7
Seengen, 2010
Die Konzertbesucher strömten aus dem geöffneten Schlosstor. Die meisten hatten ein Lächeln auf dem Gesicht und unterhielten sich angeregt über die Vorstellung. Als der Fluss ins Stocken geriet und etwas Gelbes im Durchgang sichtbar wurde, stieß Anouk Max mit dem Ellbogen an und wies mit dem Kopf zum Eingang hinüber. Max riss die Augen auf und fing an zu husten. Anouk bahnte sich einen Weg zu ihrer Großtante.
»Da bist du ja, Liebes!«, rief Valerie gut gelaunt und spielte mit ihrem Fächer. »War das Konzert nicht atemberaubend?«
Anouk wollte schon etwas erwidern, ließ es aber und nickte nur.
»Schau mal, wer letztendlich doch noch gekommen ist!«
Max beugte sich über Valeries Hand und deutete einen Handkuss an. »Madame, Sie sehen heute wieder formidable aus.«
Anouks Großtante kicherte geschmeichelt. »Sie alter Schwerenöter«, gurrte sie.
Sie drehte sich um die eigene Achse, und ihre Augen leuchteten plötzlich, als sie jemanden in der Menschenmenge entdeckte. Sie hob die Hand und winkte. Ein hochgewachsener, braungebrannter Herr mit silbernem Haar kämpfte sich durch die Konzertbesucher hindurch auf sie zu.
Anouk erinnerte sich vage an ihn. Es handelte sich um einen von Valeries Bekannten, dessen Namen sie jedoch vergessen hatte.
»Valerie, schön, dich zu sehen.« Der Herr hauchte ihrer Großtante einen Kuss auf die Wange. Als er sich wieder aufrichtete, streifte sein Blick Anouk. Die spürte ein Kribbeln im Nacken und schlug nach dem vermeintlichen Insekt. »Was für ein entzückendes Kostüm!«, rief der Mann begeistert. Er griff nach dem Kleid ihrer Großtante und prüfte den Stoff zwischen seinen Fingern. »Ist das ein Original?«
»Also bitte, Herbert«, schnaubte Valerie und riss ihm das Gewebe aus der Hand. »Als Nächstes schnüffelst du noch daran.« Der Gerügte lachte schallend und zeigte dabei ein strahlendes Gebiss, das zu weiß und zu regelmäßig war, um noch sein eigenes zu sein. »Darf ich dir Doktor Sandmeier vorstellen, meinen Hausarzt?« Und an Max gewandt: »Dieser stattliche Mann hier ist ein Jugendfreund von mir. Professor Herbert Rufli. Er beschäftigt sich …«, sie brach ab und runzelte nachdenklich die Stirn. »Womit beschäftigst du dich eigentlich? Ach, egal.« Danach schob sie Anouk in sein Blickfeld. »Und meine Großnichte kennst du ja sicher noch. Sie und ihre Schwester haben dich früher immer Herr Adebar genannt. Weißt du noch?«
Anouk erinnerte sich jetzt wieder an den Professor, den Kurator aus dem Seetal. Sie lächelte zu ihm hoch und gab ihm die Hand. Ebenso Max, der ihn gleich in ein Gespräch über eine geplante Bilderausstellung im Schloss verwickelte.
»Immer noch ein schöner Mann, nicht wahr?«, flüsterte Valerie, hakte sich bei Anouk ein und sah den beiden Männern nach, die sich Richtung Wassergraben entfernten. »Schade, dass seine Frau noch lebt. Ansonsten …« Sie wiegte den Kopf hin und her und schnalzte mit der Zunge.
Anouk hob amüsiert die Augenbrauen. Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Großtante noch romantische Gefühle für einen Mann hegte. Doch bei dem Gedanken, wie sie und der Kurator … Nein, sie schüttelte sich, so weit wollte sie ihrer Fantasie lieber keinen freien Lauf lassen.
Du warst in deinem Geist gewiss,
sie nicht auf ewig zu verlieren.
Gott würde sie im Paradies
dir wieder wissen zuzuführen.
Anouks Magen rebellierte, und ein bitterer Geschmack stieg ihr die Kehle hinauf. Sie begann zu würgen, beinahe hätte sie sich erbrochen. Sie packte Valeries Arm.
»Was für Verse sind denn das nun wieder? Wieso redest du ständig in Rätseln?«, zischte sie. Die Umstehenden wandten die Köpfe. »Ich finde das nicht komisch, Tati. Echt nicht!«
»Aua! Lass meinen Arm los, Anouk! Du tust mir weh.« Ihre Großtante verzog den Mund. »Es ist doch nichts dabei, wenn ich Herbert attraktiv finde.« Sie riss sich von Anouk los und rieb sich den Unterarm. »Mein Gott, gerade von dir hätte ich etwas mehr Verständnis erwartet. Heutzutage ist man doch nicht mehr so prüde.«
Valerie schüttelte missbilligend den Kopf.
»Das meinte ich doch gar nicht«, fauchte Anouk, »ich meinte die Verse.« Ihre Stimme zitterte. »Diese verdammten Verse!«
»Achte auf deine Wortwahl, mein Fräulein«, erwiderte ihre Großtante tadelnd. »Eine Dame flucht nicht! Des Weiteren habe ich keine Ahnung, wovon du überhaupt sprichst.«
Anouk sah sie entgeistert an. Ihrer Großtante war also auch dieses Mal nicht aufgefallen, dass sie in Reimen gesprochen hatte? Was ging hier vor? Und wieso war Max nicht da? Es war zum Verrücktwerden! Er hatte an ihrem Bericht über die Stimmen gezweifelt, das hatte sie deutlich gemerkt, jetzt hätte er sich selbst von der Wahrheit ihrer Worte überzeugen können. Oder war sie etwa die Einzige, die diese Verse hörte? Ihr schwindelte bei diesem Gedanken. Wenn ja, bedeutete das, dass sie tatsächlich geistesgestört war.
