3

Seengen, 2010

Du kommst spät.«

Valerie warf Anouk einen vorwurfsvollen Blick zu und widmete sich dann wieder dem Geschnetzelten, das in einer Pfanne vor sich hin brutzelte.

»Entschuldige, Tati. Ich habe die Zeit ganz vergessen.« Anouk öffnete den Geschirrschrank und holte zwei Teller hervor. »Essen wir auf der Terrasse?«

Valerie nickte. Anouk trat durch die Küchentür auf die Veranda und begann, den Tisch zu decken.

»Warst du am See?«, fragte ihre Großtante und streute, nachdem sie die Soße gekostet hatte, noch eine Prise Salz hinein.

»Ja, beim Schloss«, bestätigte Anouk und nahm zwei Kristallgläser von der Anrichte. »Sie haben den hinteren Teil renoviert, nicht?«

Valerie nickte, öffnete den Kühlschrank und griff nach einer Flasche Weißwein, die sie Anouk in die Hand drückte. »Die Wiedereröffnung war im Frühling. Sogar der Regierungsrat kam und hat eine Rede gehalten, dieser Schwachkopf!«

Anouk schmunzelte. Ihre Großtante machte keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Politiker, die für sie lediglich gut bezahlte Lügner in maßgeschneiderten Anzügen waren.

»Man hat jetzt alles wieder so eingerichtet, wie es früher einmal war. So um das achtzehnte Jahrhundert herum«, fügte sie hinzu. »Es gibt auch solche Ohrendingens am Eingang, aus denen dir einer in sechs verschiedenen Sprachen die Geschichte derer von Hallwyl ins Trommelfell plärrt. Du solltest dir das einmal anschauen oder anhören … wie auch immer.«

»Ja, mach ich.« Anouk entkorkte den Wein, füllte die Gläser und reichte eines ihrer Großtante. »Worauf wollen wir trinken?«

»Auf die Morlot-Frauen, die sich nie unterkriegen lassen, was immer auch geschieht.«

Anouk schluckte, lächelte aber und nickte. »Auf uns!« Sie leerte ihr Glas in einem Zug und schenkte sich gleich wieder nach. Als sie die gerunzelte Stirn ihrer Großtante bemerkte, rieb sie sich die Schläfen. »Ich bin durstig.«

Schon den ganzen Tag über hatte sie Lust auf einen Drink verspürt. Doch am Bahnhof hatte sie nicht die Zeit gefunden, sich mit ihrem Lieblingslikör, einem italienischen Amaretto, einzudecken. Und die Flasche, die sie mit zu ihren Eltern genommen hatte, hatte ihre Mutter klammheimlich entsorgt. Vermutlich hielt sie ihre Tochter für eine Alkoholikerin. Anouk stieß empört die Luft aus.

»Hast du etwas gesagt, Liebes?« Valerie nahm die Pfanne vom Herd.

»Sag mal, Tati, kennst du hier jemanden, der Désirée heißt?«

»Nein … wieso?« Ihre Großtante goss die Nudeln ab und richtete sie auf einer Platte an.

»Nur so.«

Anouk überlegte kurz, ob sie ihrer Großtante von der Frauenstimme am Wassergraben erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Eine Verrückte in der Familie reichte vollkommen!


Der junge Mann mit der unmöglichen Krawatte scheiterte schon bei der dritten Frage des Ratespiels, das im Fernsehen lief. Anouk grinste schadenfroh. Sie griff nach ihrem Glas. Es war leer – ebenso wie die Flasche, bereits die zweite, die sie praktisch allein ausgetrunken hatte. Sie warf einen Blick zum Sessel hinüber, in dem ihre Großtante friedlich schnarchte. Anouk erhob sich leise und ging in die Küche. Der Kühlschrank war gut gefüllt, enthielt aber nur Esswaren. In den Schränken brauchte sie erst gar nicht nachzusehen. Valerie Morlot war mehr der Tee-Typ und hatte den Weißwein wahrscheinlich nur wegen ihr gekauft.


