15
Seengen, 2010
Herrgott, Brigitte! Das ist jetzt das vierte Mal, dass du die Szene verhaust. Was ist denn nur los?«
Max raufte sich die Haare und verzog dabei schmerzhaft den Mund. Behutsam ließ er seinen lädierten Arm sinken und blätterte in seinen Notizen. Auf der Bühne stand die Bibliothekarin in dem silberdurchwirkten, tief dekolletierten Kostüm aus Taft und Seide, das Anouk gestern so bewundert hatte.
Brigittes Augen füllten sich mit Tränen. »Tut mir leid, Max«, schniefte sie mit zitternden Lippen, »lass es mich noch einmal versuchen, okay?«
Er seufzte, nickte ergeben und warf Anouk einen genervten Blick zu, die in ihrer Berta-Tracht auf den Holzstufen der Bühne saß und sich köstlich amüsierte.
Die Probe war ein einziges Desaster. Es klappte überhaupt nichts. Zuerst war eine Kulisse auf das Liebespaar gestürzt, dann war Nick bei seinem Abgang gestolpert und hatte sich dabei den Fuß verstaucht, und Brigitte, die unfehlbare Brigitte, vergaß ständig ihren Text. Wenn sie so am Tag der Premiere aufträten, könnten sie es besser gleich bleibenlassen.
Anouk schob die Haube, die ihr dauernd bis auf die Augenbrauen hinabrutschte, zurück und stand auf. Dabei hielt sie den braunen Leinenrock fest zusammen, der so weit war, dass er ihr ständig über die Hüften zu gleiten drohte. Wie Max vermutet hatte, war ihr das Kostüm um einiges zu groß. Die Garderobiere war schon unterwegs, um einen Gürtel und ein paar Sicherheitsnadeln aufzutreiben.
»Also dann, alles wieder auf Anfang«, knurrte Max, gab dem Beleuchter ein Zeichen, und die Probe begann von neuem.
Es war kurz nach neunzehn Uhr. Die Abendsonne brach sich in den Baumwipfeln rund ums Schloss und malte münzengroße Lichtsprenkel auf die dicken Steinmauern. Im Innenhof war es herrlich kühl, und Anouk genoss die angenehmen Temperaturen im Schatten. Vorhin hatte sie noch geschwitzt, nachdem sie mit dem Fahrrad zur Burg gestrampelt war, weil Max sich nicht bei ihr gemeldet hatte und ihr daher nichts anderes übrig geblieben war, als selbst zur Theaterprobe zu fahren.
Anouk stand auf und schlenderte zur Brücke, die den Palas mit dem vorderen Schloss verband. Sie hatte ihren Auftritt erst in der dritten Szene. Bis dahin blieben ihr noch gute zehn Minuten. In der Rocktasche hatte sie ihr Handy versteckt; ein paar Fotos konnten nicht schaden.
Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu den Zinnen hinauf. Doch dort tauchte weder eine rot gekleidete Frau noch sonst ein anderes unerklärliches Phänomen auf. Eine einzelne Krähe flatterte durch den blasser werdenden Abendhimmel und ließ sich auf dem Giebel des Westbaus nieder. Anouk fröstelte. Überall waren diese Krähen. Sie waren eine richtige Plage. Anouk warf einen letzten Blick zur Bühne, wo Brigitte soeben Nick anschmachtete. Aller Augen waren auf die beiden Hauptdarsteller gerichtet. Und so nutzte sie den Moment, um im Palas zu verschwinden.
Der Eingangsbereich war erst kürzlich renoviert worden. Der Geruch von frischer Farbe hing noch in der Luft. Im Hintergrund führte eine Wendeltreppe in die oberen Räume. Linker Hand befand sich ein riesiger Kamin, davor standen drei geschnitzte Holzstühle mit hohen Lehnen. Ein kleiner Salontisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, vervollständigte die karge Einrichtung. Auf der rechten Seite hinter einer Anzahl Säulen war noch eine weitere Tür eingelassen. Doch weit und breit war kein einziges Bild zu sehen. An den weiß verputzen Wänden befanden sich lediglich Halterungen für Fackeln, und von der hohen Decke hing ein prachtvoller Lüster. Anouk zögerte. Sollte sie nach oben oder lieber weiter geradeaus durch die Tür ins nächste Zimmer gehen? Sie entschloss sich für Letzteres. Mit klopfendem Herzen schlich sie auf die reich verzierte Flügeltür zu und griff nach der Klinke. Die Tür war unverschlossen. Das Glück schien ihr hold zu sein. Bevor sie jedoch durch das Portal hindurchtrat, blieb sie noch einmal stehen und lauschte. Die Proben dauerten an, sie hörte das Klappern der Holzschwerter. Zweite Szene. Ihr blieben noch knappe fünf Minuten.