Sie ließ ihre Großtante einfach stehen und schlängelte sich durch die Konzertbesucher bis zum Wassergraben. Weiter vorne entdeckte sie das silberne Haupt des Kurators, neben ihm stand Max. Die beiden diskutierten angeregt und hielten jeder ein Glas Weißwein in der Hand.
»Ich muss dich sprechen«, flüsterte Anouk ihm eindringlich zu, als sie sich zu den Männern durchgekämpft hatte. Sie nahm dem verblüfften Max das Glas aus der Hand und reichte es Professor Rufli. »Meine Großtante hat Durst.« Dann zog sie Max am Ärmel durch die Menschenmenge. Unter den Eichen blieb sie stehen und ließ ihn los. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst, energisch strich sie sie hinters Ohr.
»Ich mag selbstbewusste Frauen ja durchaus«, sagte Max lächelnd, »aber was sollte das eben?«
»Es ist schon wieder passiert!«
Max riss die Augen auf. »Du hast eine weitere Gestalt gesehen?«
Anouk schüttelte den Kopf. »Nein, aber weitere Verse gehört. Irgendetwas vom Paradies und vom Vereinen. Tati Valerie hat sie rezitiert, aber sie konnte sich danach wieder nicht daran erinnern.« Hinter Anouks Stirn pochte es heftig, und sie befühlte ihre Narbe. »Vielleicht werde ich wirklich noch verrückt, denn ich bin mir nicht mehr sicher, ob es diese Stimmen tatsächlich gibt oder ob sie nur in meinem Kopf existieren.«
Max atmete tief durch und sagte erst einmal kein Wort. Die Gäste drängten sich um den Getränkestand neben der Steinbrücke, tranken Wein, unterhielten sich übers Konzert und genossen den Sommerabend. Überall sah man lächelnde Gesichter, hörte das Zirpen der Grillen und leises Gläserklirren.
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, brach Max endlich das Schweigen und hob die Schultern. »Wenn dich das Ganze so beunruhigt, solltest du dich genauer untersuchen lassen. Ich kann dir die Adresse eines guten Neurologen geben. Aber lass uns doch erst mal analysieren, ob es nicht noch eine andere Begründung für diese … Phänomene gibt, bevor du gleich an Wahnvorstellungen denkst.«
Anouk zog eine Augenbraue hoch. »Ach, ja? An was für eine Art von Phänomenen hast du denn gedacht? Vielleicht an solche wie in Das Omen, Der Exorzist oder The Sixth Sense?«
Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. Aber was hatte sie auch erwartet? Etwa, dass der gute Landarzt ihr ein Rezept ausstellen und danach alles wieder in Ordnung sein würde? Oder er ihr zumindest eine einfache logische Erklärung liefern könnte? Wie naiv sie doch gewesen war. Wie hätte er als Mediziner auch anders reagieren sollen, als sie auf vorsichtige, nette Weise an einen Spezialisten zu verweisen? Dennoch fühlte sich Anouk verletzt und konnte ihre Enttäuschung über Max’ Zweifel kaum verbergen.
Max’ Augen waren schmal geworden. »Ich bin zwar nicht besonders bewandert in der Parapsychologie, aber manchmal gibt es Dinge, die wir rational denkenden Menschen uns einfach nicht erklären können. Meine Mutter hat …«
»Schwachsinn!«, unterbrach ihn Anouk, deren Enttäuschung sich in Wut verwandelt hatte. »Du willst doch wohl nicht allen Ernstes behaupten, dass mir ein Geist eine Botschaft überbringen will? In Reimform? Möglicherweise eine tote Dichterin, die posthum nach Ruhm und Ehre lechzt?«
Max zuckte mit den Schultern. »Könnte ja sein.«
Anouk lachte lauthals auf. »Nett, dann soll sie sich gefälligst ein anderes Medium suchen. Ich habe keinen Bock auf so einen Quatsch!«
Max betrachtete sie mit gerunzelter Stirn und vergrub dann seine Hände in den Hosentaschen.
»Möchtest du jetzt noch den Rechen kontrollieren?«, fragte er beiläufig und blickte zum Wehr hinüber.
Anouk schüttelte den Kopf. »Nein, keine Lust mehr. Ich will etwas trinken, meine Großtante nach Hause verfrachten und den ganzen Mist vergessen.«
Mit diesen Worten ließ sie Max unter den Eichen stehen und drängte sich durch die Menge hindurch zum Getränkestand vor. Die bösen Blicke der Wartenden ignorierte sie, verlangte zwei Gläser Wein und stürzte sie nacheinander hinunter. Geister, so ein Schwachsinn!
Max sah Anouk verblüfft hinterher und beobachtete, wie sie die Konzertbesucher zur Seite schubste, als wäre sie auf dem Weg zu einem Touchdown. Stimmungsschwankungen und plötzliche Aggressivität waren ebenfalls Symptome eines Unfalltraumas, hatte er gelesen. Doch womöglich war Anouk auch nur besonders temperamentvoll, und er interpretierte zu viel in ihre Reaktionen hinein. Die zweite Möglichkeit gefiel ihm bedeutend besser, denn die erste implizierte, dass sie ein ernsthaftes Problem hatte, das behandelt werden musste.
