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Seengen, 2010

Im Wartezimmer der Arztpraxis roch es nach Desinfektionsmitteln und Bohnerwachs. Über einer hellbraunen Sitzgruppe hing ein Bild des Matterhorns. In einer Ecke stand ein fleischiger Gummibaum. Die Magazine auf dem Glastisch waren abgegriffen und zerfleddert. Anouk hatte die Wahl zwischen einer Tageszeitung der vergangenen Woche, dem Reader’s Digest und einem Arztmagazin, auf dessen Titelblatt ein schwach durchblutetes Herz prangte. Sie setzte sich auf einen Stuhl, schlug die Beine übereinander und wühlte in ihrer Handtasche nach einem Kaugummi.

Ob sie mit dem Arzt über die Ereignisse der letzten Tage reden sollte?

»Hallo, Herr Doktor, ich höre seit meinem Unfall Stimmen, die Gedichte aufsagen – ist das normal?«

Anouk grinste. Womöglich würde er sie daraufhin sofort in die Psychiatrie einweisen lassen. Außerdem wagte sie zu bezweifeln, dass ein Wald- und Wiesenarzt überhaupt der Richtige für die Analyse solcher Symptome war. Sie hörte Türen schlagen, gleich darauf trat ihre Großtante ins Wartezimmer und sagte über ihre Schulter hinweg: »Ah, Herr Doktor, darf ich Sie mit meiner Großnichte Anouk bekannt machen? Sie betreut mich alte Frau für ein paar Monate.«

Valerie kicherte mädchenhaft. Anouk stand der Mund offen. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie ihre Großtante noch nie auf diese Weise lachen hören. Dieser Doktor musste wirklich etwas ganz Besonderes sein.

»Aber Frau Morlot, Sie sind doch nicht alt! Sie fischen doch nur nach Komplimenten, Teuerste.«

Teuerste? Anouk verdrehte die Augen. War der Mann vielleicht so etwas wie ein schlechter Komödiant? Hinter Valerie trat ein schlanker Mann herein, der einen weißen Arztkittel trug und dringend einen Haarschnitt benötigt hätte. Anouk riss die Augen auf.

»Sie sind das!«, riefen sie und der Doktor gleichzeitig aus.

Valerie schaute die beiden verblüfft an. »Ihr kennt euch?«

Der Arzt fand als Erster die Sprache wieder. »Ja, das heißt, nein. Ich meine … wir lernten uns im Zug kennen. Ich habe Ihre Großnichte sozusagen körperlich aufgefangen.«

Er zwinkerte Anouk zu.

»Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.«

Valerie runzelte die Stirn. Klang da etwa Eifersucht mit? Anouk verbiss sich ein Schmunzeln.

»Ich wusste doch nicht, dass er dein Hausarzt ist, Tati«, versuchte Anouk, sie zu beschwichtigen. »Ich bin gestolpert und auf Herrn Sandmeier gefallen. Das ist alles.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Können wir?«

Valerie legte vertraulich ihre Hand auf den Arm des Arztes. »Also um halb sieben. Und bitte keine Blumen – die sparen Sie sich lieber für meine Beerdigung auf.«

Doktor Sandmeier lachte schallend und nickte.

»Abgemacht. Aber eine Flasche Wein darf ich doch mitbringen, oder? Ich habe heute nämlich keinen Bereitschaftsdienst, und ich weiß ja, was für eine hervorragende Köchin Sie sind. Und zu einem köstlichen Essen gehört auch ein köstlicher Wein.«

Anouks Blicke flogen hin und her. Der Arzt würde zum Abendessen kommen? Ihre Tante hatte also postwendend den Kuppeldienst aufgenommen. Anouk stieß die Luft aus, und der Arzt warf ihr einen schnellen Blick zu, als er es bemerkte. Sollte er doch, es war ihr gleichgültig. Hauptsache, er brächte Wein mit. Hoffentlich gleich zwei Flaschen.

»Du bist unmöglich!« Valerie kämpfte verbissen mit der Gangschaltung des BMW. Mit einem hässlichen Knirschen quittierte das Getriebe ihre Bemühungen, und der Wagen schoss aus der Parklücke. »Doktor Sandmeier ist so ein feiner Mensch. Er hat es nicht verdient, dass du dich über ihn lustig machst. Ich bin wirklich böse auf dich!«

»Nun komm schon, Tati. Ich habe ja gar nichts gesagt.« Anouk klammerte sich ängstlich an ihre Handtasche. »Würdest du bitte langsamer fahren?«

»Nein, gesagt hast du nichts, aber du warst unhöflich.« Ihre Großtante trat das Gaspedal noch fester durch und würgte den zweiten Gang rein. »Der Mann ist ja nicht dumm.«

Anouk seufzte. Ihre Großtante hatte recht. Der Arzt konnte nichts dafür, dass sie im Moment ein bisschen neben sich stand.

»Tut mir leid. Ich verspreche, heute Abend bin ich die Liebenswürdigkeit in Person.« Anouk fing einen skeptischen Blick ihrer Großtante auf. »Und wenn du jetzt noch so freundlich wärst, vom Gas zu gehen, lächle ich auch den ganzen Abend über. Ehrenwort!«


Max setzte sich an seinen Schreibtisch und notierte das aktuelle Tagesdatum in Valerie Morlots Patientenakte. Die vaskuläre Demenz, die er vor einem halben Jahr bei ihr diagnostiziert hatte, stagnierte zu seiner großen Freude für den Moment. Die Arterienverkalkung, die zu Verengungen der Blutgefäße im Hirn führte, war nicht heilbar, doch die medikamentöse Behandlung schlug gut bei seiner Patientin an, und er hoffte, dass der Krankheitsverlauf mit gezieltem Gedächtnistraining und einer leichten Beschäftigungstherapie um einiges verlangsamt werden konnte. Max mochte die alte Dame, die ihn mit ihrer unkonventionellen Art immer zum Lachen brachte. Und so hoffte er nur, dass die Krankheit noch möglichst lange stillhalten und kein hilfloses Bündel Mensch aus ihr machen würde, das auf ständige Betreuung angewiesen war. Max seufzte. Das Leben war manchmal wirklich ungerecht.