Anouk betrat das Zimmer und stieß erleichtert die Luft aus. Es war die Ahnengalerie! Und wie schon im ersten, führte auch in diesem Raum eine Wendeltreppe in die obere Etage hinauf. Sie war mit einem eisernen Geländer versehen. Ausgetretene Steinstufen ließen ahnen, dass sie schon sehr alt sein musste. Ein Schild warnte die Besucher denn auch, sich beim Betreten der Treppe in Acht zu nehmen. Anouk schritt langsam die verschiedenen Porträts, Jagdszenen und Landschaftsbilder ab. Von riesigen Gemälden, die sicher vier Meter hoch waren, bis hin zu kleinen, quadratischen Aquarellen war so gut wie jedes Sujet und jede Stilrichtung vertreten. Doch auf keinem war auch nur eine einzige Frau zu sehen, die der mit den üppigen roten Locken im roten Kleid ähnlich sah. Anouk war enttäuscht, wollte aber noch nicht aufgeben. Sie stellte sich auf die Fußspitzen und schaute durch die hohen Fenster nach draußen. Die Kulissen für die dritte Szene wurden bereits aufgestellt; sie musste sich beeilen. Noch einmal schritt sie die Ahnengalerie ab, nur dass sie diesmal auch die kleinen, messingfarbenen Namensschildchen unter den Bildern dabei studierte. Hartmann, Burkhardt, Johann Georg, alles Ehrfurcht gebietende Herren in Rüstung, Uniform oder Talar, die Anouk von oben herab beäugten. Nur wenige Frauen waren unter den Abgebildeten. Das Gemälde einer Magd, wie sie ein Huhn rupfte, daneben das Porträt eines blassen Mädchens, das Margeriten pflückte. Vor einem Zwei-Meter-Bild, das eine Viktoria von Hallwyl zeigte, blieb Anouk stehen. Neben der Frau prunkte ein beleibter, hamsterbackiger Mann in zu engen Hosen. Graf Johannes und Gräfin Viktoria von Hallwyl. Viktoria? Anouk starrte auf das Bildnis. Natürlich! Gräfin Viktoria von Hallwyl. Die Frau, deren Namen Anouk zusammen mit denen ihrer vier toten Kinder auf dem Grabstein des Seenger Friedhofs gelesen hatte. Die Dame hatte pechschwarzes Haar, ein schmales, kränkliches Gesicht und war, wenn ihre Körpergröße auf dem Bild originalgetreu wiedergegeben war, beinahe eine Zwergin. Nie und nimmer war das die Zinnengängerin!
»Verdammt!«, stieß Anouk enttäuscht hervor und wandte sich ab. Eine Sackgasse.
»Anouk? Wo bist du?« Max’ Stimme klang verärgert.
Anouk griff nach ihrem Handy und machte schnell ein Foto von Viktoria und ihrem Gatten. Überrascht hielt sie inne. Das Blitzlicht hauchte den Gesichtern der Porträtierten eine Sekunde lang Leben ein. Es war, als würden deren Augen bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Anouk bekam eine Gänsehaut.
»Anouk, verdammt noch mal! Du bist dran!«
Max lief draußen am Fenster vorbei. Sie konnte seinen Schatten sehen. Es war besser, sich sofort auf die Socken zu machen. Also huschte sie zur Tür hinaus, lief durch das angrenzende Zimmer und trat aus dem Palas ins Freie. Die Schauspieler standen schwatzend beieinander. In ihren Kostümen wirkten sie wie Menschen aus einer anderen Zeit. Anouk überquerte die Brücke, ohne dass sie jemand bemerkte, und ging zur Bühne hinüber.