Welcher Teufel hatte ihn bloß geritten, Anouk zu küssen? Obwohl die Initiative von ihr ausgegangen war, hatte er sich nicht dagegen gewehrt. Ganz im Gegenteil – war ihm doch schon seit längerem klar, dass er sich Hals über Kopf in Valeries Großnichte verliebt hatte, eine Beziehung zwischen ihnen aber wohl scheitern und ihm mit größter Sicherheit das Herz brechen würde.
»Verdammt, Max«, murmelte er vor sich hin, als er zu seinem Wagen ging, »du hattest schon immer das Talent, dich in Schwierigkeiten zu bringen.«
Die Heimfahrt verlief ohne Zwischenfall. Valerie setzte sich wieder auf die vergrößerte Ladefläche, zupfte an ihrer Perücke herum und summte ein Lied. Anouk konzentrierte sich aufs Fahren und versuchte, die aufkommende Panik durch ruhiges Atmen unter Kontrolle zu bringen. Dabei leisteten die zwei Gläser Wein keinen unerheblichen Beitrag. Sie traute sich sogar, einen schleichenden Wagen zu überholen. Nachdem sie ihrer Großtante beim Ausziehen des gelben Kostüms geholfen hatte, genehmigte sie sich noch einen Schluck Amaretto. Danach setzte sie sich auf die Veranda, entledigte sich ihrer unbequemen Stöckelschuhe und zündete sich eine Zigarette an.
Die Nachtluft war angenehm warm, gleichwohl kuschelte sich Anouk in die Decke, die auf der Bank bereitlag, zog die Füße an und betrachtete den Vollmond. Die Ereignisse im Schloss begannen zu verblassen, je mehr sie sich von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit einverleibte. Plötzlich fand sie das Ganze sogar komisch. Julia hätte sich köstlich darüber amüsiert.
Anouk zuckte zusammen, und der Amaretto schwappte auf die karierte Decke. Geist? Botschaft? Ob ihre Freundin etwa …? Anouk keuchte. Natürlich! Julia wollte ihr mit der Erscheinung etwas mitteilen. Etwas über den Unfall, über Anouks Schuld? Vielleicht irrte Julias Seele ja in einer Art Zwischenreich umher und konnte erst zur Ruhe kommen, wenn sie, Anouk, Sühne geleistet hatte. Doch wie sollte sie das anstellen? Sollte sie ihr Leben den Bedürftigen und Armen widmen? Nach Afrika gehen und missionieren? Der Alkohol stieg ihr bitter die Kehle hoch. Oder hatte ihr die Erscheinung bereits den entscheidenden Hinweis gegeben, und sie hatte ihn nur nicht deuten können? So musste es sein! Die Verse und die Frau auf den Zinnen waren Botschaften aus dem Jenseits! Max hatte recht gehabt mit seiner kurz zuvor geäußerten Vermutung. Und sie hatte ihn deswegen wütend abgekanzelt.
Anouk bekam eine Gänsehaut. Die Schatten unter den Birken schienen auf einmal zu wachsen und näher zu kommen. Die Zweige der Forsythien sahen plötzlich wie Skelettfinger aus, die sich bedrohlich nach ihr ausstreckten. Eine Maus lief über die Veranda, und Anouk schrie erschrocken auf. Sie strampelte die Decke von den Beinen, hastete ins Haus und verriegelte mit zitternden Händen die Haustür. Dann stürzte sie die Treppe hoch, zog sich das Kleid über den Kopf und warf es in eine Ecke. Bevor sie unter die Bettdecke schlüpfte, schluckte sie zwei Schlaftabletten. Kurz dachte sie noch an die Frau im roten Kleid. Ob das tatsächlich Julia gewesen war? Dann verschwammen die Bilder zu einem einzigen farbigen Gemenge, und sie schlief ein.
Irgendwo im Haus fiel eine Tür ins Schloss. Anouk schreckte aus dem Schlaf. Durch die Vorhänge drang Sonnenlicht herein, ein Trecker fuhr rumpelnd am Haus vorbei, und vom Wohnzimmer drang Klaviermusik nach oben.
Anouk rieb sich die Augen. Sie fühlte sich völlig zerschlagen, so als hätte sie die ganze Nacht über Kohlesäcke geschleppt. Als sie die Beine aus dem Bett schwang, wurde ihr schwindlig. Tabletten und Alkohol waren noch nie eine gute Mischung gewesen.
Sie trat ans Fenster und zog die Gardinen zur Seite. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein, so dass sie ihre Augen hastig mit der Hand beschirmte und sich abwandte. Geister und Botschaften? Absurd! Im hellen Tageslicht verloren die Ereignisse des gestrigen Tages ihren Schrecken. Anouk fuhr sich mit den Fingern durch die zerzausten Locken, steckte sie mit einem Kamm nach oben und ging die Treppe hinunter. Es war bereits nach zehn Uhr. Sie hatte gründlich verschlafen.