Unwillkürlich dachte er an die attraktive Touristin, die sich als Valerie Morlots Großnichte entpuppt hatte. Und obwohl sich Anouk ihm gegenüber äußerst reserviert verhielt, gefiel sie ihm immer besser. Außerdem glaubte er zu wissen, dass sich hinter ihrer Ruppigkeit in Wahrheit eine tiefgehende Traurigkeit verbarg. Valerie Morlot hatte ihm vom Unfall ihrer Großnichte erzählt, und so sah er in ihrem abweisenden Verhalten eher eine Nachwirkung dieses schrecklichen Ereignisses als eine grundlegende Antipathie ihm gegenüber. Ob sie sich wohl die Schuld am Tod ihrer Freundin gab? Vermutlich, sonst wäre sie sicher etwas aufgeschlossener gewesen.

Doch letztendlich ging ihn das nichts an, und so murmelte er abschließend vor sich hin: »Du hast genug andere Patienten, kümmere dich lieber um die.«

Er griff nach dem nächsten Krankenblatt und läutete seiner Sprechstundenhilfe. Trotzdem kehrte er in Gedanken noch einmal zur Großnichte seiner Patientin zurück. Er freute sich auf den heutigen Abend. Anouk Morlot forderte ihn auf eine Weise heraus, die ihn ebenso fesselte, wie sie ihn beunruhigte. Und er war gespannt, welches der beiden Gefühle die Oberhand gewinnen würde.


Pünktlich um halb sieben klingelte es an der Haustür. Anouk zupfte sich eine Haarsträhne vor ihre Narbe und setzte ihr schönstes Lächeln auf.

»Herr Doktor Sandmeier, welche Freude, Sie wiederzusehen!«, flötete sie, hielt dem verblüfften Arzt die Tür auf und ließ ihn eintreten.

»Ja, mich freut es auch … sehr«, stammelte dieser, offensichtlich mehr als überrascht, so freundlich von ihr empfangen zu werden.

»Dann herein in die gute Stube!« Anouk schloss die Tür, quetschte sich an dem Arzt vorbei und ging ihm durch den Flur auf die Terrasse voraus. »Meine Großtante kommt sofort, sie pudert sich nur noch die Nase. Möchten Sie mir vielleicht den Wein geben?«

Doktor Sandmeier sah auf die beiden Flaschen, die er in den Händen hielt, als hätte ihm jemand zwei fremde Säuglinge in die Arme gelegt.

»Natürlich, hier.«

Anouk verbiss sich ein Lachen. Sie räusperte sich und nahm sich vor, tatsächlich etwas liebenswürdiger mit ihrem Gast umzugehen. Ihre Großtante würde sie sonst womöglich rauswerfen.

»Setzen Sie sich doch! Möchten Sie einen Aperitif?«

»Nur ein Glas Wasser, bitte. Und sagen Sie doch Max zu mir. Schließlich sind Sie nicht meine Patientin.«

Er lächelte. Anouk registrierte mit Verwunderung, wie gutaussehend er war, wenn er nicht so ein ernstes Gesicht machte. Seine haselnussbraunen Augen und seine weißen, regelmäßigen Zähne, deren Regulierung seine Eltern vermutlich Unsummen gekostet hatte, waren ihr im Zug schon aufgefallen. Und während er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, nutzte sie die Gelegenheit, auch noch einen raschen Blick auf seine Hände zu werfen. Gepflegte Arzthände – natürlich – mit langen, schlanken Fingern. Feine Äderchen überzogen seine Handrücken. Er trug weder einen Ring noch eine Uhr. Gekleidet war er eher nachlässig. Eine verwaschene Jeans und ein kurzärmeliges Hemd, das so aussah, als hätte er es schon als Student getragen.

»Zufrieden?«

Anouk räusperte sich. »Bitte?«

»Mit der Musterung«, erwiderte der Arzt und zog spöttisch einen Mundwinkel nach oben. »Ich bin vermutlich nicht der Weltgewandteste, aber blind bin ich deshalb noch lange nicht.«

Anouk lachte. Etwas zu laut, da sie sich ertappt fühlte. Sie streckte ihm die Hand hin. »Hallo, Max, ich bin Anouk … und eigentlich ganz nett.«


Ein ohrenbetäubendes Krachen riss Anouk aus dem Schlaf. Wo zum Teufel war sie? Bei Tati Valerie – natürlich. Verfluchter Wein! Die grünen Digitalziffern des Weckers standen auf zwei Uhr fünfundvierzig. Anouk schlug die Bettdecke zurück und tappte, ohne das Nachttischlämpchen anzuknipsen, ins Badezimmer. Irgendjemand hatte ihr erzählt, dass es nicht ratsam sei, im Halbdunkel in den Spiegel zu blicken. Denn dann sähe man sein wahres Ich darin. Und wenn alle Selbstlügen fielen, sei schon mancher wirr im Kopf geworden. Obwohl sie nicht abergläubisch war, steuerte sie gesenkten Kopfes am Badezimmerspiegel vorbei und setzte sich auf die Toilette.