Der Höchste schlug;
er wird sich auch der elend
und betrübten Armen
nach seinem väterlichen Brauch,
nach seiner Huld und Gnad erbarmen.
Wer aber davon hört und spricht,
verdamme ja und richte nicht!

Anouk verdrehte die Augen, als sie Valerie das Gedicht durch die offene Küchentür hindurch rezitieren hörte. Schiller? Goethe? Sie kannte sich mit Lyrik nicht besonders gut aus. Doch als sie wieder in die Wohnstube trat, schien ihre Großtante noch immer zu schlafen. Anouk zog verblüfft die Augenbrauen hoch.


Liegt nicht ein festes Eis in Gründen?
Bedecket nicht anjezt ein tief gefallner Schnee
die grün und finstern Tannen-Wälder,
die sonst mit Klee geschmückten Felder?

Was zum Teufel ging hier vor? Valerie hatte eine Hand erhoben und schwenkte sie im Rhythmus der Verse, die sie mit verstellter Stimme und geschlossenen Augen vor sich hin murmelte.

»Tati?« Anouk berührte ihre Großtante sanft an der Schulter. »Seit wann magst du denn Gedichte?«

Valeries Gesichtszüge waren verzerrt. Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, die Augenlider flatterten. Plötzlich öffnete sie den Mund und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Anouk zuckte zusammen und stieß gegen den Beistelltisch. Das leere Weinglas, das darauf stand, fiel zu Boden und zerbrach mit einem hässlichen Klirren. Anouk starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die Bescherung. Doch ihre Großtante reagierte nicht, erst als die Werbung einsetzte, öffnete sie die Augen.

»Oh, Pause, dann gehe ich mal aufs Klo.« Mit diesen Worten rappelte sie sich aus ihrem Sessel hoch und steuerte, als ob nichts gewesen wäre, Richtung Bad.

Anouk blickte ihr verstört nach, dann lief sie Valerie hinterher und riss die Badezimmertür auf.

»Was ist mit dir?«, rief sie mit sich überschlagender Stimme. Ihre Großtante stand vor dem Waschbecken und seifte ihre Hände ein.

»Was soll denn mit mir sein?«, fragte sie, griff nach einem Handtuch und drehte sich um.

»Das frage ich dich!« Anouks Stimme zitterte. »Du hast ein Gedicht deklamiert … und danach laut geschrien.«

Valerie zog spöttisch einen Mundwinkel nach oben und schüttelte den Kopf.

»Sei nicht albern, Anouk. Ich kann Poesie nicht ausstehen. Und weshalb sollte ich schreien?« Sie wandte sich zum Spiegel und steckte sich eine widerspenstige Strähne in ihren Dutt zurück. »Du solltest weniger trinken, Schatz!«

Anouk schluckte. »Aber …« Sie brach ab. Hatte sie etwa geträumt?

»Wenn du erlaubst, möchte ich jetzt meine Notdurft verrichten«, sagte Valerie. »Wenn du also bitte die Tür schließen würdest.«

Anouk fasste sich an die Stirn. »Ja, natürlich.«

Sie drehte sich um.

»Geh doch zu Bett, Liebes«, sagte ihre Großtante in einem Ton, wie man ihn gerne bei Verwirrten anschlug.

Anouk nickte. »Ja, ich denke, das wäre eine gute Idee.«

»Bis Morgen, Kleine. Wird schon wieder.«

Ihre Großtante zwinkerte ihr zu und zog sich das Kleid über die Hüften. Anouk beeilte sich, aus dem Bad zu kommen.


»Das macht dann dreiundfünfzig Franken fünfzig.«

Die Frau hinter dem Tresen des Quartierladens warf Anouk einen prüfenden Blick zu. Eine Flasche Amaretto und ein Päckchen Zigaretten waren vermutlich nicht der übliche Morgeneinkauf in Seengen. Doch Anouk konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Sie brauchte unbedingt einen Schluck Alkohol. Dringend!

Die Nacht war alles andere als erholsam gewesen. Wirre Träume hatten sie gequält. Doch sobald sie die Lider geöffnet hatte, waren ihr die Bilder entwischt wie eine Horde flinker Wiesel.

