5

Seengen, 2010

Tati, du hast nicht zufällig die Mobilfunknummer von Doktor Sandmeier?«

Valerie krauste die Nase. »Seine Mobilfunknummer?«, echote sie.

Anouk nickte und fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Jetzt würde ihre Großtante in Gedanken sicher schon das Hochzeitsbankett planen.

Anouk hatte den ganzen Morgen über Max’ Angebot, bei dem Theaterstück mitzuwirken, nachgedacht und sich entschlossen, ihm für die Rolle abzusagen. Sie fühlte sich weder körperlich noch seelisch in der Verfassung, an so einem Projekt teilzunehmen. Wie konnte sie sich bei einem Bühnenspiel vergnügen, wenn Julia tot war? Das war mehr als pietätlos. Des Weiteren würde sie vermutlich schon vor der Premiere wieder nach Zürich zurückkehren. Und dann würde es für Max noch schwieriger werden, auf die Schnelle Ersatz zu finden.

»Du kannst ihn doch in der Praxis anrufen, Liebes«, sagte Valerie und ließ das Spülwasser abfließen, das sich mit einem Gurgeln verabschiedete. »Fühlst du dich nicht wohl?«

»Das ist es nicht«, erwiderte Anouk. »Es ist … eher privat.«

Sie hängte das Geschirrtuch an den Haken hinter der Küchentür.

»So, so«, meinte ihre Großtante mit einem anzüglichen Lächeln. »Privat. Ich verstehe.«

Anouk bezweifelte dies zwar, hatte aber keine Lust, Valerie über das Theaterspiel aufzuklären. Am Ende würde diese die Idee noch ganz fantastisch finden und sie bedrängen, ihre Absage nochmals zu überdenken.

Ihre Großtante trocknete sich die Hände an ihrer Küchenschürze ab und ging zum Telefonapparat, der auf einem Sekretär neben dem Fernseher stand.

»Ich glaube, hier muss sie irgendwo sein«, murmelte sie und wühlte zwischen verschiedenfarbigen Zetteln, Zeitungsausschnitten und Coupons, die sich zu einem beträchtlichen Stapel zusammengefunden hatten. »Wusste ich’s doch!«, rief sie triumphierend und zog eine Visitenkarte aus dem Haufen. Anouk streckte die Hand danach aus, aber Valerie drückte die Karte an ihre Brust. »Gefällt er dir?«, fragte sie und lächelte verschmitzt.

Anouk seufzte. »Ja, ich finde ihn ganz nett.« Und als ihre Großtante zufrieden mit der Zunge schnalzte, fügte sie rasch hinzu: »Das ist aber auch alles.«

Anouk schnappte sich die Visitenkarte, bevor Valerie noch etwas erwidern konnte, lief die Treppe hinauf und setzte sich aufs Bett. Sie öffnete ihren Koffer, holte den Amaretto hervor und griff nach ihrem Handy.

Der Alkohol brannte köstlich in der Kehle und verwandelte sich in eine beruhigende Wärme, als er in ihrem Magen ankam. Es klingelte nur zweimal, bis sich Max meldete.

»Sandmeier.«

»Anouk hier. Ich wollte …«

»Anouk? Wie nett, von dir zu hören. Ist etwas mit deiner Großtante?«

Der Klang seiner Stimme war von Freude in Besorgnis umgeschlagen, und Anouk kam sich reichlich schäbig vor, ihn ausgerechnet jetzt zu enttäuschen. Wie es schien, mochte er Tati Valerie wirklich. Und auch ihr brachte er vermutlich mehr Sympathie entgegen, als es gegenüber der Angehörigen einer Patientin üblich war. Aber sie hatte nicht vor, sich auf eine Liaison mit ihm einzulassen. Sie würde bald wieder abreisen und wollte kein gebrochenes Herz zurücklassen.

»Nein, keine Sorge, Tati Valerie geht’s gut. Es ist wegen des Theaterstückes.« Sie holte tief Luft. »Ich habe mir das noch mal überlegt und … also … ich finde es doch keine so gute Idee und möchte lieber nicht mitmachen.«

Am anderen Ende blieb es still, bis sie schon dachte, die Leitung sei unterbrochen. »Max? Bist du noch da?«

»Ja«, erwiderte er. Seiner Stimme war nicht anzumerken, ob ihn ihre Absage getroffen hatte.

»Bist du jetzt enttäuscht?« Sie nahm noch einen Schluck aus der Flasche.

»Nein. Es ist nur …« Er räusperte sich. »Nun ja, ich finde es schade, weil ich mir sicher bin, dass du das Stück, die Proben und das ganze Drumherum gemocht hättest. Aber natürlich musst du selbst wissen, was du dir zutrauen kannst. Vielleicht ist es auch ganz gut so, schließlich bist du quasi Rekonvaleszentin und möglicherweise noch gar nicht in der Lage, dich einer solchen Herausforderung zu stellen.«

Anouk schnaubte. Als ob sie nicht in der Lage wäre, eine so kleine, popelige Rolle zu übernehmen! Für wen hielt sich Max denn? Für Woody Allen?

»Ich …«

»Bitte keine Entschuldigung«, unterbrach Max sie. »Ich verstehe deine Entscheidung. Wirklich. Ich muss jetzt los. Wir sehn uns.«

Anouk betrachtete verblüfft ihr Handy. Er hatte einfach die Verbindung gekappt. So eine Unverschämtheit! Sie knallte das Telefon auf den Nachttisch und trank noch einen Schluck Amaretto. In ihrem Magen begann der Alkohol, mit den Nudeln zu kämpfen, und sie stürzte zur Toilette.