Draußen tobte ein Sommergewitter: Bäume bogen sich unter Windböen, Regen klatschte gegen die Fenster, Blitze erhellten gelbdunkle Wolken. Erneut ließ ein Donnerschlag die Fensterscheiben klirren. Anouk griff sich an die Stirn; sie hatte rasende Kopfschmerzen, und ihre Kehle war so trocken wie eine Wüste. Sie stand auf, öffnete den Spiegelschrank und kramte blind nach einem Aspirin. Mit der hohlen Hand schöpfte sie etwas Wasser und würgte die Tabletten hinunter.

Der Abend war, wider Erwarten, recht unterhaltsam verlaufen. Max Sandmeier konnte wunderbar Geschichten erzählen und hatte die Morlot-Frauen damit mehrfach zum Lachen gebracht. Den Schrullen der Landbevölkerung gewann er unter humoristischen Gesichtspunkten das Beste ab. Er lobte seine Patienten ob ihrer Standhaftigkeit bei Schmerzen. Max hatte vor ein paar Jahren seine gut florierende Arztpraxis in einem Zürcher Nobelviertel aufgegeben, weil ihm die dortigen Kranken auf die Nerven gefallen waren. Die bräuchten gar keinen Arzt, hatte er gesagt. Ihre Wehwehchen wären meist nur eingebildet und dazu da, sie über ihre langweiligen Tage hinwegzutragen. Nach der vierzigsten Dame aus der Oberschicht, die angeblich an einer unheilbaren Krankheit litt und auf nächtliche Hausbesuche pochte, hatte Max den Bettel hingeschmissen und war nach Seengen zurückgekommen, wo er zur Schule gegangen war. Und obwohl er weit weniger verdiente als in Zürich, fühlte er sich hier gebraucht und am richtigen Platz.

Anouk beneidete ihn um dieses Gefühl. Sie würde einfach durch ein anderes Model ersetzt werden, wenn sie nicht bald wieder verfügbar war. Das Modelbusiness war schnelllebig und sprunghaft. Seitdem sie mit neunzehn einen Modelnachwuchswettbewerb gewonnen und daraufhin das Gymnasium geschmissen hatte, war sie ständig unterwegs gewesen. Sie kannte zwar viele Leute, aber nur oberflächlich. Nur Julia war ihr durch die Jahre hindurch eine wahre Freundin gewesen – und ihr gemeinsames Loft Anouks eigentliches Zuhause. Sie hatte sich immer darauf gefreut, ein paar freie Tage in Zürich verbringen zu können, bevor das nächste Shooting anstand. Doch jetzt war Julia tot. Und damit auch die einzige Person, die Anouk Halt gegeben hatte. Gewiss, ihre Eltern waren immer für sie da. Auch ihre Schwester Aimée würde sofort kommen, wenn sie nach ihr riefe, aber sowohl ihre Schwester als auch ihre Eltern führten ihr eigenes Leben. Anouk war jetzt vierundzwanzig. In diesem Alter hatte ihre Mutter bereits zwei Töchter großgezogen; Aimée war im gleichen Alter verheiratet und schwanger gewesen. Und was hatte sie vorzuweisen? Eine dicke Fotomappe, eine Setcard und einen Pass mit exotischen Stempeln. Ein paar Jahre lang würde sie den Job noch machen können. Und dann? Sie hatte keine Ausbildung, keine Freunde, keine Perspektive. Anouks Augen füllten sich mit Tränen.

»Toll, ein bisschen Selbstmitleid zu nächtlicher Stunde bringt einen so richtig in Stimmung«, murmelte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Das Gewitter war schwächer geworden, und der Regen prasselte jetzt gleichmäßig und monoton gegen die Fensterscheiben. Wäre dieses halbe Jahr, das sie mit ihrer Großtante verbringen würde, ein Wendepunkt für sie? Gaben ihr diese sechs Monate Zeit, um ihrem Leben eine andere Richtung und eine neue Perspektive zu geben? Sie war noch jung, sie konnte noch alles erreichen, sie musste nur herausfinden, was sie wollte.

Als sie das zweite Mal die Augen aufschlug, schien die Sonne durch einen Gardinenspalt ins Zimmer. In dem hellen Lichtstreifen tanzten Staubpartikel. Eine Schar Amseln stritt sich lautstark im Baum vor ihrem Fenster. Anouk streckte ihre Arme über dem Kopf aus und gähnte. Der Kopfschmerz hatte sich zu einem dumpfen Pochen zwischen ihren Augen zusammengezogen. Sie presste einen Moment Daumen und Mittelfinger darauf. Ich muss weniger trinken, nahm sie sich vor. Die zweite Flasche, die Max gestern Abend mitgebracht hatte, hatte sie allein geleert. Dementsprechend pelzig fühlte sich ihre Zunge an. Anouk stand auf und öffnete das Fenster. Das Gewitter hatte die Luft rein gewaschen. Der Geruch von nassem Asphalt und zerquetschten Regenwürmern lag in der Luft. Bei diesem Gedanken musste sie daran denken, dass ihre Großtante Gespräche mit Ameisen führte. Sie hatte vorgehabt, Max danach zu fragen, hatte aber am gestrigen Abend keine Gelegenheit gefunden, ihn unter vier Augen zu sprechen. Sein Handy hatte plötzlich geklingelt, und er war nach einer kurzen Entschuldigung hastig aufgebrochen. Ein Notfall? Oder ein Anruf seiner Freundin? Der letzte Gedanke ließ sie die Stirn runzeln. Über dieses Thema hatten sie nicht gesprochen. Auch Tati Valerie hatte dazu nichts verlauten lassen, obwohl sie doch meist über alles Bescheid wusste, was im Dorf vorging. Aber was ging es sie überhaupt an, ob der Dorfarzt mit jemandem liiert war oder nicht?