Aus dem Zimmer ihrer Großtante war noch kein Laut gedrungen, als Anouk beschlossen hatte, einen Morgenspaziergang durchs Dorf zu unternehmen. Sie zog ihren Jogginganzug und die Turnschuhe an und ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Über dem See waberten weiße Dunstschleier. Die Luft war noch kühl, doch der Wetterbericht hatte wiederum einen heißen Sommertag angekündigt.

Anouk hatte hämmernde Kopfschmerzen. Sie befühlte die Narbe auf ihrer Stirn. Der Schorf war fast schon zur Gänze abgefallen, trotzdem versuchte sie, den noch vorhandenen Rest mit einer Haarsträhne abzudecken. Die Schramme musste ja nicht sofort von jedermann bemerkt und begutachtet werden.

Das Dorf hatte sich nicht sehr verändert. Die gleichen schmucken Einfamilienhäuser, weißen Gartenzäune und Blumenbeete wie zu Anouks Kinderzeit. In der Luft lag der Duft von frisch gemähtem Gras, Mist und heiler Welt.

Der Tante-Emma-Laden hatte noch geschlossen. Anouk setzte sich auf die Bank vor dem Schaufenster und beobachtete die Vorbeigehenden: Schüler, ein paar junge Mütter mit Kinderwagen, eine Frau mit einem schmutzig grauen Pudel an der Leine und der Postbote auf seinem gelben Mofa. Sie linste zur Kirchturmuhr. Noch eine Viertelstunde, bis das Geschäft öffnen würde. Sie schlang die Arme um die Knie und legte ihren Kopf darauf.

Was für eine bescheuerte Idee zu meinen, ein Aufenthalt in diesem Kaff würde ihr etwas bringen! Sie war kaum einen Tag hier und langweilte sich schon zu Tode.


Du aber frommes Weib,
ruh in der kühlen Erde,
bis dich dein Lebens-Fürst
zur Freud erwecken werde.

Anouks Kopf schnellte nach oben. Vor ihr stand ein Mädchen mit einem Schultornister auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick auf einen Punkt unterhalb von Anouks Brust.

»Was hast du gesagt?« Anouks Stimme zitterte, und sie griff nach der Hand der Schülerin. Die Kleine löste ihren Blick von Anouks Trainingsjacke und runzelte die Stirn. »Was hast du da gerade gesagt?«, fragte sie nochmals.

»Lassen Sie mich gefälligst los!«, schrie das Mädchen und entwand sich ihrem Griff. »Ich darf nicht mit Fremden sprechen!«

Es drehte sich um und rannte davon. Anouk starrte ihm verblüfft hinterher. Was ging hier vor? Zuerst die Frauenstimme am Wassergraben, dann Tatis Rezitation vor dem Fernseher und jetzt diese kleine Göre. War das alles nur Zufall? Oder reine Einbildung? Wurde sie langsam verrückt? Die Ladentür öffnete sich, und eine mollige Frau um die fünfzig stellte einen Korb mit roten Äpfeln vor die Eingangsstufen. Anouk sprang auf und floh in das Geschäft.


Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft, als sie eine halbe Stunde später durch die Haustür trat. Aus der Küche drang Klaviermusik von Debussy, dem Lieblingskomponisten ihrer Großtante. Anouk lief ins obere Stockwerk, trank einen Schluck Amaretto, verstaute die Flasche danach in ihrem Koffer und ging in die Küche hinunter.

»Hallo, Liebes. Seit wann bist du denn Frühaufsteherin?«

Valerie hatte den Tisch gedeckt und häufte Rühreier auf zwei Teller.

»Ich habe schlecht geschlafen«, murmelte Anouk und setzte sich. Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein und hoffte, ihre Großtante würde nicht riechen, dass sie kurz zuvor Alkohol getrunken hatte.