»Wer war das denn?«

Brigitte trat aus dem Badezimmer und trocknete sich ihre Hände, da Max vergessen hatte, ein Handtuch aufzuhängen, an ihrer Jeans ab.

»Eine Patientin«, sagte Max zögernd. »Danke für die Bücher, Brigitte«, fuhr er fort. »Ich hätte sie mir aber auch in der Bibliothek abholen können.«

Brigitte lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ich war gerade in der Gegend, von daher …«

Max blickte zum Fenster hinaus. Er wusste ganz genau, weshalb sie ihm die Exemplare während ihrer Mittagspause vorbeigebracht hatte und was sie sich in Bezug auf ihn erhoffte. Und weil er das wusste, schämte er sich. Denn jede über Freundschaft hinausgehende Regung war, seitdem Anouk ihm im Zug in die Arme gefallen war, für ihn unmöglich geworden. Als hätte seine anfängliche Zuneigung zu Brigitte gar nie bestanden. Meine Güte, war er wirklich so oberflächlich? Und was bildete er sich eigentlich ein? Dass er tatsächlich Chancen bei einem Topmodel haben könnte, dem die Welt zu Füßen lag? Gerade eben hatte sie die Theaterrolle hingeschmissen – das sagte ja wohl alles.

Brigitte trat zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Max, ich …«

»Nein!«, stieß er heftig hervor, und Brigitte zuckte zurück. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er schaute auf die Uhr. »Aber ich muss noch einen Hausbesuch machen.« Er lächelte gequält.

Brigitte nickte. »Verstehe«, sagte sie mit einem Seufzer. »Dann also bis zur Theaterprobe.«

Max nickte ebenfalls und atmete erleichtert auf, als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel. Mein Gott, was war er bloß für eine Memme! Doch er hasste es, jemandem weh zu tun, und das würde er zweifellos, wenn er Brigitte reinen Wein einschenkte.

Er setzte sich an den Tisch und betrachtete sinnend die beiden dicken Bücher. Dann griff er entschlossen nach dem ersten und schlug es auf. Posttraumatische Belastungsstörung: Definition.


Im Schatten der Kastanienbäume war es angenehm kühl. Anouk lag auf einem Liegestuhl im Garten, ein Buch auf den angewinkelten Knien, und betrachtete eine Hummel, die zwischen den Taubnesseln emsig nach Nektar suchte. Tati Valerie hatte sich zu einem Mittagsschläfchen hingelegt. Am späten Nachmittag wollten sie zusammen am Seeufer ein Eis essen und im Anschluss daran schwimmen gehen.

Anouk dachte an die Stimme, die sie beim Schloss gehört hatte, an die Schülerin im Dorf und an ihre Großtante. Beide hatten Verse vorgetragen, ohne dass es ihnen anscheinend bewusst gewesen war. Verse in einer altmodischen Sprache. Valerie hatte solche Gedichtzeilen vermutlich noch in der Schule auswendig lernen müssen. Aber in der heutigen Zeit waren wohl eher Texte von Rappern als klassische Gedichte gefragt.

Anouk erinnerte sich nur noch vage an den Wortlaut der Verse. Irgendetwas mit Eis, Schnee, einem frommen Weib und fehlenden Erben. Zum ersten Mal bereute sie es, ihr Laptop nicht mit nach Seengen genommen zu haben. Aber eventuell fände sie in der örtlichen Bücherei einen Hinweis. Vielleicht ergab das Ganze ja einen Sinn, wenn sie den Verfasser herausfinden und die Gedichte nochmals nachlesen könnte. Sie hatte momentan sowieso nichts Besseres zu tun. Also warum sich nicht auf eine kleine Schnitzeljagd begeben? Für das meiste, was einem anfänglich übernatürlich erschien, gab es eine simple, logische Erklärung. Und sie würde sich bedeutend ruhiger fühlen, sobald sie eine gefunden hätte.

Entschlossen klappte sie das Buch zu und stand auf. Wenn sie sich beeilte, könnte sie zurück sein, bevor Tati ihre Siesta beendet hatte. Im Schuppen fand sie ein verrostetes Fahrrad, prüfte es auf seine Fahrtauglichkeit und strampelte los.

Die Bibliothek befand sich im Gebäude der Seenger Realschule. Anouk lehnte das Rad in Ermangelung eines Ständers an die Hauswand und trat durch die offen stehende Eingangstür. Ein Duftgemisch aus Kreide, Bohnerwachs und Turnbeuteln schlug ihr entgegen, und sie fühlte sich in ihre Schulzeit zurückkatapultiert. Eine jüngere Frau mit einem riesigen Stapel Taschenbücher ging an ihr vorbei.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und platzierte die Bücher mit einem Seufzer auf einem Glastisch. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Eine Affenhitze ist das heute!«

Anouk lachte. »Ja, kaum zum Aushalten! Ich suche Gedichte«, beantwortete sie darauf die ihr gestellte Frage, »alte Gedichte.«

Die Bibliothekarin wies mit der Hand auf die gegenüberliegende Wand. »Von Schiller über Goethe bis hin zu Droste-Hülshoff haben wir alles da, was das Dichterherz begehrt. Mein Vorgänger hatte ein Faible für Lyrik.«

Die Frau verdrehte theatralisch die Augen.

Anouk schluckte, als sie die vielen, mit Büchern vollgepfropften Regalreihen erblickte. Um das alles durchzugehen, bräuchte sie ja Jahre!

»Ich suche ein bestimmtes Gedicht.«

Die Angestellte runzelte die Stirn. »Kennen Sie vielleicht dessen Titel oder Verfasser?«

Anouk schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Worte … leider.« Sie hob entschuldigend die Achseln.

