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Seengen, 2010

Das Trottengässli hatte sich nicht verändert. Anouk erinnerte sich daran, wie sie dort als Kinder immer Himmel und Hölle auf der Straße gespielt hatten. Eine getigerte Katze sonnte sich auf dem warmen Gehsteig. Sie beachtete Anouk nicht, gähnte ausgiebig und fing an, sich das Fell zu lecken. Großtante Valeries Häuschen lag am Ende der kurzen Sackgasse. Es war ein hübsches Fachwerkhaus inmitten eines parkähnlichen Gartens. Die alte Dame hatte schon vor Jahren ihre Gemüse- und Blumenbeete zugunsten eines pflegeleichteren Rasens umpflügen lassen. Frisch gemähtes Gras leuchtete Anouk wie ein grüner Orientteppich entgegen. Sie runzelte die Stirn. Wieso stand denn die Haustür offen?

»Hallo? Tati Valerie?« Sie betrat den dunklen Hausflur und blinzelte, bis sich ihre Augen an den Lichtunterschied gewöhnt hatten. »Ich bin’s, Anouk. Bist du da?«

Keine Antwort. Sie hörte die Standuhr ticken und das Zwitschern der Vögel in den Kastanienbäumen hinter dem Haus. Hinter dem Haus? Alarmiert lief sie durch den Flur und stolperte über ein Paar Hausschuhe, die mitten im Gang stehen gelassen worden waren. Die Tür zum Garten stand ebenfalls sperrangelweit offen.

»Tati Valerie!«, rief sie und schaute nach links und rechts. Lag da nicht eine Gestalt vor den Forsythiensträuchern? Anouks Knie wurden weich. War der Tod denn ihr ständiger Begleiter geworden? Erst Julia und nun Großtante Valerie? Hatte sie das Schicksal herausgefordert, indem sie erst kurz zuvor so geringschätzig über alte Leute gedacht hatte? Ihr brach der kalte Schweiß aus.

Ihre Großtante lag mit ausgestreckten Armen zwischen den Sträuchern und hatte die Stirn auf den Boden gepresst. Sie sah wie ein Mönch aus, der auf dem Fußboden seiner Kirche liegend Buße tut.

»Tati Valerie?«

Anouks Stimme zitterte. Sie beugte sich zu ihrer Großtante hinunter und berührte deren Schulter. Valerie Morlot drehte den Kopf. Anouk schrie erschreckt auf und sprang einen Schritt zurück.

»Meine Güte, Anouk«, sagte ihre Großtante in genervtem Tonfall, »weshalb schreist du denn so? Ich bin doch nicht taub. Hilf mir lieber hoch!«

Sie streckte ihre Hand aus. Anouk war zu perplex, um etwas zu erwidern, und griff automatisch nach den welken Fingern, die sich erstaunlich kühl anfühlten. Die Haut war weich und fein wie Kalbsleder. Anouk hatte den Eindruck, einen jungen Vogel in der Hand zu halten, dessen zarte Knochen beim geringsten Druck brechen würden.

»Ich habe dich später erwartet, Kleine.« Valerie strich sich die weißen Haare aus der Stirn und lächelte ihre Großnichte erfreut an. »Du solltest mehr essen«, fügte sie hinzu und schnaubte missbilligend. »Ein Mann will schließlich etwas in den Händen halten.«

»Tati Valerie, was zum Kuckuck hast du gerade gemacht? Ich habe mich zu Tode erschrocken.«

»Tatsächlich? Das tut mir leid«, erwiderte ihre Großtante und zupfte sich einen Grashalm von der geblümten Bluse. »Ich habe das Kind gesehen, aber als ich aus dem Haus kam, war es bereits wieder weg.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Egal, dass es verschwindet, bin ich ja schon gewohnt, also habe ich mich halt mit den Ameisen unterhalten.«

Anouk glaubte, sich verhört zu haben. »Du hast was?«

Die Augen ihrer Großtante wurden schmal. »Ich bin nicht verrückt«, murmelte sie, drehte sich um und ging aufs Haus zu. Sie blieb stehen und blickte über die Schulter. »Magst du einen Früchtetee? Es ist heiß heute. An solchen Tagen sollte sich eine Dame nicht zu lange in der Sonne aufhalten … das schadet dem Teint.«

Anouk schaute ihrer Großtante mit offenem Mund hinterher. Das konnte ja heiter werden.