»Ich liebe die Malerei! Als junges Mädchen war es immer mein Traum, eine Akademie zu besuchen. Leider waren wir nicht vermögend genug, um … Ach, Liebes, schön, dass du da bist. Darf ich dir den Maler Gustav van der Hulst vorstellen? Ein wahrer Künstler!«
Valerie saß am Küchentisch, ihr gegenüber ein junger Mann mit rötlichen, etwas zotteligen Haaren und einer monströsen Pilotenbrille. Seine Kleidung war abgetragen und teilweise zerrissen. Als Anouk eintrat, sprang er auf, als hätte ihn jemand in den Hintern gestochen.
»Erfreut, Sie kennenzulernen.«
Sein Akzent deutete auf einen Franzosen oder Belgier hin. Wen zum Teufel hatte ihre Großtante da nun wieder aufgegabelt?
Tati Valerie hatte ein Faible für Straßenkünstler, die sie regelmäßig in ihr Haus einlud, um sie zu verköstigen. Ein paar dieser Gäste hatten in der Vergangenheit ihre Großzügigkeit jedoch dazu missbraucht, Geld, wertvolle Gegenstände und sogar Kleider mitgehen zu lassen. Anouk bedachte den Fremden daher mit einem prüfenden Blick. Aber der Mann schien ihr weder ein Dieb noch ein psychotischer Axtmörder zu sein; deshalb nickte sie ihm zu und holte sich einen Orangensaft aus dem Kühlschrank.
»Monsieur van der Hulst war ein Schüler der ›Königlichen Akademie der Wissenschaften und Schönen Künste‹ in Brüssel«, erklärte Valerie voller Stolz, als spräche sie von ihrem Enkel, der gerade promoviert hatte.
»Tatsächlich? Wie aufregend!«, erwiderte Anouk, warf dem Künstler einen spöttischen Blick zu und setzte sich an den Küchentisch.
»Ich traf ihn beim Bäcker«, fuhr ihre Großtante fort, ohne auf ihre ironische Bemerkung einzugehen, »er ist auf der Durchreise in den Süden. Nach Mailand, nicht wahr?« Der Maler nickte. »Wir kamen überein, dass er eine Weile hierbleiben und mich in dem gelben Kleid porträtieren soll.«
Anouk verschluckte sich und begann zu husten. »Wie bitte?«, keuchte sie.
Valerie runzelte die Stirn. »Spricht vielleicht etwas dagegen, Liebes?«
Anouk öffnete den Mund, schüttelte dann aber nur stumm den Kopf. Sie war noch nicht wach genug, um sich mit ihrer Großtante anzulegen, nahm sich aber vor, später ein ernstes Wort mit ihr zu reden.
»Übrigens kommt Doktor Sandmeier in einer halben Stunde vorbei. Er hat vorhin angerufen; ich wollte dich aber nicht wecken.«
Ihre Großtante zwinkerte ihr schelmisch zu, während Anouk unwillkürlich errötete. Der Kuss! War das wirklich erst gestern Abend gewesen? Es schien ihr bereits eine Ewigkeit her zu sein. Doch allein wenn sie nur daran dachte, spürte sie schon ein warmes Kribbeln in den Fingerspitzen. Fast hätte sie laut aufgeseufzt, schalt sich aber sogleich eine Närrin. Was war schon ein Kuss? Der hatte nichts zu bedeuten und würde bald vergessen sein – sowohl von ihr als auch von ihm. »Nein«, korrigierte sie sich leise, »damit belügst du dich nur selbst. Dazu bedeutet dir Max einfach zu viel.« Dennoch war sie überzeugt, dass es für sie in ihrer derzeitigen Verfassung besser war, die Sache zwischen ihnen zu beenden, bevor sie richtig begonnen hatte.
Mit einem Ruck erhob sie sich. Beim Verlassen der Küche hörte sie ihre Tante sagen: »Vielleicht nehmen Sie aber besser eine andere Farbe. Gelb macht mich so blass. Ein Rot wäre doch hübsch.«
Anouk schüttelte den Kopf und stieß die Luft aus. Es wurde langsam schlimm mit ihrer Großtante. Was wohl als Nächstes käme?
»Hör mal, Max …«
Sie saßen auf der Veranda und tranken Valeries selbst gemachte Limonade, die süß und klebrig war. Anouk stellte ihr Glas auf das Rattantischchen zurück.
»Es tut mir leid, aber ich denke, wir sollten das, was gestern passiert ist, vergessen.«
Max beobachtete sie über den Rand seines Glases hinweg. Er hatte nur einmal von der Limonade gekostet. Anscheinend konnte er ihr ebenfalls nichts abgewinnen.
»Du meinst den Kuss?«, fragte er.
»Nein, Roger Federers Ausscheiden in Wimbledon.« Anouk verdrehte die Augen. »Natürlich meine ich den Kuss!«
Max zog einen Mundwinkel nach oben. »Und wieso sollten wir das tun?«
Anouk verschränkte die Arme vor der Brust. »Mein Leben ist im Moment schon kompliziert genug«, sagte sie seufzend. »Ich denke, es ist keine gute Idee, wenn ich … wenn wir …« Sie brach ab und presste die Lippen aufeinander.