»Bin ja schon da!«, rief sie. »Tut mir leid.«
»Okay«, stieß Max zwischen den Zähnen hervor, »wenn das Supermodel dann endlich so weit ist, können wir ja weitermachen. Bitte alle auf ihre Plätze!«
»Blödmann!«, zischte Anouk, als sie an ihm vorbeiging und sich zu den anderen gesellte. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn sich jemand in solch einem abfälligen Ton über ihren Beruf äußerte. Und dass dieser Jemand ausgerechnet Max war, schmerzte sie. Doch der Teufel sollte sie holen, wenn sie sich das anmerken ließe. War er etwa immer noch wegen gestern Abend gekränkt? Möglich. Sie wusste ja, dass sie ihn verletzt hatte. Aber deshalb war seine Bemerkung gerade eben trotzdem nicht in Ordnung und sie wiederum zu stolz, um ihn merken zu lassen, wie sehr er sie damit getroffen hatte. Deshalb schenkte sie ihren Szenenpartnern auch ein hinreißendes Lächeln und registrierte mit Genugtuung, wie sich Max’ Blick verfinsterte.
Letztlich verlief die Probe doch noch einigermaßen glücklich, wenigstens verletzte sich niemand mehr. Und die blauen Flecken während der Kampfszene hielten sich in Grenzen. Brigitte erinnerte sich wieder an ihren Text, Anouk sagte ihre Zeilen ohne Stottern auf, und Max fand am Ende sogar zu seiner guten Laune zurück, als sich alle Darsteller gemeinsam vor den leeren Stuhlreihen verbeugten.
Anouk ging sich wie alle anderen umziehen, hängte ihr Kostüm auf den Ständer zurück und schlenderte dann zu ihrem Fahrrad. Es versprach eine wundervolle Nacht zu werden. Die Luft war samtig, die Grillen zirpten voller Enthusiasmus, und über dem See ging gerade der Mond auf. Samstagnacht. Früher das Synonym für Partys, Alkohol und schnellen Sex. Und jetzt? Ratesendungen im Fernseher, Scrabble mit Tati Valerie und ihrem Maler sowie Proben zu einem Theaterstück aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Flasche Amaretto blieb bereits seit Tagen in ihrem Versteck. Anouks Bedürfnis nach Alkohol schwand mit jeder Stunde, die sie im Seetal verbrachte, und ihr früheres Leben vermisste sie genauso wenig wie ein Fotograf schlechtes Wetter. Hätte ihr das jemand vor einem halben Jahr prophezeit, sie hätte an dessen Verstand gezweifelt. Und noch etwas gab es, was sie hier in Seengen beschäftigte und nicht mehr losließ. Ein Rätsel. Das Rätsel um die Frau im roten Kleid. Anouk war sich mittlerweile sicher, dass die Stimmen und Verse, die sie hörte, mit dieser Erscheinung zusammenhingen. Und wenn es ihr gelänge herauszufinden, wer die Unbekannte war, würden auch diese unerklärlichen Phänomene verschwinden, und niemand würde mehr an ihrem Verstand zweifeln. Am wenigsten sie selbst.
Anouk löste das Fahrradschloss, schwang sich auf den Sattel und blickte zum Eingang, wo Max neben Brigitte stand. Sie redeten miteinander, dann deutete er mit dem Arm zur Bühne hinüber, und beide fingen schallend an zu lachen. Die Bibliothekarin legte ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Max lächelte und nickte.
Anouk runzelte die Stirn. Was hatten die beiden eigentlich ständig miteinander zu flüstern? Ihr schien, die zwei gingen sehr vertraut miteinander um. Anouk spürte einen Kloß im Hals. Obwohl ihr Max versichert hatte, dass zwischen ihm und Brigitte außer Freundschaft nichts war, verursachte ihr allein schon der Gedanke, dass sich die beiden küssen könnten, Übelkeit. Oder erzählte Max der Bibliothekarin soeben womöglich gar von dem Bild und ihrer Suche nach der Identität der Zinnengängerin? Das wäre ja noch schöner!