»Oh, das tut mir leid, Schatz.« Valerie strich sich über ihre tadellose Frisur. »Das ist sicher nur der Jetlag.«

Anouk unterließ es, ihre Großtante darauf hinzuweisen, dass sie gestern nur eine knappe Stunde unterwegs gewesen war. Am liebsten hätte sie sich irgendwohin verkrochen, wo weder kleine Mädchen noch alte Tanten herumgeisterten und auch keine ominösen Stimmen zu hören waren. Das Ganze war ihr unheimlich. Und obwohl sie sonst immer gerne allem auf den Grund ging, wusste sie in diesem Fall nicht so recht, ob sie ihrer grundsätzlichen Neugierde nachgeben und den merkwürdigen Vorfällen wirklich nachspüren sollte. Was, wenn sich dabei herausstellte, dass nur sie diese Stimmen hörte? Ihr Kopf nicht mehr richtig funktionierte und sie seit ihrem Unfall an einer Art Realitätsverlust litt?

»Wenn du Lust hast, können wir heute einen Ausflug machen«, unterbrach Valerie Anouk in ihrem Gedankengang. »Zum Beispiel das Kloster Baldegg besichtigen, oder wir gehen einkaufen.« Sie warf einen abfälligen Blick auf Anouks ausgeleierten Jogginganzug. »In Lenzburg gibt es ein paar hübsche Geschäfte.«

Anouk gähnte. Obwohl sie kein allzu großes Verlangen verspürte, mit ihrer Großtante zum Shoppen zu gehen, war es immer noch besser, als hier herumzusitzen.

»Ja, okay, wenn du möchtest.«

Valerie warf ihr einen prüfenden Blick zu, sagte aber nichts, sondern nahm stattdessen drei verschiedenfarbige Pillen, die sie mit einem Glas Wasser hinunterspülte.

»Um drei Uhr müssen wir aber zurück sein. Ich habe einen Termin bei Doktor Sandmeier. Du weißt schon, dem gutaussehenden Arzt.«

Valerie zwinkerte.

»Schon wieder? Der war doch erst gestern hier.«

Anouk griff nach dem dunklen Brot und betrachtete es kritisch.

»Er ist die Freundlichkeit in Person. Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne seine Unterstützung machen würde. Ich glaube fast, er ist ein wenig in mich verschossen.«

Anouk verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall.

Ihre Großtante runzelte die Stirn. »Denkst du etwa, das sei nicht möglich?«, fragte sie schnippisch.

Anouk wischte sich die Tränen aus den Augen und unterdrückte einen Lachanfall.

»Tut mir leid, Tati«, krächzte sie, »ich wollte dich nicht beleidigen. Ja, lass uns nach Lenzburg fahren«, wechselte sie das Thema. »Ich brauche wirklich ein paar neue Klamotten. Mir ist alles zu groß geworden.«


»Es ist Rot!«

Anouk stemmte beide Füße in den Wagenboden und klammerte sich an den Sicherheitsgurt.

»Herrgott«, presste Valerie zwischen den Zähnen hervor, »ich hab’s gesehen! Erschreck mich doch nicht so! Ich baue sonst noch einen Unfall.« Sie verstummte abrupt und warf Anouk einen schnellen Blick zu. »Tut mir leid, Liebes, ich wollte dich nicht so anfahren.«

Anouk nickte und streifte sich die schweißnassen Hände an ihrer Jeans ab.

»Ist schon gut, Tati. Mir tut’s auch leid … ich … es …«, sie brach ab und schüttelte den Kopf.

Es war keine gute Idee gewesen, mit dem alten BMW ihrer Großtante nach Lenzburg zu fahren. Schon auf der Hinreise war Anouk tausend Tode gestorben. Und obwohl Valerie für ihr Alter noch erstaunlich sicher fuhr, war die Rückfahrt die reinste Tortur. Anouk verkrampfte sich, sobald ein Zebrastreifen in Sicht kam. Das T-Shirt klebte wie eine zweite Haut an ihrem feuchten Rücken, und ihr Herzschlag hatte sich verdreifacht.

»Wir sind gleich bei der Praxis, Schatz.« Valerie legte ihr beruhigend die Hand auf den Oberschenkel. »Vielleicht kann dir Doktor Sandmeier ja eine Tablette geben. Das mit dem Ausflug war vermutlich doch keine so gute Idee«, fügte sie zerknirscht hinzu und betätigte den Blinker.

Anouk versuchte zu lächeln, was ihr gründlich misslang.