»Na, dann schauen wir doch mal, was Schwester Klara dazu meint.«

»Schwester Klara?«

Die Frau lachte schallend. »So heißt unser Computer. Die Schüler haben ihn so getauft. Ich kann den Teil der Verse oder die Worte, an die sie sich erinnern, eingeben, und wenn wir Glück haben, spuckt er beziehungsweise sie daraufhin einen Autorennamen aus. Ist wie googeln. Wollen wir?«

Anouk nickte erfreut. Die Bibliothekarin setzte sich an ein Pult und startete den Computer. Auf dem Bildschirm erschien eine Aufnahme von Schloss Hallwyl samt einer Eingabemaske.

»Bereit?«


Vor dem Haus ihrer Großtante parkte der Van eines Kurierdienstes, als Anouk eine Stunde später wieder ins Trottengässli einbog. Ein Mann in einem hellblauen Hemd stieg gerade aus, öffnete die Schiebetür und zog ein breites, flaches Paket heraus.

»Sind Sie Valerie Morlot?«, fragte er und hielt ihr ein MDE-Gerät unter die Nase.

»Ihre Großnichte«, erwiderte Anouk und stellte das Fahrrad in den Schuppen.

»Gut, dann können auch Sie unterschreiben.«

Er hielt ihr das schwarze Scanner-Kästchen mit Unterschriftsfeld und einen Stift unter die Nase. Anouk quittierte den Empfang, und der Kurier drückte ihr das Paket in den Arm.

»Schönen Tag noch.«

Er tippte zum Gruß mit dem Finger an die Stirn, stieg in seinen Van und fuhr rückwärts aus der Einfahrt.

»Kostümverleih Hächler« stand auf dem Paket. Anouk schürzte die Lippen. Was zum Henker wollte Tati Valerie mit einem Kostüm? Fastnacht war doch erst im Februar, und von einem Maskenball mitten im Sommer hatte sie nichts gehört. Sie bugsierte den unförmigen Karton durch die Haustür und stellte ihn vor die Treppe.

In ihrer Tasche befand sich der Bestellschein für zwei Lyrikbände. Die Angestellte der Bibliothek hatte mit Schwester Klaras Hilfe zwei Namen gefunden: Christiana Mariana von Ziegler und Sidonia Hedwig Zäunemann. Beides Dichterinnen aus dem achtzehnten Jahrhundert, die, im Zuge einer Hommage an die Frauen in der Dichtkunst, vor ein paar Jahren neu aufgelegt worden waren. Leider gehörten die Bücher nicht zum Bestand der Seenger Bibliothek, aber die freundliche Bibliothekarin hatte Anouk versprochen, ihr Möglichstes zu tun, damit beide Exemplare bis Mitte der Woche geliefert werden würden.

Anouk wusste nicht so recht, was sie mit den Lyrikbändchen anfangen sollte. Was würde es ihr letztendlich nützen, wenn sie den Verfasser der Zeilen kannte? Aber etwas in ihr drängte sie dennoch dazu herauszufinden, was es mit den rätselhaften Versen auf sich hatte.

Ihre Großtante trat aus der Küche und klatschte erfreut in die Hände, als sie das Paket erblickte.

»Endlich! Mein Reifrock ist da.«


»Nicht so fest!«

Valerie griff sich an die Brust und keuchte. Nicht weniger als Anouk, die versuchte, die Bänder des Korsetts festzuzurren. Sollte sie vielleicht ihren Fuß gegen Tatis Hintern stemmen? Die Vorstellung erheiterte sie so sehr, dass sie lachen musste, dabei ließ sie die Schnüre los, und das Mieder platzte wie eine reife Tomate auf.

»Mein Gott, wie müssen diese armen Frauen früher gelitten haben. Das ist ja die reinste Folter!« Valerie setzte sich seufzend auf ihr Bett und schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass die alle naselang in Ohnmacht gefallen sind.«

Anouk nickte und pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Auf einem Stuhl lag das Kleid, das sich ihre Großtante beim Kostümverleih bestellt hatte. Ein Ungetüm aus hellgelbem Damast, bedruckt mit Rosenknospen und Schmetterlingen. Am Dekolleté, an den Puffärmeln und am Saum war es zusätzlich mit Tüll eingefasst. Das Kleid sah wie ein riesiges Sahnebaiser aus. Daneben stand wie ein monströses Drahtskelett der Reifrock, der es stützen und ihm Form verleihen sollte.

»Und weshalb hast du dir diesen gelben Alptraum gekauft?«, fragte Anouk und setzte sich zu ihrer Großtante aufs Bett. »War das etwa ein Ameisenratschlag?«

Valerie schnaubte. »Bitte etwas mehr Respekt, junge Dame! Am Mittwoch ist das jährliche Sommerkonzert auf Schloss Hallwyl. Davon habe ich dir doch erzählt.« Anouk schüttelte den Kopf, doch ihre Großtante fuhr unbeirrt fort: »Und dieses Jahr spielen sie Musikstücke aus dem achtzehnten Jahrhundert. Da dachte ich mir, es wäre doch chic, wenn ich an diesem Abend ein Kleid aus der gleichen Epoche tragen würde. Vor allem werde ich damit Frau Großrätin Brechbühl um Längen schlagen. Die alte Vettel takelt sich jedes Jahr wie eine Zwanzigjährige auf und hält sich für Ich-weiß-nicht-was, nur weil ihr dürres Männlein einmal in der Regierung saß.«

Anouk lachte schallend, als sie den grimmigen Gesichtsausdruck ihrer Großtante bemerkte. Die langjährige Feindschaft zwischen den beiden Frauen bestand also immer noch. Anouks Mutter hatte einmal erzählt, dass die zwei Damen in ihrer Jugendzeit in denselben Mann verliebt gewesen waren. Seit damals konnten sie sich nicht ausstehen, auch wenn keine von ihnen das besagte Objekt ihrer Begierde später geheiratet hatte.