Anouk bereute plötzlich, dass sie das Bild in Max’ Praxis zurückgelassen hatte. Sie fühlte sich der Frau auf dem Gemälde seltsam verbunden und wollte nicht, dass andere von dessen Existenz erfuhren. Vielleicht würde ihr das Porträt ja sein Geheimnis offenbaren, wenn sie es näher untersuchte. Sie fuhr zu den beiden hinüber.
»Entschuldigt die Unterbrechung!«, rief sie fröhlich und ignorierte die giftigen Blicke der Bibliothekarin. »Kann ich dich mal sprechen?«, wandte sie sich an Max. »Unter vier Augen bitte«, fügte sie hinzu und fühlte sich großartig, als sie sah, wie Brigittes Gesicht sich verfinsterte.
»Klar«, sagte Max in bemüht neutralem Tonfall. Es war ihm offenbar peinlich, zwischen die Fronten geraten zu sein. »Also dann bis Montag, Brigitte. Und denk über das nach, was ich dir wegen der … Liebesszene gesagt habe.«
Die Bibliothekarin nickte, wandte sich um, hielt dann aber noch einmal inne.
»Und du vergiss meine morgige Geburtstagsparty nicht, gell?«, sagte sie mit honigsüßer Stimme.
Max schlug sich an die Stirn. »Natürlich, wie dumm von mir. Ich komme gern, danke für die Einladung.«
»Fein«, meinte Brigitte und strich sich durch die Haare. »Es wird ganz zwanglos. Ein paar gute Freunde, reichlich Essen und … na ja, wir werden sehen.«
Sie kicherte kokett.
Anouks Augen verengten sich. »Dann gratuliere ich dir doch vorab schon einmal recht herzlich, liebe Brigitte. Wie alt wirst du denn?«, fragte sie und sah mit Genugtuung, wie die Bibliothekarin blass wurde.
Max zog Anouk samt Fahrrad schnell mit sich fort.
»Du bist unmöglich«, zischte er.
Seine linke Backe war noch immer geschwollen und schillerte mittlerweile in allen Regenbogenfarben. Eine breite Schramme zog sich unter seinem rechten Auge bis zum Haaransatz hinauf.
»Schon möglich«, sagte Anouk und wechselte dann das Thema. »Ich möchte gerne das Bild aus deiner Praxis holen.«
»Warum denn? Hast du etwa neue Erkenntnisse?«
Er schien auf einmal wie elektrisiert, und Anouk warf ihm einen prüfenden Blick zu. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Zuerst zeigte er ihr die kalte Schulter, so dass sie sich schon darauf eingestellt hatte, ihre Suche zukünftig allein fortsetzen zu müssen, und jetzt wirkte er gespannt wie eine Feder. Steckten womöglich noch andere Motive hinter seinem Interesse? Sie wurde nicht schlau aus seinem Verhalten, und das ärgerte sie. Normalerweise hielt sie sich für eine gute Menschenkennerin, aber bei Max schien ihr sonst so untrügliches Gespür vollkommen zu versagen. Doch ein Blick in seine Augen zerstreute ihre Zweifel wieder. Letzten Endes spielte es auch gar keine Rolle, weshalb er ihr half, allein dass er es tat, war wichtig. Und so berichtete sie ihm im nächsten Moment auch schon atemlos von Viktoria und danach von Tatis angekündigter Geschichte über den Kurator. Sie beugte sich beim Erzählen zu ihm hinüber und seufzte leicht, als ihr sein Rasierwasser in die Nase stieg. Er zog belustigt einen Mundwinkel nach oben, als er es bemerkte.
»Ich bringe dir das Porträt nachher vorbei«, sagte er und strich ihr dabei sanft über den Arm. »Ich muss sowieso noch einmal in die Praxis zurück, weil ich meine Tasche dort vergessen habe. Und die brauche ich für einen Hausbesuch. Wenn ich sie hole, kann ich das Bild also gleich mitnehmen, nur wird es wohl ziemlich spät werden.«
»Kein Problem«, erwiderte Anouk schnell, der seine Berührung ein weiteres Seufzen entlockt hatte. Sie freute sich schon jetzt auf das nächtliche Treffen mit ihm und hätte ihn am liebsten auf der Stelle geküsst, wären nicht noch einige Schauspieler in der Nähe gewesen.
Max’ Grinsen wurde noch um eine Spur breiter.