»Nein, ist schon okay. Irgendwann muss ich mich ja wieder ans Autofahren gewöhnen. Das ist wie beim Reiten: Man muss nach dem Runterfallen gleich wieder aufsteigen.«

Ihre Großtante nickte.

»Ja, so sagt man. Et voilà, wir sind da!« Sie stieß die Luft aus, zog die Handbremse an und griff nach ihrer Handtasche. »Kommst du?«

»Geh bitte schon vor, ich komme gleich nach«, erwiderte Anouk und stieg schnell aus.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«

Valerie neigte den Kopf. Anouk hasste es, wenn man sie so ansah. Wie einen dreibeinigen Hund. Sie wollte kein Mitleid, wenn sie überhaupt etwas wollte, dann Absolution. Aber die würde sie weder von ihrer Großtante noch von einem anderen Menschen bekommen.

»Ich brauche nur etwas frische Luft.«

Valerie wandte sich um.

»Im zweiten Stock die erste Tür links. Bis gleich, Liebes.«

Schloss Hallwyl, 1743

Die hölzerne Eckbank knirschte, als Bernhardine sich eine bequemere Stellung suchte. Der Reifrock zwickte, und ihr Korsett war so eng geschnürt, dass sie fürchtete, demnächst in Ohnmacht zu fallen. Die Standuhr in der Ecke schlug die achte Stunde. Man hatte ihr gesagt, eine Dienstmagd würde sie zum Nachtmahl abholen, und sie den Rest des Tages sich selbst überlassen. Bernhardine knetete ihre eiskalten Finger. Bald würde sie ihrem zukünftigen Gemahl das erste Mal gegenüberstehen. Sie stellte sich vor, wie Johannes von Hallwyl seine Braut wahrnehmen würde: ein sechzehnjähriges, schlankes Mädchen in einem lavendelfarbenen, mit Rosen bestickten Taftkleid. Die eng geschnürte, mit einem violetten Band zusätzlich noch betonte Taille, der durch das Mieder stark gewölbte Busen, den ein spitzenbesetztes Tuch züchtig verhüllte. Und schlussendlich die in Löckchen gelegte Perücke, die ihr kupferrotes Haar verbarg. In Ermangelung einer Putzmacherin vor Ort hatte Marie Hand anlegen müssen. Das Resultat war ansehnlich. Bernhardines Haut war makellos, weshalb sie auch darauf verzichtet hatte, sich das Gesicht weiß zu pudern. Als Hommage an die neue Umgebung hatte sie einen Fächer mit einem Schäferinnenmotiv gewählt und fächelte sich damit energisch Luft zu.

Wie unhöflich, die zukünftige Schlossherrin warten zu lassen! Zuerst der fehlende adäquate Empfang, die Abwesenheit des Schlossherrn und jetzt auch noch Unpünktlichkeit. Als hätte ihr Ärger das Stichwort gegeben, klopfte es an der Tür. Auf Bernhardines Aufforderung hin trat eine junge Magd in den Salon und knickste unbeholfen.

»Das Abendessen ist serviert, gnädiges Fräulein … Herrin«, lispelte das Mädchen hilflos und errötete heftig. Bernhardine verdrehte die Augen. Sie würde hier wahrlich viel zu tun haben. Der Dienerschaft korrekte Umgangsformen beizubringen, wäre eine ihrer ersten Handlungen.

»Nenne mich ›Madame‹!«, befahl sie.

Die Bedienstete senkte den Blick und nickte. Bernhardine erhob sich und folgte der Magd den Stufengang hinab. Ein langer Korridor, der nur spärlich von flackernden Talglampen beleuchtet wurde, führte in einen Vorraum mit Porträts an den Wänden. Grimmig dreinblickende Männer, viele im Ornat eines Priesters, starrten auf die Eintretenden hinab. Bernhardines Herzschlag beschleunigte sich. Am liebsten wäre sie davongerannt und hätte sich versteckt. Ein jähes Heimweh nach ihrer Mutter überrollte sie wie eine dunkle Welle und machte ihr das Atmen schwer. Unwillkürlich entfuhr ihr ein leiser Seufzer.