»Verstehe«, sagte Max, »du willst mir damit sagen, dass das Topmodel keine Lust hat, sich mit einem einfachen Dorfarzt einzulassen. Schließlich wird es irgendwann sein früheres Leben wieder aufnehmen, und dabei wäre er ihr nur im Weg. Habe ich recht?«
Anouk schnaubte. »Das habe ich nicht gesagt«, meinte sie, musste sich aber eingestehen, dass ein Körnchen Wahrheit in seinen Worten steckte. »Es ist nur … Ach, vergiss es einfach!«
»Okay.« Max stand auf und sah auf seine Armbanduhr. »Vergessen wir’s!«
Anouk schaute verblüfft zu ihm hoch. Sie hatte sich auf ein längeres, unerfreuliches Gespräch eingestellt und war deshalb reichlich überrascht, dass er widerstandslos einlenkte. Sie war beinahe enttäuscht. So schnell gab er also auf? Demzufolge hatte ihm der Kuss nicht viel bedeutet. Aber gut, auf diese Weise war es einfacher für sie beide.
Max ging die Verandastufen hinab. »Ach, bevor ich es vergesse.« Er drehte sich um und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. »Ich habe leider keinen Ersatz für Susanne gefunden. Daher möchte ich dich noch mal darum bitten, für sie einzuspringen. Die anderen verlassen sich auf mich. Und wenn ich Susannes Part nicht besetzen kann, müssen wir das Stück absagen.«
Anouk betrachtete Max’ braungebrannte Unterarme. Sie waren muskulös, als ob er regelmäßig Tennis spielen würde. Aber vielleicht tat er das ja auch. Sie wusste so wenig über ihn und würde vermutlich auch nicht mehr über ihn erfahren, so, wie sie ihn gerade behandelt hatte. Der Gedanke daran schnürte ihr unvermittelt die Kehle zu. Sie wusste, dass sie ihm Unrecht tat, weil sie unentschlossen war und mit ihrer gesamten Situation nicht mehr zurechtkam. Mit Julias Unfall, den Stimmen und Erscheinungen und ihren Gefühlen für ihn. Max war stets hilfsbereit, behandelte Valerie trotz ihrer Krankheit mit Respekt und brachte ihr ehrliche Freundschaft entgegen. Immer hatte er ein offenes Ohr für die Anliegen der Morlot-Frauen. War es daher nicht recht und billig, dass sie auch einmal etwas für ihn tat? Ihm seinen Wunsch nicht abschlug und wenigstens versuchte, auf rein freundschaftlicher Basis mit ihm umzugehen?
»Gib deinem Herzen einen Stoß, Anouk!«, unterbrach er sie in ihren Gedanken und schaute sie dabei hoffnungsvoll an.
Sie zog die Nase kraus und kämpfte mit sich und ihrem schlechten Gewissen. Durch das Wohnzimmerfenster hindurch sah sie ihre Großtante, die mit dem ihr zugelaufenen Künstler debattierte. In einer Ecke stand eine Staffelei, daneben ein kleiner Tisch, der mit einem Wachstuch abgedeckt und mit Farbtuben übersät war. So schnell würde der Belgier sie vermutlich nicht verlassen. Und vielleicht wäre das Theaterspielen ja auch eine ganz nette Abwechslung für sie.
»Ach, was soll’s. Also gut, ich mach’s.«
Max strahlte. Mit zwei Schritten war er bei ihr und umarmte sie stürmisch.
»Danke«, sagte er, »dann hole ich dich also um sechs Uhr ab.« Er ließ sie los und lief zu seinem Wagen. »Du wirst es nicht bereuen!«, rief er noch über die Schulter, stieg ein und fuhr davon.
»Hoffentlich«, murmelte Anouk, griff nach der Limonade und tränkte damit die Geranien neben der Treppe.
Fröhlich pfeifend bog Max auf die Hauptstraße ein und fuhr Richtung Meisterschwanden davon. Gott sei Dank hatte Anouk sich erweichen lassen, Susannes Rolle doch noch zu übernehmen. Das Theaterstück lag allen am Herzen, und nicht nur die Schauspieler wären enttäuscht gewesen, wenn sie es hätten absagen müssen. Doch das war nicht der einzige Grund, weshalb er so gut gelaunt war. Obwohl Anouk ihn gebeten hatte, ihren Kuss am besten so schnell wie möglich zu vergessen, glaubte Max ihr nicht. Zu sehr hatte sie sich über sein schnelles Einlenken gewundert. Max wusste nicht viel über Frauen, aber dass sie manchmal etwas anderes sagten, als sie in Wirklichkeit meinten, hatte er schon des Öfteren erfahren. Und da ihm die kommenden Proben nun die Möglichkeit geben würden, weiterhin Zeit mit Anouk zu verbringen, nahm er sich vor, diesen kuriosen Umstand näher zu untersuchen. Ein Blick hinter die Fassade brachte nicht nur beim Theater gelegentlich neue Erkenntnisse. Und vielleicht fände er auf diese Weise auch gleich seine Herzdame, selbst wenn diese nur eine alte Magd spielte.
Die Sporthalle roch nach Magnesium, altem Schweiß und frisch gebohnertem Linoleum. Es befanden sich etwa zwanzig Leute verschiedenen Alters in dem Raum, als Anouk und Max kurz nach achtzehn Uhr eintraten. Die Laienschauspieler standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich angeregt. Als sie die Neuankömmlinge bemerkten, brachen die Gespräche abrupt ab. Anouk erkannte die Frau des Metzgers, die Bibliothekarin, die ihr einen eigentümlichen Blick zuwarf, und noch ein paar andere Leute aus dem Dorf.