Es war erst sieben Uhr. Verwandelte sie sich hier in Seengen etwa noch in eine Frühaufsteherin? Sollte sie etwas lesen? Oder lieber einen Spaziergang machen? Anouk beschloss, eine Runde joggen zu gehen. Die Bewegung würde ihr guttun und auch den Kopfschmerz vertreiben. Sie zog den neuen Trainingsanzug, den sie sich gestern in Lenzburg gekauft hatte, aus der Plastiktüte und schlüpfte hinein. Das Zähneputzen vertrieb zum Glück den letzten Rest Weinaroma in ihrem Mund, und als sie ins Freie trat, fühlte sie sich schon besser.

Es herrschte reger Verkehr. Die Berufstätigen fuhren um diese Zeit zur Arbeit nach Aarau, Basel und Zürich. Anouk kam sich ein wenig wie eine Schülerin vor, die den Unterricht schwänzte und sich einen schönen Tag machte. Sie musste einen Moment am Straßenrand warten und dachte plötzlich an das kleine, rothaarige Mädchen, das sie am Tag ihrer Ankunft gesehen hatte. Hoffentlich war es noch gut nach Hause gekommen.

Sobald Anouk den Feldweg zum See erreicht hatte, fiel sie in einen leichten Trab. Unbewusst schlug sie den Weg zum Schloss ein. Obwohl der Uferweg vom nächtlichen Wolkenbruch aufgeweicht und voller Pfützen war, legte sie an Tempo zu. Eine unerklärliche Unruhe hatte sie mit einem Mal ergriffen. Ein Gefühl, als würde ihr etwas entgehen, wenn sie nicht so rasch wie möglich zum Anwesen derer von Hallwyl gelangte. Normalerweise war sie gut in Form, doch der Gewichtsverlust, der viele Alkohol und die Zigaretten forderten ihren Tribut. Schon nach kurzer Zeit bekam sie Seitenstechen, und ihr wurde schwindlig. Sie lief etwas langsamer und versuchte, gleichmäßiger zu atmen. Eine Ratte huschte knapp vor ihren Füßen über den Weg und verschwand im Schilf. Anouk fuhr erschrocken zurück. Gott, sie hasste Ratten wie die Pest! Was für widerliche Tiere. Nach weiteren zehn Minuten sah sie die ersten Zinnen der Schlossmauer. So früh am Morgen befanden sich noch keine Touristen auf dem Gelände. Auch die Sonne hatte ihren Weg durch den dichten Baumbestand noch nicht gefunden. Der gekieste Vorplatz lag in bläuliches Licht getaucht. Erst um die Mittagszeit, wenn die Sonne im Zenit stand, würde es hier hell werden.

Anouk stoppte, beugte sich vornüber und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schweiß lief zwischen ihren Brüsten hinab. Ein Königreich für ein Handtuch!

Sie trat zur Bank, die vor dem Burggraben stand, und begann, ihre Beinmuskulatur zu dehnen. Eine Ente lief schnatternd und flügelschlagend übers Wasser und erhob sich in die Luft. Ab und zu sprang eine Forelle aus dem Tümpel und schnappte nach einem Insekt.

Anouk lächelte. Sie hatte beinahe vergessen, wie schön es im Seetal war. Auch die seltsame Unruhe war schlagartig von ihr abgefallen. Vermutlich war diese nur eine letzte Nachwirkung ihres gestrigen Weinkonsums gewesen.


Oh, ist ein Mann schon schlimm und dumm,
und geht von hohem Alter krumm;
Hat er nur Geld und keine Erben;
So will er nur getrost und kühn,
um meine Liebe sich bemühn,
und bei den Eltern um mich werben.

Anouks Kopf schoss in die Höhe. Es war dieselbe Frauenstimme wie gestern! Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Fieberhaft drehte sie sich in alle Richtungen, konnte weit und breit aber keine Menschenseele entdecken. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. In ihren Ohren rauschte das Blut, und ihre Kehle lechzte nach einem Schluck Wasser.

»Hallo!«, krächzte sie. »Ist da jemand?«

Doch es war nur das Plätschern der Wellen zu hören, die sich an den Mauern des Schlosses brachen. Die Vögel waren verstummt, ein paar wenige Enten kauerten nahe der Schleuse. Selbst die Krähen hockten regungslos in den Eichen entlang des Ufers. Sie sahen wie überdimensionale Tannenzapfen aus. Unvermittelt roch es nach Rosen und etwas anderem, das ihre Großtante zum Kochen verwendete. Nelken? Anouk wagte kaum zu atmen. Die Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf, ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

»Ich finde das überhaupt nicht witzig!«, schrie sie und drehte sich im Kreis herum. »Absolut nicht! Sollte sich also jemand einen Scherz mit mir erlaubt haben, sei ihm hiermit gesagt, dass er gelungen ist! Ha, ha! Ich lach mich tot!«

Ihre Stimme überschlug sich. Sie fror plötzlich entsetzlich und schlang die Arme um ihren Körper.

»Anouk? Was tust du denn hier?«

Sie wirbelte so schnell herum, dass sie aus dem Gleichgewicht geriet.