Die junge Magd warf ihr einen ängstlichen Blick zu. »Madame?«, fragte sie leise.

»C’est rien«, antwortete Bernhardine. »Es ist nichts.« Sie straffte die Schultern und holte tief Luft.

Der Speisesaal war genau so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte: fensterlos, karg und feucht. Obwohl es Sommer war, brannte ein Feuer im Kamin. Über dem schmucklosen Tisch hingen zwei Lüster, in denen tropfende Kerzen flackerten. Die einzige Zierde war ein verblasster Gobelin an der Wand, der eine Hirschjagd darstellte. Auf dem Tisch befanden sich zwei Gedecke. Eines am Kopf-, das andere am Fußende. Links und rechts der Tafel standen Stühle mit hohen Lehnen wie eine kleine, hölzerne Armee. Die Magd knickste wieder, wandte sich zum Gehen und schob die Türflügel hinter sich zu, die mit einem hohlen Knall ins Schloss fielen. Bernhardine zuckte bei dem Geräusch zusammen. Von ihrem zukünftigen Gemahl war weit und breit nichts zu sehen.

Es geziemte sich nicht, sich an die Tafel zu setzen, solange der Hausherr nicht anwesend war, deshalb wanderte sie im Saal umher, besah sich den rußigen Kamin, den verblassten Wandteppich und strich mit dem Finger über die Lehne eines Stuhles. Ihre Absätze klackten laut auf dem Steinfußboden. Sie wurde unruhig und hätte unbedingt auf den Abort gemusst. Je länger der Schlossherr auf sich warten ließ, desto ärgerlicher wurde sie. Was war denn das für ein Benehmen? Sie war schließlich seine Braut und nicht irgendein gemeiner Bittsteller.

Endlich hörte sie Schritte auf dem Korridor. Die Tür wurde aufgerissen, und zwei riesige Wolfshunde sprangen ins Zimmer. Bernhardine stieß einen Schrei aus und drückte sich an die Wand. Die zotteligen Ungetüme stutzten einen Moment, als sie die Fremde bemerkten, stellten die Ohren auf und schlichen dann langsam auf sie zu. Bernhardine fing an zu zittern und presste ihre Arme an die Brust. Einer der Hunde schnüffelte an ihrem Rocksaum, der andere setzte sich hin und fing an, sich ausgiebig zu kratzen.

»Hector, Achilles, Platz!«

Hinter den Bestien war ein korpulenter Mann eingetreten. Johannes von Hallwyl trug einen einfachen braunen Justaucorps. Der Oberrock war altmodisch geschnitten und reichte ihm bis zu den Waden. Eine senffarbene Kniehose mit passender Weste, die sich über seinen Kugelbauch spannte wie ein Pergament über einen vollen Schmalztopf, und eine grau gepuderte Perücke vervollständigten seine Aufmachung. Seine dicken Wangen waren gerötet, als hätte er sich zu lange in der Sonne aufgehalten. Dennoch besaß er eine herrschaftliche Ausstrahlung, wenn diese auch so gar nicht mit den Vorstellungen übereinstimmte, die sich Bernhardine bei der Lektüre von Sidonias Gedichten von ihrem zukünftigen Ehegatten gemacht hatte. Sie musste sich beherrschen, um nicht die Nase zu rümpfen.

»Madame, ich muss mich für mein spätes Erscheinen entschuldigen. Unabdingbare Geschäfte hielten mich von dem Entzücken, Ihre Bekanntschaft früher zu machen, ab. Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit arrangiert? Wenn nicht, genieren Sie sich nicht, mir all Ihre Wünsche zu nennen. Ich werde mein Möglichstes tun.«

Er machte eine formvollendete Verbeugung, und Bernhardine neigte – ein wenig besänftigt – den Kopf. Wenigstens waren seine Umgangsformen tadellos. Der Schlossherr bot ihr den Arm und geleitete sie ans Kopfende der Tafel. Die Wolfshunde folgten ihnen, ließen sich vor dem Kamin nieder und beäugten die Szene aufmerksam.