»Doktor Sandmeier hat übrigens noch eine zusätzliche Karte besorgt, damit du das Konzert ebenfalls besuchen kannst.«

Anouk hob den Kopf. »Aber …«

»Vergiss nicht, dich dafür bei ihm zu bedanken, Liebes«, unterbrach sie Valerie. »Und jetzt zieh!«


In der Nacht hatte es geregnet. Als Anouk gegen acht Uhr am Mittwochmorgen die Fensterläden aufstieß, tropfte es von den Bäumen. Die Luft war erfüllt vom Duft feuchter Erde und nasser Gräser. Über dem See zogen sich die letzten Dunstschleier ins Blau eines wolkenlosen Himmels zurück. Das Konzert würde also bei besten Wetterbedingungen stattfinden. Anouk hatte zwar gehofft, Petrus würde Erbarmen mit ihr zeigen und die Musikaufführung ins Wasser fallen lassen. Doch allem Anschein nach machte er sich einen Spaß daraus, sie mit einer Kopie Marie-Antoinettes ins Konzert zu schicken und sie außerdem noch neben dem vermutlich in Liebe entbrannten Dorfarzt zu platzieren.

Anouk gähnte herzhaft. Seit dem Unfall hatte sie nicht mehr so gut geschlafen wie letzte Nacht. Die wirren Träume, in denen sie den Crash immer und immer wieder nacherlebte, suchten sie nur noch selten heim. Manchmal kam sie darüber sogar ins Grübeln. Wie konnte sie das Geschehene nur so schnell vergessen? War es denn nicht wichtig, sich weiterhin daran zu erinnern? Die Selbstkasteiung als ein Weg zur Absolution? Aber wem half sie schlussendlich damit? Ihre Schuldgefühle machten ihre Freundin nicht wieder lebendig, genauso wenig, wie sie Julias Familie dabei halfen, mit dem tragischen Verlust ihrer Tochter fertig zu werden.

Ihr Handy klingelte. Sie schaute auf das Display, aber es war keine ihr bekannte Nummer.

»Morlot?«, meldete sie sich und strich sich die zerzausten Locken aus dem Gesicht.

»Guten Morgen, Frau Morlot. Hier Häusermann. Ihre Dichterinnen sind angekommen.«

Anouk hörte ein kurzes Lachen und versuchte, Namen und Aussage in einen Zusammenhang zu bringen. Die Lyrikbände – natürlich!

»Schon da? Toll! Ich werde heute noch vorbeikommen und sie abholen. Besten Dank für den Anruf.«

»Keine Ursache. Bis dann.«

Als Anouk nach einer halben Stunde die Küche betrat, war ihre Großtante bereits geschäftig am Werk. Auf dem Tisch standen verschiedene Töpfchen und Tiegel, ein Fächer, ein Paar Spitzenhandschuhe, und auf der Kaffeekanne thronte eine weiße Lockenperücke.

»Ich brauche mindestens zwei Stunden, bis ich das alles angezogen habe«, jammerte Valerie und verzog den Mund. »Ob das so eine gute Idee war?«

Anouk verkniff sich eine ironische Bemerkung, goss sich ein Glas Orangensaft ein und setzte sich an den Küchentisch. Mit spitzen Fingern griff sie nach den Handschuhen.

»Wir kriegen das schon hin, Tati, keine Sorge. Schwieriger wird vermutlich der Transfer. Oder holt uns ein offener Einspänner ab?«

Ihre Großtante riss die Augen auf. »Himmel, ja! Wie komme ich in diesem Kleid überhaupt ins Auto? Fahren kann ich damit jedenfalls nicht. Das musst du übernehmen, Schatz!«

Anouks Herz stockte. Nie im Leben würde sie sich hinters Steuer setzen. »Auf gar keinen Fall, Tati. Sorry, aber das traue ich mir nicht zu.«

»Papperlapapp! Es ist ja nicht weit. Das schaffst du schon.«

Anouk biss sich auf die Lippen. Ihre Großtante bestimmte, und der Rest der Welt musste sich fügen. So war es schon immer gewesen.

»Vielleicht könnte ja Doktor Sandmeier …?« Anouk griff nach einem Stück Brot. »Ich meine, er geht ja auch hin und …«

»Unmöglich!«, ereiferte sich Valerie. »Er musste schon Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dir eine Karte zu besorgen. Ich werde seine Freundlichkeit nicht überstrapazieren und ihm auch noch die Rolle des Chauffeurs aufdrängen. Hast du dich übrigens schon bei ihm bedankt?« Anouk senkte den Blick. »Also nicht«, stellte ihre Großtante fest. »Das ist wirklich unhöflich. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Ist ja gut, Tati. Ich werfe mich ihm heute Abend zu Füßen und danke ihm unter Tränen für seine Güte.«

Valerie kniff die Augen zusammen. »Sarkasmus ist hier gänzlich fehl am Platz. Und Höflichkeit hat noch keinem geschadet, meine Liebe.«

Anouk zog die Schultern hoch. Sie wusste selbst nicht, wieso sie so gereizt reagierte, sobald es um Max ging. Im Grunde gefiel ihr der Arzt. Er war so ganz anders als sie. Ruhig, besonnen und mit der nötigen Bodenhaftung, die Anouk oft fehlte, wenn ihr Temperament sie wieder einmal in die Luft gehen ließ. Der perfekte Ausgleich zu ihrem impulsiven Charakter. Außerdem liebte sie seine braunen Augen. Aber Anouk hatte in Max’ Gegenwart auch immer das unbestimmte Gefühl, sich für ihr Tun rechtfertigen zu müssen. Allein seine Gegenwart war schon eine stumme Anklage. Als wäre sie ein Studienobjekt für ihn, das er nüchtern unter die Lupe nahm, während sie sich emotional zu ihm hingezogen fühlte. Er irritierte sie mehr, als sie es im Moment gebrauchen konnte, weshalb es auch das Beste war, ihm so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen.