Das Gästezimmer befand sich im Obergeschoss. Als Anouk die Tür öffnete, schlug ihr abgestandene, nach Mottenkugeln und altem Staub riechende Luft entgegen. Sie nieste, riss das Fenster auf und hievte ihren Koffer aufs Bett. In diesem Zimmer hatte sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Aimée immer die Sommerferien verbracht. An den Wänden hingen noch ein paar ihrer Kinderzeichnungen, die ungeschickt mit Reißzwecken befestigt waren. Sie schmunzelte. Gottlob hatten weder sie noch ihre Schwester eine Karriere als Malerin angestrebt.

Aimée lebte mit ihrem Mann in Marseille und hatte inzwischen drei Kinder. Die Zwillinge Matthieu und Luca und Charlotte, das Nesthäkchen.

Anouk vermisste ihre große Schwester und hatte auf ihren Reisen so oft wie möglich in Südfrankreich Station gemacht. Julia hatte sie manchmal in die Camargue begleitet. Ihre Freundin liebte alles, was französisch war. Hatte geliebt.

Anouk setzte sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Sie hätte an jenem Tag am Steuer sitzen sollen und nicht Julia. Im Grunde war es nur Zufall gewesen, dass sie noch lebte, während Julia gestorben war und nun auf dem Friedhof lag, wo eigentlich sie hätte liegen müssen.

Durch das offene Fenster strich eine leichte Brise herein, die den Geruch von Seewasser und Kuhmist mitbrachte. Irgendwo lachte ein Kind, und ein Hund bellte sich die Seele aus dem Leib. Aus der Küche drang Geschirrklappern zu ihr nach oben. Anouk stand auf, atmete zweimal tief durch, und der Kloß in ihrem Hals wurde kleiner.

Der Therapeut hatte sie vor der Überlebenden-Falle gewarnt. Es sei sinnlos, hatte er gesagt, sich ständig Vorwürfe zu machen. Ihre Schuldgefühle würden ihre Freundin auch nicht wieder lebendig machen. Der hatte gut reden!

Anouk schloss das Fenster, kramte in ihrer Handtasche nach einem Gummiband und fasste ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie betrachtete ihren Koffer und die Reisetasche. Das Auspacken konnte warten, jetzt wollte sie zuallererst einmal wissen, wie man mit Ameisen sprach.


»Du wurdest also dazu abkommandiert, der Verrückten so lange Gesellschaft zu leisten, bis man sie ins Heim abschieben kann.«

Valerie Morlot rührte in ihrer Teetasse und sah Anouk herausfordernd an. Diese verschluckte sich an einem Haselnusskeks und begann zu husten. Ihre Großtante war schon immer sehr direkt gewesen und hasste jede Art von Scheinheiligkeit; deshalb hielt sie es für besser, erst gar nicht nach einer Ausrede zu suchen.

»Tati«, fing sie an und räusperte sich, »keiner hält dich für verrückt. Es ist nur … also, wir haben uns gedacht … weil ich doch …«

Sie brach ab. Wie sollte sie ihrer Großtante den Beschluss des Familienrats erklären, wenn sie doch selbst nicht von ihm überzeugt war?

»Schau«, begann sie von neuem, »mir geht’s im Moment nicht so gut. Meine Agentur hat alle meine Termine abgesagt. Ich nehme mir quasi eine Auszeit.« Sie atmete tief durch. »Im Loft halte ich es nicht mehr aus, bei meinen Eltern noch viel weniger. Die behandeln mich wie eine Zehnjährige. Ich musste mal raus aus Zürich. Und wenn ich hier bei dir bin, schlagen wir doch zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich kann dir zur Hand gehen und habe Zeit, mir über einige Dinge klar zu werden.« Sie griff über den Tisch und legte ihrer Großtante die Hand auf den Arm. »Du weißt doch, wie lieb ich dich habe und wie gerne ich bei dir bin. Können wir diese paar Wochen nicht zusammen genießen?«

Valerie schürzte die Lippen, gab vier Löffel Zucker in ihre Teetasse, nahm einen Schluck und verzog den Mund.