»Max?«, keuchte sie. »Gut, dass du kommst. Ich habe …«

Anouk brach ab. Wollte sie dem Arzt ihrer Großtante wirklich erzählen, dass sie körperlose Stimmen hörte?

»Du hast was?« Max kam näher und sah sie erwartungsvoll an.

»Ach, nichts«, erwiderte sie und trat einen Schritt zurück. »Wie kommt es überhaupt, dass du hier bist?«

Sie strich sich über die Stirn und fühlte kalten Schweiß.

»Ich hänge Plakate auf«, sagte er und wies auf eine Reihe von Rollen, die in dem Rucksack steckten, den er in der linken Hand hielt.

Anouk musterte zuerst die Plakate, dann Max’ Gesicht. Seine Erklärung klang überzeugend. Überhaupt war es eine Frauenstimme gewesen, die sie gehört hatte. Genau dieselbe, die gestern nach einer Désirée gerufen hatte. Aber ein Mann konnte seine Stimme natürlich auch verstellen. Doch wieso sollte Max so etwas tun? Um sie zu ängstigen? Möglich, aber aus welchem Grund?

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte er und zog eine Rolle aus seinem Rucksack. Er entfernte das Gummiband und befestigte das Plakat anschließend mit vier Reißzwecken an einem Holzschild, an dem bereits andere Ankündigungen hingen. »Wir führen demnächst ein Theaterstück im Schlosshof auf«, fügte er hinzu und wies mit dem Kopf auf den Anschlag. »Laienspieltruppe.« Er grinste.

Anouk nickte. »Verstehe. Nun denn, ich muss wieder zurück. Meine Großtante macht sich sonst Sorgen.«

Sie drehte sich um und wollte lostraben, doch Max griff nach ihrem Arm und hielt sie fest.

»Anouk, noch eine Frage.«

»Ja?«

»Möchtest du eventuell bei uns mitmachen?«

»Bei eurer Theatergruppe?« Sie lächelte belustigt.

»Wäre doch eine Abwechslung. Eine unserer Schauspielerinnen hat sich letzte Wochen den Fuß gebrochen und fällt deshalb aus. Wenn du Lust hast, kannst du ihre Rolle übernehmen. Sie ist nicht besonders groß … ich meine die Rolle, nicht die Frau«, stammelte er und lachte dann.

Anouk seufzte. Sie hatte kein schauspielerisches Talent, obwohl sie beim Modeln oft in verschiedene Rollen schlüpfen musste. Oder sollte sie es einfach versuchen? Was hatte sie schon zu verlieren? Sie langweilte sich doch jetzt schon zu Tode. Vielleicht würde das Theaterspiel tatsächlich etwas Abwechslung in das öde Landleben bringen.

Max hatte vermutlich ihre Gedanken erraten, denn er beugte sich vor und murmelte verschwörerisch: »Komm einfach mal vorbei und sieh es dir an, einverstanden? Wenn’s dir nicht zusagt, dann lass die Finger davon. Aber womöglich gefällt es dir ja. Ich würde mich freuen.«

Er lächelte und blickte sie treuherzig an. Was für schöne braune Augen dieser Mann doch hatte.

»Na gut«, erwiderte sie nach einer Pause, »ich sehe es mir mal an. Aber versprechen kann ich nichts.«

»Fabelhaft!« Er strahlte. »Ich hole dich heute Abend um sechs ab. Jetzt muss ich los, meine Praxis öffnet gleich.«

»Was, heute Abend schon?«

Sie hob abwehrend die Hand, aber er hatte sich schon umgedreht und war zwischen den Bäumen verschwunden.

Anouk drehte sich um und ging kopfschüttelnd den Weg zurück. Sie horchte auf das Geräusch eines wegfahrenden Autos, doch alles blieb ruhig. Wie zum Henker war Max zum Schloss gekommen?


Vom Kirchturm schlug es Viertel vor acht, und Max trat stärker in die Pedale. Er verfluchte seinen Wagen, der heute Morgen schon wieder nicht angesprungen war. Er konnte sich zurzeit keinen neuen leisten und hoffte, dass die Kiste noch ein paar Jahre ihren Dienst tun würde. In Momenten wie diesen bereute Max es manchmal, dass er Zürich samt seinen betuchten Patienten verlassen hatte. Doch als er in die Hauptstraße einbog und den Hallwilersee zwischen den beiden grünen Hügelzügen liegen sah, verflog der Gedanke sofort wieder. Diesen Anblick konnte keine noch so florierende Nobelpraxis aufwiegen.

Seine Gedanken schweiften zu seiner vorherigen Begegnung mit Anouk zurück, die ihn im ersten Moment angestarrt hatte, als hätte sie einen Geist erblickt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, obwohl der gestrige Abend bei ihrer Großtante äußerst entspannt verlaufen war. Doch Max spürte, dass irgendetwas die junge Frau stark beschäftigte. Und vorhin hatte es fast den Anschein gehabt, als würde sie mit ihm darüber sprechen wollen. Im letzten Moment aber hatte sie sich wieder in eine verschlossene Auster verwandelt. Das war nicht gut. Obwohl Max kein Fachmann für die Diagnose und Therapie von Unfallopfern war, war er überzeugt, dass Anouk Morlot eine schwere Last mit sich herumtrug. Eine ähnlich schwere Last, wie er sie selbst einmal getragen hatte. Max biss sich bei dieser schmerzlichen Erinnerung auf die Lippen.