»Ich muss jetzt los«, sagte sie und stand auf. »Brauchst du etwas aus dem Dorf?« Valerie Morlot schüttelte stumm den Kopf. Vermutlich wartete sie auf eine Entschuldigung, aber Anouk konnte genauso stur sein wie ihre Großtante. »Okay, dann bis später.« Sie schnappte sich ihre Handtasche und wandte sich noch mal um. »Tati?« Valerie drehte den Kopf. »Ich hab dich lieb.«


»Jetzt weiß ich endlich, woher ich Sie kenne!« Die Bibliothekarin strahlte. »Aus dem Werbespot mit diesem Parfüm. Wie hieß es noch gleich? Irgendetwas mit Eis, nicht wahr?«

Die Werbung für den Duft von Chiomac war europaweit ausgestrahlt worden und hatte Anouks Gesicht vor fünf Jahren über Nacht berühmt gemacht.

»Crystal Frozen«, sagte sie lächelnd.

»Genau!« Die Angestellte der Bibliothek schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ich habe mir damals sogar einen Flakon davon gekauft, obwohl ich eher auf herbe Düfte stehe.« Anouk nickte und zog ihren Bestellschein aus der Tasche.

»Ah, ja, Ihre Bücher.« Die Bibliothekarin griff nach zwei unscheinbaren Bändchen, die neben der Kasse lagen. »Ich habe mir erlaubt, einen kleinen Blick hineinzuwerfen. Also, mein Geschmack ist’s ja nicht. Aber mit Lyrik tue ich mich schwer. Zu viele Röschen und Mägdelein. Wie gesagt, ich bin eher der herbere Typ.«

Sie lachte schallend nach ihren letzten Worten, und Anouk schmunzelte. Frau Häusermann war nett, wenn auch etwas schwatzhaft. Aber vermutlich war das ein Berufsrisiko. Wer ständig mit stummen Büchern zu tun hatte, nahm wohl jede Gelegenheit wahr, um zu kommunizieren.

»Danke«, sagte sie, als ihr die Bibliothekarin die Kassenquittung und die Plastiktüte reichte. »Ich hab’s im Grunde auch nicht so mit Gedichten. Es handelt sich eher um ein Experiment.«

Frau Häusermann runzelte die Stirn und öffnete wieder den Mund, worauf Anouk sich schnell umdrehte und nach draußen floh.

Am gegenüberliegenden Kiosk kaufte sie sich ein Vanilleeis und setzte sich auf eine der Bänke im Schulhofareal. Unter den schattigen Kastanienbäumen war die Hitze erträglich. Durch ein geöffnetes Fenster plätscherte Klaviermusik zu ihr hinab, die plötzlich abbrach und nach einer Weile wieder einsetzte. Anouk griff in die Plastiktüte und zog die beiden Lyrikbände heraus. Auf einem sah man das Bild einer Frau, die in ein spitzenverbrämtes Kleid gehüllt war, das Tatis gelbem Sahnebaiser verblüffend ähnelte. Christiana Mariana von Ziegler. Ihr Buch hieß Versuch in gebundener Schreib-Art, und sein Inhalt erwies sich nach kurzer Prüfung als absolut belanglos. Anouk legte das Exemplar zur Seite und betrachtete den zweiten Band. Sidonia Hedwig Zäunemann. Ihr Gedichtband trug den schwärmerischen Titel: Poetische Rosen in Knospen. Das klang schon besser. Auch das Porträt der Dichterin war Anouk um einiges sympathischer als das der Ziegler. Es zeigte eine junge Frau mit einem Lorbeerkranz im Haar, die keck in die Welt hinausblickte. Anouk schlug das rosa Büchlein auf und blätterte es durch. Es begann mit einer Widmung an die Kaiserin, danach folgte ein ellenlanges Vorwort, das sie gleich übersprang. Für Leichengedichte war es zu heiß, Hochzeitsgedichte interessierten sie nicht, aber bei den vermischten fing sie an zu lesen. Die Sprache war – wie erwartet – altmodisch. Oft musste sie eine Zeile zweimal lesen, um deren Sinn zu erfassen. Nach drei Gedichten gab sie es auf und seufzte. Es war eine Sackgasse. Wie sollte sie aus diesem Wust von Reimen und Versen nur diejenigen herausfinden, die sie gehört hatte? Und selbst wenn sie sie fände, was wäre damit gewonnen?

Die Schulglocke ertönte, und innerhalb weniger Sekunden füllte sich der Platz mit lärmenden Kindern. Anouk beschloss, zurückzufahren und Tati bei ihren Vorbereitungen für den heutigen Abend zu helfen.


Der Ehstand ist ein schwarzes Meer,
worein viel trübe Wasser fließen;
Er ist ein herb- und bittrer Kohl.
Kann ihn ein beißend Salz versüßen?

Anouk stockte der Atem. Wer hatte das eben gesagt? Sie schaute sich alarmiert um. Ein paar Mädchen spielten Fangen, drei Jungen dribbelten mit einem Basketball unter einem Korb. Die meisten Schüler standen jedoch nur in der Gegend herum, schwatzten miteinander und aßen ihr Pausenbrot.

Anouk schlug die Hände vors Gesicht.