»Ist schon gut, Kleine. Manchmal tue ich eben Dinge, die anderen komisch vorkommen und vermutlich nicht als normal gelten. Was auch immer normal sein mag.« Sie lachte. »Aber ich bin nicht senil. Wenn wir also für eine Weile zusammenleben wollen, bitte ich dich, mich nicht wie eine Schwachsinnige zu behandeln. Keine arrangierten Kaffeekränzchen, keine Bingoabende im Gemeindehaus, keine Altersausflüge nach Hintertupfingen. Und was ich mir ausdrücklich verbitte, keine Besuche irgendwelcher frömmelnden Pfaffen, die mein Seelenheil retten wollen.«

Anouk verbiss sich ein Lachen. »Auf keinen Fall, Tati!«, versicherte sie ihrer Großtante, und diese nickte zufrieden.

»Gut, dann also herzlich willkommen!«

Valerie lächelte, und Anouk bemerkte wieder einmal, wie schön ihre Großtante immer noch war. Trotz ihres hohen Alters blickten ihre grünen Augen, die alle weiblichen Familienmitglieder der Morlots geerbt hatten, neugierig in die Welt. Ihr Gesicht wies kaum Falten auf. Lediglich am Hals und an den Händen konnte man ihr wahres Alter erahnen.

Anouks Großtante griff nach einem Keks, prüfte die Konsistenz des Gebäcks und legte es wieder auf den Teller zurück. Sie schaute zur Standuhr in der Ecke und hob die Augenbrauen.

»Oh, ich muss mich umziehen. Doktor Sandmeier hat versprochen, heute noch vorbeizukommen. Kennst du ihn?«

Anouk schüttelte den Kopf. Obwohl der Arzt zusammen mit ihrer Familie den Umzug Valeries in die Wege geleitet hatte, waren sie sich noch nie persönlich begegnet. Sie war zu dieser Zeit noch im Krankenhaus gewesen, und so hatten sich ihre Eltern allein mit dem Hausarzt ihrer Großtante getroffen.

»Du solltest ihn kennenlernen. Er ist nett«, sagte Valerie und stand auf. »Und unverheiratet«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.

Anouk seufzte. »Danke, Tati, aber mir steht der Sinn nicht nach Männerbekanntschaften.« Sie erhob sich ebenfalls und räumte das Teegeschirr in die Küche. »Ich werde einen Spaziergang machen, wenn du erlaubst.«

Ihre Großtante wedelte mit der Hand, und Anouk fühlte sich entlassen. Sie ging die Treppe hinauf, öffnete ihren Koffer und nahm ihren Kulturbeutel heraus. Dann stellte sie sich unter die Dusche, die nach einem kurzen asthmatischen Röcheln heißes Wasser ausspuckte.

Ein Wagen stoppte vor dem Haus. Das musste der Doktor sein. Anouk zog sich eine bequeme Hose an, wählte ein sommerliches Top und schlüpfte in ihre alten Turnschuhe. Als sie die Treppe hinunterging, hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer.

»Na, was haben die Ameisen denn heute erzählt?«

Anouk unterdrückte ein Lachen. Der Arzt wusste also über die Freizeitbeschäftigung ihrer Großtante Bescheid. Sie war ihm insgeheim dankbar dafür, die Frage ohne jeden ironischen Unterton gestellt zu haben. Es machte ihn ihr sympathisch, aber sie hatte trotzdem keine Lust, seine Bekanntschaft zu machen.

Sie verließ das Haus durch den Hinterausgang und schlug den Weg zum See ein. Es war später Nachmittag. Die arbeitende Bevölkerung befand sich auf dem Heimweg. Anouk passte eine größere Lücke im dichten Verkehr ab, lief über die Straße und stieg die Böschung hinter dem Brestenberg hinunter. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel. Schon nach wenigen Minuten kam Anouk ins Schwitzen und atmete auf, als sie den Uferweg erreichte, der von mannshohem Schilf gesäumt war. Linker Hand lag das Brestenberg-Bad. Eine Lichtung am Seeufer, auf der man grillen, sich sonnen oder über eine gemauerte Treppe ins Wasser steigen konnte. Gleich daneben befand sich ein kleiner Kiosk, an dem Getränke, Eis und Sandwichs verkauft wurden.