Schloss Hallwyl, Juni 1743

Die Spielleute stimmten ein Menuett an, und die anwesenden Damen klatschten begeistert in die Hände. Johannes führte Amandine aufs Parkett, verbeugte sich und reichte seiner strahlenden Schwiegermutter die Hand. Bernhardine setzte sich auf ihren Brautstuhl, der mit weißem Damast und Rosen geschmückt war, und atmete auf. Eine kurze Pause würde ihr guttun. Sie fächelte sich Luft zu und schauderte, als ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief. Sie spürte ein Brennen im Nacken und wandte den Kopf. Gerold, Johannes’ jüngerer Bruder, lehnte an einem Pfeiler und beobachtete sie. Sie mochte ihn nicht, versuchte aber, ihn höflich zu behandeln. Ganz im Gegensatz zu ihm, der seine Abneigung für seine neue Schwägerin unverhohlen zeigte. Bis jetzt hatte Bernhardine aber noch nicht herausgefunden, weshalb sie ihm so missfiel.

»Hässlicher Mensch«, murmelte sie, lächelte aber dabei und nickte ihrem Schwager zu. Gerold blickte zur Seite, stieß sich von der Säule ab und strebte dem Ausgang zu. Er zog beim Gehen die Schultern hoch, als würde er jeden Moment einen Schlag auf den Hinterkopf erwarten. Bernhardine dachte an den einarmigen Jungen. Schade, dass er nicht hier war, um diese alte Krähe mit seiner Steinschleuder zu erledigen. Dafür hätte sie ihn glatt mit einem Stück Schinken belohnt.

Ihr Hochzeitstag hatte in den frühen Morgenstunden mit einem strahlend blauen Himmel aufgewartet, mittlerweile war es aber so schwül geworden, dass ihr das Brautkleid am Körper klebte. Über dem See ballten sich dunkle Wolken, und in der Ferne hörte man Donnergrollen. Ein schlechtes Omen?

Bernhardine hatte den Tag wie in einer Art Trance verbracht und kaum einen Augenblick verschnaufen können. Sie hatte gelächelt, bis ihr der Kiefer schmerzte. Die vielen Menschen um sie herum waren im Laufe der Zeit zu einer homogenen Masse aus Augen, Mündern und Händen verschmolzen. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie ein unaufhaltsamer Strudel immer weiter in die Tiefe zog und zu ersticken versuchte. In dem Moment, in dem sie ihre schmerzenden Füße lockerte, traf sie die Erkenntnis wie ein Keulenschlag. Ihre Kindheit war vorbei! Endgültig. In dieser Nacht würde Johannes ihr das erste Mal beiwohnen. Er hatte schon alle ihre Utensilien in sein Zimmer bringen lassen. Bernhardines Mund wurde trocken. Würde sie alles richtig machen? Würde sie überhaupt etwas machen müssen? Sie hatte schon Pferde bei dieser Sache beobachtet, sich jedoch meist entsetzt abgewandt. Menschen konnten so etwas doch unmöglich miteinander tun? Oder doch? Ihre Schwester hatte ihr vor einer halben Stunde mit hochrotem Kopf und hinter aufgeschlagenem Fächer den Rat erteilt, stillzuliegen und es einfach zu ertragen … es würde nicht lange dauern. Aber was war »es«?

Bernhardine betrachtete ihren Gemahl, wie er mit ihrer Mutter über die Tanzfläche schritt. Seine Hamsterbacken waren gerötet und glänzten. Über dem Hochzeitsstaat trug er eine violette Schärpe, geschmückt mit Orden, die ihn als Lehnsherren auswiesen. Bernhardine hatte ihn überreden können, einen moderneren Justaucorps anzuziehen, der nur noch knapp bis zu den Knien reichte. Auch seine stinkenden Perücken hatte sie kurzerhand weggeworfen und ihm neue machen lassen. Johannes sah zwar immer noch nicht wie ein griechischer Gott aus, aber wenigstens musste sie sich seiner nicht mehr schämen. Ihre vornehme österreichische Verwandtschaft tuschelte hinter vorgehaltener Hand über das Schloss, seine Bewohner und vor allem über Johannes; Bernhardine versuchte, dieses Getratsche zu ignorieren. Es war schließlich eines jeden Weibes Pflicht, loyal hinter seinem Mann zu stehen.

Bernhardine beobachtete verstohlen die Anwesenden. Die meisten Gäste kannte sie nicht, ein paar wenige dem Namen nach. Unvermittelt fühlte sie sich schutzlos und elend. Sie war eine Fremde unter Fremden! Würde sie sich hier je heimisch fühlen? Johannes suchte ihren Blick. Offenbar ahnte er, was in seiner Braut gerade vorging, denn er entschuldigte sich wortreich bei seiner neuen Schwiegermutter, machte einen Kratzfuß und führte Amandine zu den anderen Damen, die sich in der Nähe des Kamins aufhielten. Dann gesellte er sich zu seiner Braut.

»Ist Ihnen nicht gut, meine Teuerste?«, fragte er und schaute ihr prüfend ins Gesicht.

»Es geht schon, Monsieur«, versicherte Bernhardine und nahm noch einen Schluck Wein. »Nur eine kleine Unpässlichkeit.«

Johannes legte die Stirn in Falten, wandte sich um und hob den Arm. Die Musikanten hörten augenblicklich auf zu spielen, und die Gäste drehten sich erstaunt um.