»Ich bin doch nicht verrückt«, murmelte sie, »ich habe die Verse deutlich gehört, und dafür muss es doch eine logische Erklärung geben.«

»Bitte was?«

Anouk schrie auf und sprang mit einem Satz auf die Beine. Vor ihr stand Frau Häusermann.

»O Gott«, sagte die Bibliothekarin mit aufgerissenen Augen, »haben Sie mich jetzt erschreckt!«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, japste Anouk und raffte ihre Utensilien zusammen. »Haben Sie gerade eben ein Gedicht aufgesagt?« Sie wagte kaum zu atmen.

»Ich? Nein, wie käme ich denn dazu? Ich sagte Ihnen doch schon, mit Poesie habe ich nichts am Hut.«

Frau Häusermann warf ihr einen seltsamen Blick zu.

Anouk lächelte bemüht. »Ich glaube, die Hitze bekommt mir nicht. Ich werde dann mal gehen.«

Die Bibliothekarin nickte, setzte sich auf die äußerste Ecke der Bank und holte einen Apfel aus ihrer Handtasche.

»Ist noch etwas?«, fragte sie zögerlich.

»Nein, alles in Ordnung.«

Anouk schulterte ihre Tasche und ging zum Fahrrad. In ihrem Rücken spürte sie Frau Häusermanns Blick.

»Ich bin nicht verrückt!«, wiederholte sie nochmals. Aber ganz sicher war sie sich nicht.

Schloss Hallwyl, Oktober 1746

Der Oktober dieses Jahres war einer der schönsten, den Bernhardine je erlebt hatte. Am Wegrand blühten Taubnessel und Hirtentäschel, die noch etwas Farbe in das braun werdende Gras tupften. Aber wirkliche Pracht entfalteten die Blätter der Eichen im Schlosspark. In einem sattem Gelb, Gold und Rot leuchteten sie mit der Herbstsonne um die Wette. In ihren mächtigen Kronen sammelten sich seit Tagen Stare für ihren Flug über die Alpen. Ein ohrenbetäubendes Gezwitscher verfolgte die Schlossbewohner schon seit den frühen Morgenstunden. Bernhardine beobachtete ein paar Knechte im Park, die mit Steinen nach den schwarz gefiederten Vögeln warfen. Doch die lautstark pfeifenden Tiere flogen nur kurz auf, um sich danach erneut auf den Ästen niederzulassen.

Bernhardine schloss das Fenster und warf einen Blick auf die Wiege mit den Zwillingen. Die beiden Knaben ließen sich durch das Vogelkonzert nicht stören und schlummerten friedlich Seite an Seite. Gegenüber auf der Chaiselongue saß Désirée, ihre Erstgeborene, herzte ihre Puppe und brabbelte vor sich hin.

Es war jetzt über drei Jahre her, dass Bernhardine aufs Schloss gekommen war, um Johannes von Hallwyl zu ehelichen. Im März des darauffolgenden Jahres hatte Désirée das Licht der Welt erblickt. In diesem Januar die Zwillinge Burkhardt und Kaspar. Bernhardine hatte also ihre Pflicht, den Hallwyls einen männlichen Erben zu gebären, mehr als erfüllt. Ihr Gatte kümmerte sich seither nur noch wenig um sie und widmete sich lieber seinen Geschäften, der Jagd und den hübschen Mägden auf den umliegenden Bauernhöfen. Was Bernhardine nicht unangenehm war. Bereits als sie mit Désirée schwanger war, hatte sie auf einer eigenen Zimmerflucht bestanden und diese nach langen, ermüdenden Diskussionen auch bekommen. Das Einrichten ihrer neuen Gemächer hatte sie für kurze Zeit vom Heimweh und den Gedanken über ihr tristes Schicksal abgelenkt.

Bernhardine erinnerte sich an einen Abend vor drei Jahren, als Johannes’ Bruder sie in ihrem neuen Boudoir aufgesucht hatte. Sie war gerade dabei gewesen, ihre Töpfchen und Tiegel vor dem Schminkspiegel zu richten, als es an der Tür geklopft hatte.

»Herein!«

Bernhardine schnüffelte an einem kleinen Gefäß, das eine grünliche Salbe enthielt, und rümpfte die Nase. Der Kampfergeruch schoss ihr unangenehm in die Stirnhöhle, und sie verschloss den Tiegel eilig wieder.

»Verehrte Belle-Sœur …« Gerold stand in der Tür und starrte sie mit seinen Kohleaugen an. »Erlauben Sie mir, auf ein kurzes Wort einzutreten.«

Bernhardine zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Zum einen hatte sie nicht gewusst, dass sich ihr Schwager im Schloss befand, zum anderen hatte er bislang noch nie mehr als einen Satz an sie gerichtet, und das auch nur, wenn Johannes anwesend war. Sie nickte und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, einzutreten und sich zu setzen.

Gerold stakste ins Zimmer. Mit ruckartigen Kopfbewegungen schaute er sich in ihrem neuen Gemach um, taxierte das Himmelbett, die französische Kommode, den Schminkspiegel und den hochflorigen Orientteppich unter seinen Füßen. Der Mann ähnelte immer mehr einer zerzausten Krähe, die auf der Suche nach einem Nest voller Eier war, um es auszuräubern. Zuletzt blieb sein Blick an ihrem gerundeten Leib hängen. Unwillkürlich legte Bernhardine die Hand auf ihren Bauch, und Gerolds Augen wurden für einen Moment schmal. Er schenkte ihr ein Lächeln, das sie in seiner religiösen Intensität an ein Fresko des heiligen Stephanus erinnerte, auf dem der Märtyrer mit dem gleichen verzückten Gesichtsausdruck abgebildet war, bevor ihn die Schergen steinigten. Sie hoffte, ihr Schwager würde die Unterredung kurz halten. Sie war müde, ihre Beine geschwollen und das Gewand um ihre Taille schon wieder zu eng geworden. Es zwickte unerträglich.