Anouk hörte Gelächter, plärrende Musik und das Gekreische planschender Kinder. Sie wandte sich nach rechts und folgte dem Pfad, der sich rund um den See schlängelte. Nach wenigen Minuten war der Lärm der Badenden verhallt. Jetzt waren nur noch das Plätschern der Wellen und vereinzelte Vogelstimmen zu hören. Der gut gepflegte Weg wurde schmaler. Ab und zu begegneten ihr Spaziergänger, die ihre Hunde ausführten, und ältere Paare, die freundlich grüßten.

Nach einer knappen halben Stunde endete der Pfad an einem kleinen Wasserlauf. Über einen Steg gelangte Anouk auf einen gekiesten Platz, der von mächtigen Eichen gesäumt wurde. Durch die belaubten Äste hindurch erspähte sie das Wasserschloss Hallwyl. Seine gestreiften Fensterläden, die in Ocker und Schwarz gestrichen waren, hatten Aimée und Anouk in ihrer Kindheit immer an riesige Bienen erinnert, die sich auf ihrer Suche nach Nektar an der Fassade des Schlosses eine kleine Pause gönnten. Das Areal war menschenleer, was sie erstaunte, normalerweise herrschte vor dem malerischen Wasserschloss immer ein Gedränge, als wäre man auf der Kirmes. Anouk schaute auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach sechs. Vermutlich war das alte Gemäuer schon geschlossen. Und tatsächlich stand sie kurze Zeit später vor dem verriegelten Holztor, das über eine Steinbrücke zu erreichen war.

»Montag ist zu«, sagte eine Stimme neben ihr und ließ sie erschrocken zusammenfahren. Ein kleines Mädchen mit einem blonden Pferdeschwanz und einer riesigen Zahnlücke grinste zu ihr hoch und wies mit dem Arm auf eine Tafel mit den Öffnungszeiten.

»Danke«, erwiderte Anouk, »aber ich kenne das Schloss. Ich kam als Kind früher oft hierher. Und …« Sie brach ab.

Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite und hüpfte davon.

Anouk biss sich auf die Lippen. Wieso hatte sie nur ständig das Gefühl, sich für alles rechtfertigen zu müssen?

Sie atmete tief durch, setzte sich auf eine Parkbank in der Nähe des Wassergrabens und sah den Enten zu, die sich um ein Stück Brot balgten. Eine Krähe hockte auf einer Zinne und beäugte ihre gefiederten Verwandten aufmerksam. Über dem träge dahinfließenden Bach, in dem sich das Sonnenlicht spiegelte, tanzte ein Schwarm Mücken. Der Geruch von brackigem Wasser, Algen und trockener Erde war nicht unangenehm. Er erinnerte Anouk wie die Bienen-Fensterläden an ihre Kindheit. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Baumkronen hinauf. Die Blätter zitterten leicht, obwohl kein Wind zu spüren war, als hätten sie vor etwas Angst. Anouk schloss die Augen. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt.

»Désirée! Wo bist du?«

Nackte Panik schwang in der Frauenstimme. Anouk schreckte hoch. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und sie sah alarmiert in den Wassergraben. Mein Gott, trieb da etwa ein Mädchenkörper? Doch es war nur eine Plastiktüte, die sich zwischen den Seerosenblättern verfangen hatte. Sie stieß erleichtert die Luft aus, stand auf und sah sich um. Aber weit und breit war niemand zu sehen – sie war mutterseelenallein.

Schloss Hallwyl, Mai 1743

»Gnädiges Fräulein.«

Ein schmächtiges Männchen streckte ihr die Hand entgegen. Bernhardine grauste vor dessen knochigen Fingern. Doch ihr blieb keine Zeit, sich zu zieren. Hinter ihr hatte sich Marie bereits erhoben und drängte sie aus der Kutsche, deshalb verzog sie nur das Gesicht, griff nach der dargereichten helfenden Hand und stieg aus.