Der Teufel soll den Kerl holen!, dachte Anouk ärgerlich, der es alles andere als recht war, dass er sie so leicht zu durchschauen schien. Doch als er aufbrechen wollte, hielt sie ihn am Arm zurück.
»Pass auf dich auf«, sagte sie leise, »ich will dich nicht auch noch verlieren!«
Schloss Hallwyl, 1746
Die Wiese war übersät mit gelbem Löwenzahn. Ein Bächlein gurgelte durch sie hindurch und verschwand im nahegelegenen Fluss. Bienen summten, Amseln sangen, und über allem wölbte sich ein tiefblauer Frühlingshimmel. Désirée lief drei Schritte vor ihrer Mutter durch das hohe Gras. Sie war barfuß, trug ein weißes Hemdchen und bückte sich allenthalben, um eine Blume zu pflücken. Ein Schmetterling fesselte ihre Aufmerksamkeit, und sie sprang ihm hinterher. Dabei lachte sie fröhlich, warf ihre roten Locken in den Nacken und drehte sich um.
»Venez, Maman, venez vite!« Kommt, Mama, kommt schnell!
Bernhardine lächelte. Désirée war so ein braves Kind, und endlich sprach sie auch Französisch, wie es sich für ein junges Adelsfräulein geziemte.
Bernhardine schwitzte. Sie blickte an sich herab und gewahrte verblüfft, dass sie ihr rotes Taftkleid trug. Was für ein Teufel hatte sie nur geritten, diese Robe ausgerechnet an so einem lauen Tag zu wählen? Sie schüttelte ärgerlich den Kopf und schaute sich um. Ihre Tochter hatte schon einen beträchtlichen Vorsprung und hüpfte übermütig auf den Fluss zu. Bernhardine erschrak. Die Kleine konnte nicht schwimmen!
»Bleib hier, Désirée, geh nicht zum Fluss, das ist gefährlich!«, rief sie und wollte zu ihr eilen. Doch die Wiese hatte sich urplötzlich in einen stinkigen Sumpf verwandelt. Ihre Seidenschuhe versanken in trübem Morast, verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien, indem sie wild mit den Armen ruderte. Doch etwas Schweres an ihrem Hals zog sie unaufhaltsam zu Boden. Sie griff danach und hielt den tropfenförmigen Perlenanhänger, den ihre Mutter ihr zur Verlobung geschenkt hatte, in den Händen. Mit einem Keuchen ließ sie ihn los und starrte erschrocken auf ihre verbrannte Handfläche. Das Schmuckstück war siedend heiß! Ein Schrei ließ Bernhardines Kopf nach oben schnellen. Am Flussufer stand Gerold, neben ihm der einarmige Huldrich. Ihr Schwager war ganz in Schwarz gekleidet und hielt etwas Weißes, Zappelndes in den Armen.
»Au secours, Maman!« Zu Hilfe, Mama!
Bernhardine wurde übel. Ihr Kind schrie um Hilfe. In seiner Stimme schwang Todesangst mit. Sie musste zu ihm; musste es aus den Händen dieses Teufels reißen.
Mit größter Anstrengung kämpfte sie sich durch den Schlick. Aber immer, wenn sie dachte, sie sei ein paar Schritte vorangekommen, schienen die drei Gestalten noch ein Stück weiter entfernt. Bernhardine liefen die Tränen über die Wangen.
»Lass sie gehen, du Hundsfott!«, schrie sie außer sich. »Sie ist nur ein Kind! Nimm mich, wenn du dich erleichtern willst.«
Ihr Schwager grinste. Der Einarmige stand mit weit aufgerissenen Augen noch immer an Gerolds Seite. Im aufkommenden Wind flatterte sein leerer Ärmel wie eine Standarte um den mageren Oberkörper.
»Huldrich«, rief Bernhardine flehentlich, »hilf mir! Hilf Désirée!«
Im ersten Moment sah es danach aus, als würde der Junge ihrer Bitte nachkommen. Er griff nach Gerolds Arm. Doch anstatt ihre Tochter zu befreien, schnellte seine Hand noch ein Stück weiter nach oben und riss heftig an Désirées Locken. Deren kleiner Kopf schaukelte hin und her, als gehöre er einer Stoffpuppe. Gerold blickte auf Huldrich hinab und strich dem Buben lächelnd über den Kopf. Dann drehte er sich um und warf Désirée in den Fluss.