Nachdem sich Bernhardine gesetzt, ihr Kleid zurechtgezupft und den Fächer neben dem Teller platziert hatte, dachte sie, es sei nun an der Zeit, das Wort an ihren zukünftigen Gemahl zu richten, um einige Dinge gleich im Vorfeld klarzustellen. Der Sprung ins kalte Wasser erschien ihr angemessener, als zu warten, bis Johannes sich womöglich ein falsches Bild von seiner Braut gemacht hatte. Der Hausherr begab sich unterdessen ans andere Ende der Tafel, befestigte sein Mundtuch mit einem Kettchen vor der Brust und klingelte mit einer Messingglocke.

»Monsieur, ich …«

Die Tür öffnete sich, und ein Diener trug eine dampfende Suppenschüssel herein. Bernhardine schüttelte den Kopf, als ihr der Bedienstete die Suppe auftragen wollte. Ganz bestimmt würde sie kein Arme-Leute-Essen zu sich nehmen!

»Madame ist nicht hungrig?«

Johannes stockte in der Bewegung, seinen Löffel zum Mund zu führen, und zog die Augenbrauen hoch. Der Diener seinerseits stellte die Schüssel in der Mitte des Tisches ab, setzte sich auf einen Stuhl neben die Türe und legte die Hände in den Schoß.

»Nicht wirklich, Monsieur«, entgegnete sie und nahm aus einem Korb ein Stück Brot. Es war dunkel und bestand aus rohem Schrot, das zwischen ihren Zähnen knirschte. Bernhardine verzog den Mund. Immerhin schmeckte der Wein gut. Sie griff nach dem Kelch und genehmigte sich einen großen Schluck. Anders als in ihrem Elternhaus, wo man den Wein stets mit Wasser gemischt hatte, war dieser unverdünnt. Sie spürte bereits, wie er ihr zu Kopf stieg.

Johannes zog seinen Teller näher und schlürfte weiter seine Suppe. Er vermittelte nicht den Eindruck, große Lust auf Konversation zu verspüren. Bernhardine begann, sich zu langweilen. Zu Hause wurde Tischmusik gespielt, meist hatte man Gäste geladen, häufig Geschäftspartner ihres Vaters, die von fremden Ländern und Sitten zu berichten wussten. Manchmal waren auch ihre Brüder und Schwestern mit ihren Familien zu Besuch gekommen. Dann wurde viel gescherzt und gelacht. Sie schluckte den dicken Kloß, der sich bei diesen Erinnerungen in ihrem Hals gebildet hatte, hinunter. Es fehlte gerade noch, dass sie sich vor ihrem zukünftigen Gemahl irgendeine Blöße geben würde.

Johannes hatte seinen Teller indes geleert und winkte dem Diener. Dieser nahm die Suppenschüssel vom Tisch und verließ den Saal. Bernhardine räusperte sich, und der Schlossherr schaute mit einem erfreuten Lächeln hoch.

»Madame?«

Sie rutschte ein wenig auf ihrem Stuhl hin und her und fasste sich schließlich ein Herz. »Monsieur, wenn Sie schon die Güte haben, mich nach meinen Wünschen zu fragen. Es gib in der Tat ein paar Dinge, die ich zu verändern gedenke.«

Johannes von Hallwyl zog belustigt einen Mundwinkel hoch.

»Tatsächlich, Madame. Dann erweisen Sie mir doch die Ehre, mich diesbezüglich zu informieren. Ich würde es nicht gerne sehen, wenn meine zukünftige Gattin irgendetwas missen müsste.«

Bernhardine strahlte und ließ sich vom eintretenden Diener den Teller mit Gebratenem und Kohl füllen. Plötzlich war sie sehr hungrig.


Johannes von Hallwyl setzte sich an seinen Sekretär und legte seufzend sein rechtes Bein auf einen Schemel. Die Gicht plagte ihn wieder, und er biss sich auf die Lippen, als der Schmerz von seinem Fuß weiter das Bein hinaufschoss. Er zog behutsam seinen Schnallenschuh aus. Sein Fuß pochte und fühlte sich heiß an. Sicher war er auch geschwollen.