Es war später Nachmittag. Sie hatten ihr Ziel endlich erreicht. Die Sonne schien durch das Blätterdach einiger hoher Eichen und malte goldene Kringel auf den festgestampften Lehmboden. Sie waren das letzte Stück Weg durch eine schattige Allee gefahren und hatten danach vor einer Steinbrücke angehalten, die zum weit geöffneten Schlosstor führte. Es roch penetrant nach fauligem Wasser und Pferdedung.

Bernhardine reckte ihren verkrampften Rücken und fächelte sich Luft zu. Noch immer war es schwül. Unter ihrer Perücke juckte es höllisch, aber sie unterdrückte den Drang, sich zu kratzen. Im Wassergraben, der die wuchtige Burg umgab, blühten Seerosen. Darüber tanzten Mückenschwärme im schwindenden Licht des Tages.

Sie schaute sich interessiert um. Die Bediensteten waren in ländliche Kleidung gewandet: Kniehosen, einfache Leinenhemden, Schlapphüte. Sie sah keinen einzigen, der Livree trug. Die meisten gingen barfuß oder hatten klobige Holzpantinen an den Füßen. Ein zerlumpter Junge mit Haaren wie Stroh kümmerte sich um die Pferde. Ein Ärmel seines Hemdes war oben an der Schulter zusammengenäht. Er warf den Ankömmlingen scheue Blicke zu und zog lautstark den Rotz hoch. Bernhardine wandte sich angeekelt ab. Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Bergfried. Er lag bereits im Schatten und wirkte bedrohlich. Der Rundbau erhob sich gleich hinter der Auffahrt, sein trutziger Anblick hatte früher sicher zur Abschreckung feindlicher Soldaten beigetragen. Das Schloss selbst war nicht unattraktiv. Aber mit den Patrizierhäusern in Bern konnte es in keiner Weise mithalten. Eine feste Steinmauer mit Zinnen, aber ohne Wehrgang, umgab die verschiedenen Gebäude, die sich auf zwei Inseln erhoben und durch einen gemauerten Gang miteinander verbunden waren. Über den Burggraben wölbte sich eine hölzerne Zugbrücke mit schweren Ketten auf beiden Seiten. Gelb-schwarz bemalte Holzläden prangten an den winzigen Fenstern, die Schießscharten ähnelten.

Marie und ein grobschlächtiger Mann, der den Posten des Gutsverwalters, des Meiers, innehatte, kümmerten sich um das Gepäck. In der kommenden Woche würde Bernhardines Mitgift eintreffen. Darunter auch ihre Aussteuertruhe mit den Bettlaken und dem neu eingestickten Monogramm: B.v.H. für Bernhardine von Hallwyl. Der Name klang fremd. Ob sie sich je an ihn gewöhnen würde? Sie versuchte, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen, als sie die abschätzenden Blicke der Leute um sich herum spürte, die wie Ameisen über ihren Körper krabbelten. Sie würde hier bald die Herrin sein und durfte sich vor den Angestellten keine Blöße geben. Daher presste sie ihren Beutel an die Brust und ging erhobenen Hauptes über die Brücke auf das Eingangsportal zu. Als sie durch den Torbogen schritt, klatschte etwas vor ihren Füßen auf den Boden. Ein blutgetränktes, fedriges Ding, das zuckte und krächzte. Erschrocken sprang sie zur Seite und prallte gegen den einarmigen Buben, der bei ihrer Ankunft die Pferde versorgt hatte.

»Verzeihn Se. Ich krieg für jeden Schwarzrock ’n Stück Brot.«

Der Junge grinste und zeigte dabei seine verfaulten Zähne. Dann griff er nach der Krähe, klemmte sie sich zwischen die Beine und drehte ihr mit einer einzigen Bewegung den Hals um. Das Tier erschlaffte. Der Knabe steckte sich die Steinschleuder in den Hosenbund, schnappte sich den Kadaver und stob zu den Pferden zurück. Bernhardines Magen rebellierte. Sie packte den Arm des Meiers, um nicht zu straucheln.

»Entschuldigen Sie, Herrin, aber die Krähen sind hier wirklich eine Plage. Ich …«

Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, ging weiter und betrat den Innenhof. Dort herrschte geschäftiges Treiben. Knechte luden einen Karren ab, der mit prallen Säcken beladen war, und trugen diese anschließend durch einen Torbogen in einen Schuppen. Ein kleines Mädchen, barfuß und schmutzig wie ein Jagdhund nach der Fuchsjagd, scheuchte eine Gänseschar über den Hof.