Gerold setzte sich mit einem Ächzen auf einen gepolsterten Stuhl und streckte die Beine von sich. Er faltete die Hände über seinem Bauch und ließ die Daumen kreisen.

Am liebsten hätte Bernhardine den hässlichen Vogel vor ihr an seinen mageren Schultern gepackt und heftig geschüttelt. Denn seit ein paar Wochen fiel es ihr immer schwerer, Geduld für die Dinge und Menschen um sich herum aufzubringen. Und auch jetzt ergriff sie eine kribbelnde Nervosität, die zu unterdrücken ihr nur mit Mühe gelang.

»Nun, verehrter Beau-Frère, was beschert mir die Ehre Eures Besuches?«

Gerold rutschte bis ganz nach vorn an die Stuhlkante und senkte den Kopf. Sein schwarzes Haar war ungepflegt. Es hätte Bernhardine nicht verwundert, Flöhe und Läuse darin zu entdecken. Ihr wurde flau im Magen. Plötzlich hob ihr Schwager blitzschnell den Kopf, beugte sich vor, riss seine Augen auf, bis nur noch die rotgeäderte Iris zu sehen war, und zischte ein paar Worte in einer fremden Sprache. Dabei presste er seine klauenartige Hand auf ihren Bauch. Der Spuk dauerte nur ein paar Augenblicke. Danach setzte Gerold sich wieder aufrecht hin, schlug die Beine übereinander und sagte beiläufig: »Hoffentlich wird es ein Junge, Madame. Sie wissen, wie sehr sich mein geliebter Bruder einen Erben wünscht.«

Bernhardine war zu perplex, um eine intelligente Antwort geben zu können. Sie starrte ihren Schwager mit offenem Mund an. Was zum Henker hatte das eben zu bedeuten gehabt? Ihr blieb jedoch keine Zeit, Gerold nach seinem ungewöhnlichen Gebaren zu befragen, denn schon erhob sich dieser und wünschte ihr eine angenehme Nachtruhe. Das ungeborene Kind in ihrem Leib fing unvermittelt an, heftig zu treten, so dass es Bernhardine angst und bange wurde.

Sie hatte schon von Magie und Verwünschungen gelesen. Und manchmal ertappte sie Marie dabei, wie diese murmelnd durch die Räume schlich und dabei Gegenstände berührte. Angeblich, um diese milde zu stimmen, damit sie den Bewohnern Schutz vor dem Bösen böten. So ein Humbug! Doch Gerolds Zwischenspiel hatte rein gar nichts mit Maries harmlosen Sprüchen zu tun gehabt. Seine Worte waren, und das hatte Bernhardine gespürt, voller Hass gewesen. Sie strich sanft über ihren kugeligen Bauch und summte dabei ein Lied, um das Kind zu beruhigen. Was hatte sie ihrem Schwager bloß getan? Genauso wenig, wie sie an Maries Gemurmel und Getue glaubte, glaubte sie an Hexen, Dämonen und Zauberei. Das war tiefstes Mittelalter und fußte nur auf dem Aberglauben ungebildeter Menschen. Dennoch würde es sicher nicht schaden, morgen in der Schlosskapelle eine Kerze anzuzünden und ein zusätzliches Vaterunser zu beten. Ob sie Johannes davon erzählen sollte? Besser nicht. Ihr Gatte wurde unleidlich, sobald sie sich über Gerolds Benehmen ihr gegenüber beklagte. Man müsse Verständnis zeigen, knurrte er immer, sein Bruder hätte es in seinem Leben nicht leicht gehabt.

Désirée klatschte in die Hände und riss Bernhardine aus ihren Überlegungen. Sie betrachtete die Kleine, die mit ihrer Puppe in einer Sprache redete, die vermutlich nur andere Kinder oder Engel verstehen konnten.

Das letzte Drittel ihrer ersten Schwangerschaft war schwer gewesen. Bernhardine hatte oft geblutet und daher viel liegen müssen. Manchmal hatte sie sogar befürchtet, das Kind zu verlieren. Nur ein Mädchen! So hatte sie den Ausdruck, der in Johannes’ Augen gestanden hatte, gedeutet, als er den schrumpeligen Wurm nach der Geburt zu Gesicht bekommen hatte.

Bernhardine seufzte und zupfte an ihrer Perücke herum. Ihr Gatte verhielt sich nicht herzlos ihr gegenüber, meist versuchte er sogar, ihre Wünsche zu erfüllen, aber er behandelte sie auch nicht wie eine Gefährtin, sondern eher wie ein französisches Möbelstück: schön anzusehen, aber für den täglichen Gebrauch ungeeignet.

Ihr Gatte war in den vergangenen Jahren enorm in die Breite gegangen; ständig waren die Näherinnen damit beschäftigt, seine Kleider umzuarbeiten. Und der Stallmeister hatte eigens einen kräftigen Warmblüter anschaffen müssen, weil er befürchtete, Johannes würde sonst alle Pferde zuschanden reiten. Der Schlossherr litt tagelang unter dem Zipperlein und war dann unausstehlich. Auch sprach er dem Wein zumeist mehr zu, als ihm guttat.