»Nein!«
»Madame, ich bitte Euch, bewahrt Haltung.«
Johannes’ Blick hatte sich verfinstert. Er drückte Bernhardines Arm so fest, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Der Pfarrer schaute konsterniert zu ihnen herüber. Doch nach einem Nicken seitens ihres Gatten räusperte er sich und fuhr mit seiner Predigt fort. Die Kirchgänger auf den vorderen Plätzen reckten ihre Hälse.
Ein Traum, es war nichts weiter als ein dummer Traum gewesen! Bernhardine atmete tief durch. Aber hatte sie tatsächlich laut geschrien? Was mussten die Anwesenden nur von ihr denken? Obwohl es in der Kirche kaum wärmer war als draußen, war sie schweißgebadet. Ihr Rücken schmerzte, das Kopfweh hatte sich verschlimmert, es war, als würde ihr jemand von innen mit einem Hammer gegen die Schädeldecke schlagen. Wie lange hatte sie geschlafen? Eine Minute? Eine Stunde? Jedes Zeitgefühl hatte sie verlassen.
»Warum ist Gerold nicht hier?«, fragte sie leise und rieb sich ihre eiskalten Hände. Ihr Muff war zu Boden gefallen, aber sie sah sich außerstande, sich nach ihm zu bücken. Womöglich wäre sie dabei in Ohnmacht gefallen.
»Dringende Angelegenheiten«, zischte Johannes. »Er schickte einen Boten mit einem Kondolenzschreiben.«
Bernhardine verzog spöttisch den Mund. Wie überaus mitfühlend. Es wurde ein Trauergottesdienst zu Ehren seiner einzigen Nichte abgehalten, und Gerold hielt es nicht einmal für nötig, dabei anwesend zu sein. Ob ihr Traum der Wahrheit entsprach? Hatte ihr Schwager Désirée mit Huldrichs Hilfe eigenhändig in den Fluss geworfen? Und begehrte er sie tatsächlich, wie sie es ihm im Traum auf den Kopf zugesagt hatte? Bei dem Gedanken wurde ihr speiübel. Sie zog ein Lavendelsäckchen aus ihrem Beutel und hielt es sich unter die Nase. Mit gleichmäßigen Atemzügen versuchte sie, ihren rebellierenden Magen zu besänftigen.
Die Predigt zog sich dahin. Was wusste der Pfaffe schon von ihrer Tochter? Er schwafelte etwas von einem Engelchen und von unschuldigen Lämmchen. Am liebsten hätte sie ihn an seinem schwarzen Talar gepackt und heftig durchgeschüttelt. Er sollte besser von Strafe, Rache und Vergeltung predigen. Vom fünften und vom zehnten Gebot!
Und was ist mit dem sechsten?, fragte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Hast du nicht Gottes Gebot über den heiligen Ehestand gebrochen? Bernhardine schluckte. Sie sank in sich zusammen. Wie konnte sie von Gott erwarten, dass Er den Tod ihrer Tochter sühnte, wo sie doch selbst eine Sünderin war? Sie musste ernsthaft bereuen; musste Gott zeigen, dass sie beschämt und bußfertig war, dann würde Er Gerold vielleicht zur Rechenschaft ziehen. Doch wie sollte sie Ihm das offenbaren? Sie ließ ihren Blick über die Kirchgänger schweifen. Die meisten dösten in ihren Bänken, fest eingepackt gegen die klirrende Kälte dieses Adventmorgens. Von den Wänden bröckelte der Verputz, tiefe Risse zogen sich durch die Steinplatten des Mittelschiffes. Oberhalb der Kanzel klebte ein verlassenes Schwalbennest an der Mauer. Eine neue Kirche! Das war die Lösung. Sie würde Johannes bitten, eine Kirche zu bauen. Ein neues Gotteshaus zu Ehren des Allerhöchsten. Und sie würde Cornelis befehlen, das Schloss auf der Stelle zu verlassen. Die Erinnerung an ihre Nacht in der Kapelle würde sie ganz tief in ihrem Herzen vergraben; die Lust aus ihrem Körper verbannen. Unter Umständen würde sie sogar Johannes wieder beiwohnen, um ein weiteres Kind zu empfangen: eine Tochter.