Johannes lehnte sich zurück und dachte an seine junge Braut. Sie war genauso hübsch wie auf der Miniatur, die er von ihrem Vater bekommen hatte. Aber sie war noch ein Kind, und er fragte sich, ob er nicht zu voreilig um sie gefreit hatte. Selbst sein Bruder Gerold hatte ihm seine Bedenken bezüglich einer erneuten Heirat dargelegt. Dies so vehement und wiederholt, dass Johannes beinahe einen Rückzieher gemacht hätte. Aber ein von Hallwyl stand zu seinem Wort. Sogar auf die Gefahr hin, sich eine Hexe – wie Gerold die junge Diesbach nannte – ins Haus zu holen. Doch Johannes glaubte weder an Hexen noch an Zauberei. Auch wenn er jetzt ein wenig an seiner Entscheidung zweifelte. Man hatte ihm vorhin eine Liste mit den Wünschen seiner zukünftigen Ehefrau gebracht. Er zog das Pergament hervor, überflog es kurz und schüttelte den Kopf. Eine Putzmacherin wollte sie haben, parfümierte Wasserschalen für den Esstisch, Spielleute – über vierzig Posten waren aufgeführt. Grundgütiger, woher sollte er das Geld für all das nehmen?

Johannes kratzte sich am Kopf, worauf seine Perücke verrutschte. Er nahm sie ab und warf sie auf den Schreibtisch. Zufällig fiel sein Blick dabei auf einen Messingleuchter. Wenn sein Konterfei auch durch die Wölbung des Metalls verzerrt wurde, konnte er nicht umhin zu bemerken, dass er alt geworden war. Von dem stattlichen Recken von einst war nur noch ein übergewichtiges, kahlköpfiges, gichtgeplagtes Mannsbild zurückgeblieben. Ob seine junge Frau ihn abstoßend fand? Zweifelsohne, da machte er sich nichts vor. Vermutlich waren ihre verklärten Vorstellungen, was das Erscheinungsbild ihres zukünftigen Gemahls anging, herb enttäuscht worden. Aber schließlich bot er ihr ein Schloss, eine sichere Zukunft und einen Titel. Sie sollte sich also glücklich schätzen, so eine vorteilhafte Partie zu machen! Aber vielleicht tat er der jungen Bernerin ja unrecht, und sie musste sich nur erst an ihn und an die neue Umgebung gewöhnen. Auch Viktoria war es zu Anfang schwergefallen. Über Johannes’ Gesicht huschte ein warmes Lächeln wie jedes Mal, wenn er an seine erste Frau dachte. Das Schicksal hatte sie ihm viel zu früh entrissen. Bei der Geburt ihres Kindes waren sowohl sie als auch ihr gemeinsamer Sohn gestorben. Er war danach nicht mehr fähig gewesen, eine andere Frau zu lieben. Liebschaften, ja, die hatte es natürlich gegeben. Er war schließlich ein Mann und die Mägde willig, aber zu einer Nachfolgerin für Viktoria hatte sein Mut nicht gereicht. Doch jetzt wurde er alt und spürte das Verlangen, einen Menschen um sich zu haben, der für ihn sorgte, bis ihn der Allmächtige zu sich rief. Außerdem musste er seine Nachkommenschaft sichern, ansonsten würde das Schloss Gerold zufallen.

Johannes schnaubte. Er verstand sich immer weniger mit seinem jüngeren Bruder, dessen frömmelnde Art ihm auf die Nerven ging. Überall sah dieser Hexen, Ketzer und Verdammte. Wenn Gerold könnte, würde er das Schloss vermutlich in ein Kloster verwandeln. Erst kürzlich hatte er erneut gegen die Bernerin gewettert. Doch Johannes wollte einen Erben. Bernhardine war jung und gesund; sie hatte die nötigen Voraussetzungen, ihm einen Stammhalter zu gebären. Vielleicht konnte sie ihn sogar irgendwann lieben. Er nahm sich vor, sein Bestes dahin gehend zu versuchen. Der Weg zum Herzen einer Frau lag oft in der Erfüllung ihrer Anliegen. Johannes griff erneut nach der Liste und klingelte nach seinem Diener.

Die Frau in Rot: Roman
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