Bernhardine betrachtete lächelnd ihren Nachwuchs. Nach Désirée waren die Zwillinge gekommen, über die sich Johannes weit mehr gefreut hatte als über seine Tochter. Mit einem dreitägigen Fest hatte er deren Geburt gefeiert. Doch obwohl Bernhardine ihre Kinder über alles liebte, verlangte es sie auch nach gleichaltriger Gesellschaft, nach Abwechslung und höfischem Flair. Ihre Cousine Constanze, die seit einem halben Jahr am österreichischen Hof lebte, hatte ihr kürzlich in einem Brief vorgeschwärmt, wie kultiviert es in Wien unter Kaiserin Maria Theresia zuging. Wie prunkvoll die Bälle waren, wie exzellent die Roben der Damen und wie stattlich die Offiziere in ihren schmucken Uniformen. Bernhardine seufzte und griff nach dem Stickrahmen. Nachdenklich betrachtete sie die Rosenranken auf dem zarten Leinen. Sticken und beten. Das war ihre tägliche Beschäftigung. In einem Anflug von Widerwillen warf sie die Handarbeit gegen die Wand. Désirée schreckte zusammen, und ihre Mundwinkel begannen zu zittern. Bernhardine stand schnell auf und kniete sich vor ihre Tochter hin.

»Sch … sch … Chérie. Mama wollte dich nicht erschrecken«, schmeichelte sie. »Schau nur, wie hübsch deine poupée ist!« Sie griff nach dem Püppchen, das Désirées Händen entglitten war, und schwenkte es vor den Augen ihrer Tochter hin und her. Diese lachte hell auf und griff mit ihren dicken Patschhändchen nach dem Spielzeug. Sie drückte es an sich und schmiegte ihre Wange daran. Bernhardine lächelte. Désirée hatte die roten Locken und die grünen Augen von ihr geerbt, den Körperbau aber von ihrem Vater. Sie würde später vermutlich, genau wie Johannes, zu Übergewicht neigen. Bei den Zwillingen war noch nicht klar, ob sie mehr nach den von Hallwyls oder den von Diesbachs kamen. Aber das spielte auch keine Rolle; sie waren Männer, bei ihnen zählten allein Herkunft und Vermögen.

Bernhardine trat erneut ans Fenster und blickte auf den Park hinaus. Der einarmige Stalljunge sammelte Eicheln. Normalerweise wurden diese an die Schweine verfüttert, doch Marie hatte ihr erzählt, dass die Bauersleute die Früchte auch zur Mehlherstellung verwendeten. Bernhardine schüttelte den Kopf. Auf was für Ideen die Leute hier kamen!

Ein Klopfen unterbrach sie in ihren Betrachtungen. Nach der Aufforderung einzutreten steckte Marie den Kopf durch den Türspalt. Désirées Augen leuchteten auf, als sie die Kinderfrau bemerkte. Sie streckte ihre Ärmchen nach ihr aus, und Bernhardine fühlte einen Stich der Eifersucht, der aber rasch verging, weil ein ankommender Reiter ihr Interesse weckte.

»Nimm die Kleine ruhig mit, Marie«, sagte sie. »Und später hole auch die Knaben und bringe sie zu der jungen Amme! Sie werden hungrig sein.«

Marie nickte und hob Désirée von der Chaiselongue hoch.

»Wollen wir in die Küche, Dédée«, gurrte sie zärtlich, »und dort einmal sehen, ob die Frau einen süßen Brei für das Schätzchen hat?«

Bernhardine blickte erneut aus dem Fenster und auf den Reiter, der auf einem schweißglänzenden Rappen in den Burghof geritten kam. Der Fremde trug einen burgunderfarbenen Reitmantel, eine dunkelbraune Hose und schwarze, bis über die Knie reichende Stiefel. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, da er einen Dreispitz auf dem Kopf hatte, der mit einer weißen Feder geschmückt war.

Was für eine ungewöhnliche Erscheinung! Die Satteltaschen seines Pferdes waren prall gefüllt; eine hölzerne Konstruktion baumelte auf einer Seite. Bernhardine kniff die Augen zusammen. War das etwa eine Staffelei? Sie schnappte nach Luft. Das würde doch nicht etwa der holländische Maler sein? Sie hatte Johannes schon seit Monaten darum gebeten, von ihnen allen Porträts malen zu lassen. Das Bild seiner ersten Frau Viktoria hing immer noch an prominentester Stelle in der Ahnengalerie und war ihr jedes Mal, wenn sie daran vorbeiging, ein Dorn im Auge. Sie war schließlich diejenige, die Johannes die sehnlich erwarteten Erben geschenkt hatte. Deshalb gebührte ihrem Konterfei auch der beste Platz! Doch ihr Gemahl hatte ihren Wunsch stets damit abgetan, sich keinen Maler leisten zu können. Schon gar keinen holländischen, dem er nebst der Arbeit auch noch Anreise und Unterkunft zahlen musste. Ob es denn nicht auch einer aus der Eidgenossenschaft täte? Aber Bernhardine hatte darauf bestanden, einen Meister aus Antwerpen zu beauftragen. Hatten ihre ständigen Bitten endlich Früchte getragen?

Sie befeuchtete ihre Lippen und strich sich das Tageskleid glatt. Ein Gast, wie aufregend! Vor allem jetzt, da sich das Jahr dem Ende zuneigte und bald der Winter Einzug halten würde. Die Jahreszeit, die sie am meisten verabscheute. Mit ihren grauen Tagen, an denen die Sonne es kaum schaffte, durch die wabernden Nebel zu dringen. Und den endlosen Nächten, in denen sie neben einem Greis wach lag und sich nichts sehnlicher wünschte, als von liebenden Armen umfangen zu werden.

Eine Gänsehaut lief Bernhardine über den Rücken. Sie schüttelte sich, eilte in ihr Ankleidezimmer hinüber und riss die Schranktür auf. Was für eine Toilette sollte sie heute Abend bloß tragen?

Die Frau in Rot: Roman
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