Der Pfarrer drehte seine Handflächen nach außen, und die Gemeinde erhob sich. Er sprach den Schlusssegen, klappte die Bibel zu und verließ die Kanzel. Zuerst kondolierte er dem Schlossherrn, der die tröstenden Worte mit versteinerter Miene entgegennahm, danach wandte er sich an Bernhardine.
»Gott sei über Ihnen, um Sie zu segnen. Heute, morgen und allezeit.«
»Amen«, flüsterte sie inbrünstig.
Das ausgehobene Grab sah wie eine offene Wunde aus. Ringsum bedeckte eine jungfräulich weiße Schneedecke die flachen Hügel und die steinernen Kreuze. Der Frost hatte die Bäume und Sträucher mit einer durchsichtigen Glasur überzogen. Ab und zu knackte die Eisdecke des zugefrorenen Aabachs, der unweit des Gottesackers vorbeifloss. Ein paar Krähen hockten aufgeplustert auf der Steinmauer, die den Cimetière umgab. Johannes hatte nur ein paar ausgewählte Bürger auf den Friedhof geladen. Verwandte waren nicht zugegen. Es war ihnen bei diesem Wetter nicht möglich gewesen, diese rechtzeitig zu informieren. So standen nur zwanzig Leute neben dem dunklen Erdloch, das mit Tannenästen geschmückt war, um die nackte Erde zu verbergen. Ein Leinentuch verhüllte die kahlen Wände des Grabes. Die Totenglocke der Schlosskapelle klang dumpf über die Begräbnisstätte hinweg und hallte in Bernhardines Ohren. Einen Augenblick später stimmte die der Seenger Kirche mit ein. Der Pfarrer sprach schnell, man sah ihm an, dass er fror. Seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt, die Bibel zitterte in seinen Händen.
»Denn Du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter …«
Cornelis stand zuhinterst und starrte auf einen imaginären Punkt am Horizont. Wie alle anderen Männer hatte auch er seine Pelzmütze abgenommen und hielt sie in den Händen. Sein gelocktes Haar war länger geworden, ringelte sich auf dem hochgeschlagenen Kragen seines Mantels. Was wohl in seinem Kopf vorging? Bedauerte er es, den Auftrag für das Porträt angenommen zu haben? Bereute er die gemeinsame Nacht?
Bernhardine schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf die salbungsvollen Worte des Priesters zu konzentrieren.
»Deine Augen sahen, wie ich entstand, in Deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.«
Die Kälte kroch durch die fellgefütterten Stiefel Bernhardines Beine hinauf. Sie bewegte ihre Zehen, die zu Eisklumpen erstarrt waren. Ihr graute vor dem Leichenschmaus, sie wollte lieber allein sein. In Désirées Kammer gehen, an ihren Kleidchen riechen und ihre Lieblingspuppe drücken. Vielleicht könnte sie dadurch ein Band mit ihrer Tochter knüpfen. Ein Band, das über den Tod hinausging.
Sie wandte sich ab, als die Sargträger den kleinen Totenschrein, auf dem ein Tuch mit dem eingestickten Familienwappen prangte, in die Grube hinunterließen. Wieso sollte sie eine leere Kiste betrauern?
»… aus der Erde sind wir genommen, zu Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Der Pfarrer griff in eine Messingschale und warf eine Handvoll Sand ins Grab. »Ruhe in Frieden.«
Bernhardine blickte auf das schlichte Kreuz mit Désirées eingebranntem Namen. Stechpalmenzweige und Efeu schmückten das Holz. Der Grabstein war beim Steinmetz bereits in Auftrag gegeben worden. In acht Wochen würde er geliefert werden. Einen Engel hatte sie sich für ihre Tochter gewünscht.
»Wir sehen uns bald wieder«, flüsterte sie und schwor sich in diesem Moment, dass der Schuldige seine gerechte Strafe erhalten würde. Wenn nicht in diesem, dann in einem anderen Leben. Sie drehte sich um und stapfte durch den hohen Schnee aufs Schloss zu.