»Liebe Freunde. Es ist für uns nun an der Zeit, Euch zu verlassen.« Ein paar der Herren lächelten maliziös und zwinkerten Johannes zu. Einige der Damen kicherten und stießen sich gegenseitig mit ihrem Fächer an. »Meine Braut und ich sind müde. Wenn vielleicht auch nicht aus denselben Gründen …« Gelächter füllte den Saal. Johannes hob schmunzelnd die Hände. »Feiert aber bitte weiter, liebe Freunde! Heute reut es mich nicht. Trinkt auf meine hinreißende Frau, Euren Herrn und auf die von Hallwyl! Auf dass dieses Geschlecht noch lange die Geschicke des Seetals lenke. Mit Gottes Hilfe schon bald in der nächsten Generation.«

Bernhardine senkte den Kopf und errötete heftig, die Gäste lächelten, hoben ihre Kelche und prosteten dem Brautpaar zu.

»Madame …« Johannes bot ihr seinen Arm, und unter dem Applaus der Anwesenden verließen sie den Hochzeitssaal.


Im Schlafgemach brannten Kerzen. Es war stickig; der Geruch von Wachs und ungelüfteter Bettwäsche lag in der Luft. Bernhardine stand steif wie ein Stock an der Wand und sah zu, wie Johannes seine Kleider ablegte. Er würde doch nicht etwa …! Vor ihr …?

Sie keuchte und schlug sich die Hand vor den Mund. Ihr Gatte wandte sich um. Er hatte bereits seinen Oberrock und die Schärpe ausgezogen und war gerade im Begriff, die Weste aufzuknöpfen. Johannes schaute Bernhardine mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann kräuselten sich seine Lippen, und er meinte: »Möchte Madame eventuell nebenan Ihr Schlafgewand überziehen? Ich kann nach Marie läuten.«

Bernhardine nickte stumm. Ihre Knie fühlten sich an wie Haferbrei, und sie befürchtete, gleich in Ohnmacht zu fallen. Johannes griff nach der Silberglocke auf dem Nachttisch und läutete. Ein paar Wimpernschläge später klopfte es an die Tür, und ein Diener steckte den Kopf herein.

»Gehe Er und hole Er die Amme!«, befahl Johannes, setzte sich aufs Bett und begann, seine Strümpfe herunterzurollen.

Gleich darauf linste Marie durch den Türspalt. »Herr?«

»Helfe Sie der Herrin beim Ausziehen!«, sagte er, wobei sich seine Mundwinkel amüsiert nach oben zogen.

Bernhardine wurde wütend. Machte er sich etwa lustig über sie? Sie öffnete schon den Mund zu einer scharfen Erwiderung, als Marie sie am Arm packte und in die Nebenkammer zog. Energisch schloss sie die Tür.

»Du dummes Gör!«, zischte sie. »Reiß dich zusammen und benimm dich!«

»Wie redest du denn mit mir? Ich bin jetzt hier die Herrin, und du hast mir Respekt zu erweisen.«

Marie schnaubte und griff nach den Knöpfen des Hochzeitskleides.

»Respekt, Respekt!«, äffte sie Bernhardine nach. »Respekt wird demjenigen erwiesen, der ihn verdient. Ich sehe nur ein dummes Mädchen vor mir, das sich kindisch aufführt.«

Bernhardine schluckte. Eine Träne kullerte über ihre Wange. »Ich habe Angst, Marie.«

Marie zog ihr den Rock aus und öffnete das Mieder.

»Es wird nur beim ersten Mal weh tun, Dinchen«, sagte sie, und Bernhardine schluchzte auf, als sie ihren alten Kosenamen vernahm. »Du wirst dich daran gewöhnen«, fuhr Marie fort, »wie alle Frauen.« Sie nahm Bernhardine die Perücke ab und streifte ihr das Nachtgewand über den Kopf. Dann griff sie in ihre Schürze und holte einen kleinen Stoffbeutel hervor. »Hier!« Sie drückte ihr das Säckchen in die Hand. »Lege das unters Kopfkissen!«

Bernhardine schnupperte an dem Beutel. Er duftete schwach nach Rosen und Nelken.

»Und warum?«

»Das besänftigt den Stier im Manne«, sagte Marie und zupfte resolut an Bernhardines Nachtgewand herum.

»Den Stier? Ich verstehe nicht.«

Marie kicherte leise. »Mach einfach, was ich dich geheißen habe. Und jetzt hab Mut und geh!«

Sie nickte ihr nochmals aufmunternd zu und schob sie sanft zur Tür. Bernhardine rieb sich die eiskalten Hände und straffte die Schultern. Dann öffnete sie erneut die Schlafzimmertür.

Draußen rüttelte der Wind an den alten Eichen, die Fensterläden klapperten, und der Donner ließ die Bodendielen erzittern. Ein Sturm zog auf.

Die Kerzen waren bis auf die zwei, die auf den Nachttischen standen, ausgegangen. Das Schlafzimmer wirkte in der Dunkelheit größer. Von Johannes fehlte jede Spur. Bernhardine lief eilig auf das Ehebett zu, froh, sich ihrem Gemahl nicht im Nachthemd zeigen zu müssen, und schlüpfte unter die Bettdecke. Sie steckte den Stoffbeutel hastig unters Kopfkissen und faltete die Hände über dem Bauch. Johannes war auf dem Abort. Bernhardine atmete auf. Eine kurze Galgenfrist.