»Hallo zusammen!«, rief Max und schob Anouk nach vorne. »Das ist Anouk Morlot, sie wird Susannes Rolle übernehmen. Somit sind wir wieder komplett und können durchstarten.«
Ein freudiges Gemurmel setzte ein. Die Anwesenden umringten Anouk wie eine Horde Wölfe ein vereinzeltes Schaf. Sie lächelte pflichtschuldig, schüttelte Hände und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Zwischen ihren schweißigen Fingern mutierte das Skript langsam zu einem feuchten Lappen. Sie steckte es daher kurzerhand in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
Auf der Fahrt zur Sporthalle hatte sie einen kurzen Blick hineingeworfen. Ihre Rolle hatte kaum Text, was sie ungemein erleichterte, aber sie musste bei einigen Szenen auf der Bühne präsent sein. Als schmückendes Beiwerk! Wieder mal.
Die Laienspielgruppe, so hatte ihr Max berichtet, war ein eingespieltes Team und studierte jedes Jahr ein neues Stück ein, das im Hof des Hallwyler Schlosses aufgeführt wurde. Die Einnahmen wurden der örtlichen Schule gespendet. Dieses Mal wurde ein unbekanntes Bühnenwerk eines ortsansässigen Autors aus dem achtzehnten Jahrhundert inszeniert. Die Sprache war dementsprechend altertümlich, die Kostüme aufwendig, und die Proben fanden dreimal wöchentlich statt.
»Okay, Leute, stellt euch bitte für die erste Szene auf.« Max trat hinter ein schwarzes Pult, das mit diversen Knöpfen und Reglern gespickt war und aus dessen Rückseite eine Unmenge farbiger Kabel herausquoll. Er setzte sich auf einen Klappstuhl, blätterte in seinen Aufzeichnungen und gab dem Beleuchter ein Handzeichen.
»Anouk, du bleibst auf der rechten Seite, sagst deinen Text und gehst danach zu Rolf hinüber.« Der Genannte, ein Mann in den Fünfzigern mit einem Schnurrbart wie ein Walross, winkte ihr lächelnd zu. Sie nickte und rief sich noch einmal ihre Zeilen in Erinnerung. »Alle bereit? Dann los!«
Die Deckenbeleuchtung erlosch, gleichzeitig flammte in der Halle ein heller Lichtkegel auf, in dessen Zentrum ein Paar stand, das sich in den Armen hielt. Die Bibliothekarin schaute mit verschleiertem Blick zu ihrem Partner Nick hoch. Anouk unterdrückte ein Kichern.
Liebste, du warst in deinem Geist gewiss,
mich nicht auf ewig zu verlieren.
Gott wird daher im Paradies
uns wieder wissen zuzuführen …
Anouk glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Verzweifelt schnappte sie mehrmals nach Luft und sackte dann zu Boden.
Schloss Hallwyl, 1746
»Bringe Er seinem Herrn noch mehr Wein!«
Der Diener verbeugte sich und eilte zur Tür hinaus. Bernhardine sah Johannes dabei zu, wie er das Essen in sich hineinschaufelte, und schüttelte sich. Wie konnte ein einzelner Mensch nur solche Unmengen vertilgen? Kein Wunder, dass ihn die verschiedensten Gebrechen plagten. Doch heute Abend sollte er ruhig völlern und sich betrinken. Das kam ihr nur zupass. Sie selbst hatte keinen Hunger und schob den gebratenen Kapaun lustlos auf dem Teller herum. In ihrem Magen ging es drunter und drüber. Sie war voller Unruhe, doch nach außen hin gab sie sich gelassen. Niemand durfte Verdacht schöpfen.
Ächzend öffnete sich die Tür zur Vorhalle. Der Meier verbeugte sich unbeholfen und drehte seine Mütze zwischen den Händen.
»Was will Er?«, knurrte Johannes und wischte sich mit dem Mundtuch über die fettigen Lippen.
»Herr, Euer hochwohlgeborener Herr Bruder ist angekommen und bittet um Unterkunft.«
Johannes rülpste. »Gerold?«, fragte er ungläubig. »Was will der denn hier?«
Bernhardine fiel die Gabel aus der Hand. Ihr Schwager? Das fehlte ihr gerade noch! Seit dem Vorfall in ihrem Zimmer, als sie mit Désirée schwanger gewesen war, ging sie ihm bewusst aus dem Weg. Und während der Schwangerschaft mit den Zwillingen hatte sie sich sogar vor ihm versteckt, wenn er Johannes besucht hatte.
Gerold war das pure Gegenteil ihres Gatten. Ein schmächtiges, fast schon asketisches, frömmelndes Männchen, das hinter jeder Lebensäußerung die Versuchung des Teufels vermutete. Ihr während seiner missionarischen Tiraden in den Ausschnitt zu starren, schien ihm aber keineswegs blasphemisch zu sein. Gerold lebte auf der Trostburg, nur einen Tagesritt von Schloss Hallwyl entfernt, ließ sich aber – dem Himmel sei Dank! – nur selten bei ihnen blicken. Er verbrachte seine Tage damit, in der Bibel zu lesen, den Einwohnern seiner Gemeinde mit feurigen Reden über die Hölle und die Verdammnis auf die Nerven zu fallen und das Geld seines älteren Bruders für gefälschte Heiligenreliquien auszugeben. Ein Eheweib hatte er sich nie genommen, er ließ sich, wie gemunkelt wurde, seine Gelüste aber dennoch gern von einer hübschen Küchenmagd befriedigen, die er, wenn er ihrer überdrüssig geworden war, mit Schimpf und Schande von der Burg jagte. Meist mit dem Vorwurf, sie sei ihm vom Teufel gesandt worden, um seine unsterbliche Seele zu verderben. Dass er seinen Verwandten gerade heute einen Besuch abstattete, kam Bernhardine äußerst ungelegen. Was, wenn er das Nachtmahl dazu benutzte, ihnen die Qualen des Fegefeuers darzulegen? Bernhardine war im reformierten Glauben erzogen worden. Aber das hinderte Gerold nicht daran, sein mittelalterlich religiöses Weltbild zu proklamieren. Er konnte stundenlang über das Partikulargericht schwafeln. Und wenn sich seine Zuhörer dann so sehr gruselten, dass sie kaum mehr wagten, im Dunklen den Abort aufzusuchen, blühte er erst so richtig auf. Ihr Schwager war nur glücklich, wenn er andere unglücklich machen konnte. Sie hoffte inniglich, der Ritt hätte ihn so sehr erschöpft, dass er sich bald zurückziehen würde.
