassen, doch ein Blick in Richtung Schafherde hielt sie davon ab. Zwischen den schmutzigen Wollleibern sah sie eine Horde Kinder, die die Reisenden angafften, als wären sie exotische Tiere. Bernhardine spannte ihren Schirm auf und versuchte, ein paar Schritte zu gehen. Doch rings um sie herum waren nur blökende, penetrant riechende Schafe und Lämmer.

»Husch!«, rief sie, als ihr eines zu nahe kam, und scheuchte es mit dem Sonnenschirm fort.

Hinter ihr ertönte ein scharfer Pfiff. Sie drehte sich um und sah einen schwarz-weiß gefleckten Hund, der bellend durch die Schafherde preschte. Dabei teilte er sie in zwei Hälften wie einst Moses das Rote Meer. Der Kutscher kam schnaufend auf sie zugestolpert und wischte sich über die Stirn. Sein Gesicht war schweißüberströmt.

»Gleich geht’s weiter«, japste er, beugte sich vornüber und stützte die Hände auf die Knie.

Bernhardine schnupperte. War das etwa Bierdunst, was sie in seinem Atem roch? Wie zur Bestätigung unterdrückte der Mann einen Rülpser.

»Wir fahren!«, zischte sie und funkelte den Fuhrknecht böse an.

Die Frau in Rot: Roman
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