Bernhardine schüttelte ärgerlich den Kopf. Hatte man die Dienerschaft denn nicht auf ihre Ankunft vorbereitet?

»Wir hatten die Herrschaften später erwartet«, sagte der Meier, als hätte er ihre Gedanken erraten, »haben aber natürlich einen Willkommenstrunk angerichtet. Wenn das hochwohlgeborene Fräulein mir bitte folgen möchte?«

Er verbeugte sich und wies mit dem Arm auf ein flaches Gebäude, das sich neben dem Eingang an die Schlossmauer schmiegte.

Ob Johannes sie in dieser Kate erwartete? Bernhardines Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken. Sie nickte, raffte ihr Kleid und ging auf das Häuschen zu.


Die Wohnräume des Schlossherrn lagen im hinteren Teil der Anlage. Ein Mädchen mit blonden Zöpfen, das kaum älter als zehn Jahre alt sein konnte, geleitete Bernhardine über eine gemauerte Steinbrücke. Unter dem Steg gurgelte das dunkle Wasser des Aabachs. Die Zimmer der Herrschaft befanden sich im Palas. Eine Wendeltreppe führte ins Obergeschoss hinauf. Danach ging es einen schmalen Gang entlang bis zu einer Holztür mit Eisenbeschlägen. Ihr Gemach war auf den ersten Blick nicht unzumutbar, bot aber bei weitem nicht die Annehmlichkeiten, die Bernhardine von ihrem Elternhaus her gewohnt war.

In einer Ecke stand ein Eisenbett, über dem sich ein Baldachin aus weißem Damast spannte. Eine schlichte Holztruhe, ein Stuhl mit gepolsterter Rückenlehne und eine Kommode, auf der sich das Waschgeschirr befand, waren die einzigen Einrichtungsgegenstände. Die Wände zierte eine vergilbte Tapete mit Rosenranken. Der Fußboden bestand aus hellen und dunklen Holzpaneelen, die durch das jahrelange Scheuern zwar jeden Glanz verloren hatten, sich aber zu einem hübschen Karomuster zusammenfügten.

Bernhardine fröstelte trotz des warmen Luftzuges, der durch das geöffnete Fenster hereinströmte. Sie würde nach der Vermählung in das Zimmer ihres Gatten umziehen. Die Aussicht, mit einem alten Mann das Bett teilen zu müssen, verursachte ihr Bauchschmerzen. Ihre Mutter hatte ihr diesbezüglich ein paar Ratschläge erteilt, die sie mehr oder minder hatte nachvollziehen können. Was die Freiherrin jedoch mit »dem Fluch des Ehebettes« gemeint hatte, war ihr nicht klar geworden.

Bernhardine öffnete eine unscheinbare Tür neben dem Bett und rümpfte die Nase. Der Abort stank abscheulich. Sie hielt sich die Hand vor die Nase und schloss den Zugang schnell wieder, dabei stieß sie mit dem Fuß an ein kleines, schwarzes Päckchen. Sie hob es auf. Es war mit einem einfachen Bindfaden verschnürt. Als sie es öffnete, fiel eine tote Fliege heraus, die in Spinnweben eingewickelt war. Mit einem Laut des Abscheus warf sie die Kreatur in den Abort. Schon das zweite tote Tier seit ihrer Ankunft. Was wohl als Nächstes käme? Ein kopfloser Reiter?

Aufgeregte Stimmen im Nebenzimmer erregten ihre Aufmerksamkeit. Marie hatte man in einem Kabuff neben ihrem Zimmer untergebracht. Sie hörte, wie sich die Amme lauthals mit dem blonden Mädchen stritt.

Bernhardine schmunzelte, setzte ihren Hut ab und warf ihn achtlos auf den Stuhl. Sie trat ans offene Fenster, steckte vorsichtig den Kopf hinaus, damit ihre Perücke nicht verrutschte, und spähte in den Schlosshof hinunter. Dort eilte gerade eine Magd mit einem Huhn unter dem Arm über das Steinpflaster und verschwand in einem Nebengebäude. Vermutlich war in diesem die Küche untergebracht, denn eine dünne Rauchfahne stieg aus einem Loch seines Daches in den blassen Abendhimmel hinauf. Der Duft von Gebratenem und Weißkohl stieg Bernhardine in die Nase, und ihr Magen begann, vernehmlich zu knurren.