»Er soll hereinkommen«, sagte Johannes zum Verwalter und erhob sich ächzend.
Gerold war, wenn das überhaupt möglich war, noch dünner geworden. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, sein Blick huschte unruhig hin und her. Er erinnerte Bernhardine immer mehr an eine alte, zerzauste Krähe. Seine stoppeligen Wangen waren eingefallen und zerfurcht, als wäre ein Pflug über sie hinweggefahren. Das schwarze Haar stand fettig und verfilzt vom Kopf ab. Er trug einen dicken Wollmantel. Die kniehohen Reitstiefel starrten vor Dreck. Bernhardine rümpfte die Nase. Wie immer gab Gerold nichts auf Putz, den er, wie alles, was mit dem äußeren Erscheinungsbild zu tun hatte, für Teufelswerk hielt.
»Geliebter Bruder, welche Freude!« Johannes ging mit offenen Armen auf ihn zu.
»Mon Frère«, erwiderte Gerold leutselig, verbeugte sich tief vor seinem Bruder und umarmte ihn anschließend. »Entschuldigt mein unangemeldetes Erscheinen. Ein böser Traum lockte mich von meiner Burg.«
Bernhardine zog eine Augenbraue hoch. Jetzt würde er bestimmt gleich anfangen, von der Verdammnis zu sprechen, doch Gerold blieb stumm und warf ihr nur einen prüfenden Blick zu. Sie errötete heftig. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Er konnte unmöglich etwas wissen. Das war reiner Zufall!
»Ah, ma Belle-Sœur.«
Er machte einen Kratzfuß, und Bernhardine neigte den Kopf. Sie griff nach ihrem Fächer. Obwohl es im Speisesaal eher klamm war, fächelte sie sich hastig Luft zu. Keiner sollte ihr Erröten falsch deuten.
»Gerold, welche Freude, Euch hier zu sehen«, erwiderte sie und wies mit der Hand auf einen Stuhl. »Nehmt doch Platz und leistet uns Gesellschaft! Habt Ihr schon gespeist?«
Er schüttelte den Kopf, setzte sich an die Längsseite des Tisches und schälte sich aus seinem Mantel.
»Zur Ehre des Herrn habe ich heute gefastet. Aber einem Glas Wein wäre ich nicht abgeneigt, da das Blut Christi den Gläubigen doch in Form der Früchte des Rebstockes dargereicht wird.«
Bernhardine holte tief Luft und wappnete sich innerlich gegen ein langes Abendmahl. Von fern drang das Läuten der Kirchenglocken an ihr Ohr. Sie zählte leise mit. Sieben Schläge. In drei Stunden wollte sie sich mit Cornelis treffen. Hoffentlich hätte ihr Schwager bis dahin seinen Sermon beendet.
»Dédée verlangt nach ihrer Mutter.« Marie stand im Nachtgewand, eine Kerze in der Hand, im Türrahmen und trat von einem Fuß auf den anderen. »Sie fiebert schon den ganzen Tag, und es will mir nicht gelingen, sie zu beruhigen.«
Bernhardine warf ihre Haarbürste auf die Kommode.
»Dann mach ihr halt einen Tee!«, gab sie ungehalten zurück und bereute ihre harschen Worte im selben Moment. Es war aber auch wirklich zum Verzweifeln! Die Tischrunde hatte sich erst vor einer knappen Viertelstunde aufgelöst, nachdem Johannes betrunken vom Stuhl gefallen war. »Marie, Kinder sind oft fiebrig … das wird sich schon wieder legen.«
Die Pendeluhr in der Ecke schlug die zehnte Stunde. Kurz darauf begann auch das Nachtgeläut der Seenger Kirche. Bernhardine presste ärgerlich die Lippen zusammen. Sie würde zu spät kommen.
Der Wind zerrte an ihrem Umhang und riss ihr fast die Haube vom Kopf, als sie die Pforte zum Hof aufschloss. In der Küche brannte noch Licht. Sie konnte zwei Schatten ausmachen, die sich hinter dem Fenster bewegten. Ansonsten lag der Schlosshof verlassen da. Über den Himmel jagten Wolken. Ab und zu schien der Mond zwischen ihnen hindurch und tauchte die Szenerie in bleiches Licht. Aus dem Pferdestall hörte sie Schnauben und Getrampel. In der Luft lag ein Hauch von Schnee. Der Winter würde in Kürze zurückkehren, um sein kaltes Regime wieder aufzunehmen.