Die Bänder ihrer Schlafhaube hatten sich selbständig gemacht, und mit zitternden Fingern schnürte sie einen ordentlichen Knoten. Sodann stopfte sie ihre Locken unter die Haube, zog die Decke bis zum Kinn hoch und zählte die Schläge ihres Herzens. Die Geräusche, die aus dem Örtchen zu ihr ins Zimmer drangen, trugen nicht dazu bei, ihre Nerven zu beruhigen. Sie lachte nervös. Obwohl draußen ein Sommergewitter tobte, erschrak sie vor dem Klang ihrer eigenen Stimme. Die Tür zum Abtritt ging auf, und ihr frisch angetrauter Ehemann betrat das Gemach. Er trug ein langes Nachtgewand aus grobem Leinenbatist, das mit einer Kordel am Hals zusammengehalten wurde, und eine weiße Schlafkappe.

Bernhardine hatte gesehen, dass der Schlossherr kaum noch Haare auf dem Kopf hatte, doch an seinen bleichen Waden wucherten dafür umso mehr. Sie schauderte. Johannes setzte sich aufs Bett und seufzte. Er wandte ihr den Rücken zu.

»Madame«, begann er, und sie hörte Müdigkeit in seiner Stimme, »ich kann mir vorstellen, dass Ihnen bange ist vor dem, was jetzt folgt. Ich werde versuchen, Sie nicht zu erschrecken.«

Bernhardines Herz setzte einen Moment aus, um danach in doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Sie schluckte und zog das Plumeau noch höher hinauf. Ihre Hände waren eiskalt. Johannes befeuchtete seine Finger mit etwas Spucke und drückte die Kerzenflamme aus. Jetzt brannte nur noch die auf Bernhardines Nachttisch. Sie hätte sie ebenfalls gerne ausgemacht, wagte aber nicht, unter der Bettdecke hervorzukommen. Ein schwacher Luftzug strich über die Kerze und ließ die Flamme flackern, die verzerrte Schatten an die Wand warf.

Johannes streckte sich auf dem Bett aus, wartete einen Moment und drehte sich dann zu Bernhardine. Sie konnte Wein und Zwiebeln in seinem Atem riechen. Seine Hand tastete über die Bettdecke und blieb auf ihrem Busen liegen. Er riss das Plumeau weg und versuchte, die Bänder ihres Nachtgewandes zu lösen, was ihm nicht gelang, weshalb er es ihr ungeduldig von den Schultern zerrte, bis es sich um ihre Hüften bauschte. Bernhardine bekam eine Gänsehaut und verschränkte die Hände vor der Brust.

»Lass das!«, knurrte Johannes. Sie gehorchte anstandslos und presste die Arme seitlich an den Körper wie ein Zinnsoldat. Johannes begann, ihre Brüste zu kneten, als walke er einen Teig. Es war kein unangenehmes Gefühl, obwohl es ein bisschen schmerzte. Sie entspannte sich. So schlimm war das Beiwohnen ja gar nicht. Dann griff er ihr jedoch zwischen die Beine. Sie schrie erschrocken auf. Johannes rieb mit seinen Fingern an ihrem Geschlecht auf und ab und fing an zu grunzen. Bernhardine verzog das Gesicht. Die zarte Haut unterhalb ihrer Schambehaarung wurde heiß und fing an zu brennen. Am liebsten hätte sie seine groben Finger zur Seite geschlagen, doch sie wagte nicht, sich zu rühren. Mit einem Stöhnen wälzte sich Johannes auf ihren Körper. Er war schwer, und Bernhardine konnte kaum noch atmen.

Der Regen prasselte an die geschlossenen Fensterläden, und die Balken des Schlosses ächzten mit Johannes um die Wette. Bernhardine fühlte etwas Hartes an ihrem Oberschenkel. Plötzlich zog ihr Gemahl sein Nachtgewand hoch, presste mit seinem Knie ihre Beine auseinander und stieß mit irgendetwas, das sie nicht auszumachen wusste, in ihr Loch.

Sie schrie auf und zog die Knie an. Der Schmerz war scharf wie ein Messerschnitt. Er wird mich in Stücke reißen! Die Tränen schossen ihr in die Augen, und sie begann zu wimmern. Johannes kümmerte sich nicht darum. Er hob und senkte seinen Hintern, stieß immer wieder zu und presste seine wulstigen Lippen auf ihren Busen. Schweiß tropfte auf ihren Bauch. Der Ekel schüttelte sie, ihr Magen rebellierte. Nicht mehr lange, und sie würde sich übergeben müssen. Johannes bemerkte nichts von ihrer Pein. Er keuchte, als müsste er harte Arbeit verrichten. Bernhardine fühlte, wie etwas Warmes ihre Hinterbacken hinablief und das Laken unter ihr befeuchtete. Der Schmerz ließ nicht nach. Sie presste die Lippen fest zusammen und schloss die Augen. Sie würde ganz bestimmt nicht schreien. Auf einmal ging ein Zittern durch Johannes’ Leib. Ihr Gemahl bäumte sich auf und stieß einen grollenden Laut aus. Dann sank er mit einem tiefen Atemzug auf Bernhardines Körper, blieb dort einen Augenblick liegen und wälzte sich schließlich von ihr herunter.

»Danke, Madame. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.«

Der Regen hatte nachgelassen. Ab und zu hörte man noch ein leises Donnergrollen. Die Nachtkerze war beinahe vollständig heruntergebrannt. Bernhardine betastete ihre Scham. Sie war heiß und geschwollen. Und als sie ihre Hand wieder nach oben zog, gewahrte sie mit Entsetzen, dass sie voller Blut war. Hatte Johannes sie etwa absichtlich verletzt? Sie schluckte schwer und betete, dass der Fluch des Ehebettes sie zukünftig nicht jede Nacht heimsuchen würde. Dann drehte sie sich auf die Seite und fing an zu weinen.

Die Frau in Rot: Roman
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