Beim Willkommenstrunk hatte der Meier verlauten lassen, dass Johannes noch auf der Jagd sei und bei seiner Rückkehr sicher untröstlich darüber wäre, die Ankunft seiner Braut verpasst zu haben.

Bernhardine schnaubte. Ein Affront sondergleichen! Sie setzte sich aufs Bett, kramte in ihrem Beutel und zog ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch hervor, in dem sie ein »Schäfli« versteckt hatte. Das süße Lebkuchengebäck in der Form eines Schafes hatte ihr der Vater aus dem Kloster Einsiedeln mitgebracht. Von dieser unseligen Reise, auf der er den Hallwyler kennengelernt hatte. Der Lebkuchen war zwar in der Zwischenzeit steinhart geworden, doch immerhin schmolz er nicht in der Hitze.

Gedankenverloren knabberte sie an der gewürzten Köstlichkeit, die nach Anis, Kardamom und Nelken duftete, als an die Verbindungstür gehämmert wurde. Marie platzte ins Zimmer. Ihr Gesicht war gerötet, und ihre dunklen Knopfaugen funkelten vor Zorn.

»Das glaub ich nicht!«, fing die Amme an zu wettern und stemmte beide Hände in die Hüften. »Sagt mir das Gör doch, dass ich später ins Gesindehaus ziehen muss, wenn die Herrschaften geheiratet haben. Das lässt du doch nicht zu, Bernhardine, oder?« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

Marie beim gemeinen Gesinde? Das konnte unmöglich Johannes’ Ernst sein. Wer würde ihr dann beistehen?

»Hör auf zu greinen!«, sagte sie und steckte den Lebkuchen in ihren Beutel zurück. »Ich werde mit meinem Zukünftigen darüber sprechen. Jetzt hilf mir aus dem Kleid; ich will mich waschen.«

Marie schniefte, nickte aber und trat hinter Bernhardine, um die Schnürung zu lösen und aufzuziehen. Mit einem leisen Rascheln fiel das Reisekleid zu Boden. Nicht einmal einen Spiegel gab es in dieser Kammer. Während Bernhardine zum Waschtisch trat, sah sie aus den Augenwinkeln, wie Marie mit der flachen Hand über die Wände strich, das Bett und den Baldachin berührte; das Gleiche dann auch mit dem Stuhl, der Holztruhe und schlussendlich mit der Kommode tat. Dabei murmelte sie vor sich hin, als würde sie ein Gebet sprechen.

»Was tust du da?«

Marie wirbelte herum. »Nichts, mein Spätzchen. Mach jetzt hurtig, ich kümmere mich derweil um deine Kleider, damit du ordentlich Staat machen kannst.«

Sie drehte sich um und verließ die Kammer. Bernhardine schüttelte den Kopf. Die Alte wurde immer wunderlicher.

Ob ihr zukünftiger Ehemann sie wohl in diesem Zimmer aufsuchen würde? Obwohl es nicht schicklich war, dass sich die Brautleute vor der Hochzeit ohne Anstandsperson trafen, konnte sie sich nur allzu gut vorstellen, dass dieser Johannes von Hallwyl sich nicht um Sitte und Anstand scherte. Schließlich hatte ihm sein Gewissen auch nicht verboten, sie sich als Eheweib auszusuchen. Eine Frau, die vom Alter her gut und gerne seine Enkelin sein konnte. Vermutlich war dieser Mann ein regelrechter Barbar, der sich nahm, was er wollte, ohne sich um andere zu kümmern.

Röte schoss ihr heiß ins Gesicht. Sie atmete schwer. Das Korsett schien ihr plötzlich zu eng zu sein, und ein leichter Schwindel erfasste sie. Bernhardine griff sich an den Hals und tastete nach dem kleinen, silbernen Kreuz. Gott möge ihr beistehen!

Die Frau in Rot: Roman
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