Bernhardine wagte kaum zu atmen. Ihr Mund war staubtrocken. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie hielt einen Moment inne und betrachtete die Kapelle jenseits der Steinbrücke.
Noch konnte sie umkehren, die Stiege hinaufgehen, sich ausziehen und unter die Bettdecke schlüpfen. Cornelis würde vergebens warten, irgendwann aufgeben und in sein Quartier zurückkehren. Sicher enttäuscht und ärgerlich, vermutlich würde er sogar abreisen, bevor es wieder zu schneien anfing. Aber sie, Bernhardine von Hallwyl, hätte ihre Ehre bewahrt. Maries Worte kamen ihr wieder in den Sinn: Désirée fieberte. War es nicht ihre Mutterpflicht, bei ihrer kranken Tochter zu wachen? Ihr die heiße Stirn zu kühlen und ein Lied vorzusingen? Sie wollte keine schlechte Mutter sein, aber da war eine Kraft in ihr, die sie mit aller Macht zu Cornelis hinzog. Ihr Tagebuch war voller selbstgeschriebener Verse, die ihm zugeeignet waren. Bernhardine ertappte sich immer wieder dabei, wie sie tagsüber minutenlang ins Leere starrte, weil ihre Gedanken bei dem Holländer weilten und sie sich vorstellte, wie er und sie … Sidonia hätte sicher von einem coup de foudre, einem Blitzschlag, gesprochen, hätte sie um Bernhardines Gefühle gewusst.
Sie straffte die Schultern. Marie würde gut für die Kleine sorgen. Später könnte sie selbst noch kurz bei Désirée vorbeischauen. Sicher ginge es ihrer Tochter dann schon wieder besser. Einen Moment dachte Bernhardine an Gerold und seine Teufelsreden. Ob dies die Versuchung war, von der er ständig sprach? Sie wusste nicht, wie man heutzutage mit Ehebrecherinnen verfuhr. Früher waren sie verbrannt worden. Was den Herren seit jeher gestattet war oder zumindest stillschweigend geduldet wurde, war dem Weibsvolk schon immer verboten gewesen. Es hatte keusch und gottesfürchtig zu sein und alles anzunehmen, was die Männer oder die Kirche ihm vorschrieben. Was würde geschehen, wenn man sie mit Cornelis ertappte? Müsste sie ins Kloster gehen? Würde man sie von ihren Kindern trennen? An den Pranger stellen oder ins Verlies werfen? Oder zu ihren Eltern zurückschicken, die dann mit der Schande leben müssten, eine Buhle aufgezogen zu haben? Bernhardine schluckte. War es dies alles wert? Ein Käuzchen schrie in der Nähe, und sie erschrak. Sie durfte nicht länger zögern. Entweder überquerte sie jetzt diese Brücke, oder sie schlich zurück in ihr Gemach. Als hätte das Schicksal ihre Zweifel vernommen, riss in diesem Moment die Wolkendecke auf, und am Himmel waren die Sternbilder des Perseus und der Andromeda zu sehen. Bernhardine lächelte. Ihre liebsten Figuren aus den griechischen Sagen. Perseus, der seine geliebte Andromeda vor dem Ungeheuer rettete und damit ihre Hand und ein Königreich gewann. Gab es ein romantischeres Liebespaar?
Bernhardine schlang sich den Mantel enger um die Taille, zog die Haube tiefer ins Gesicht und rannte los.
Der Türknauf der Kapelle war mit Rauhreif überzogen, so dass ihre klammen Finger zunächst an ihm abglitten. Bernhardine hauchte in die Hände, schaute sich ängstlich um und versuchte es ein zweites Mal. Diesmal mit Erfolg. Sie zog die Tür auf und huschte ins Gotteshaus. Im Innern brannte eine Kerze, deren Flamme heftig flackerte, als sie eintrat. Kalter Rauch und aufsteigende Nässe stiegen ihr in die Nase. Neben ihren Füßen raschelte etwas, gleich darauf hörte sie ein leises Fiepen. Erschrocken raffte sie ihre Röcke und unterdrückte einen Aufschrei. Ekliges Mäusepack! Bernhardine wagte nicht zu sprechen und versuchte, Cornelis in der Düsternis auszumachen. Ob er schon wieder gegangen oder erst gar nicht gekommen war? Hatte auch ihn das Gewissen geplagt, so wie sie selbst?
Zwischen den Holzbänken erhob sich unvermittelt eine Gestalt und blieb reglos stehen. Bernhardine stockte der Atem. Sie griff sich an die Kehle. Der Teufel! Er war gekommen, um sie in die Hölle mitzunehmen!
»Mon Trésor?«, flüsterte eine bekannte Stimme.
Sie war so erleichtert, dass sie aufschluchzte. »Cornelis, Ihr habt mich fast zu Tode erschreckt!«
Sie hörte ein leises Lachen. Der Maler kam zwischen dem Kirchengestühl hervor, durchmaß den Raum in drei Schritten und schlang seine Arme um ihre Taille.
»Ihr habt mich warten lassen«, raunte er in Bernhardines Ohr. Sein Atem war warm und roch nach Gesottenem und Rüben. Mit seiner Zungenspitze berührte er spielerisch ihren Hals. Sie bekam eine Gänsehaut und schüttelte sich. »Ist Euch kalt? Soll ich Euch wärmen?«
Obwohl es dunkel war und Cornelis ihre Mimik nicht sehen konnte, nickte Bernhardine. Sie fürchtete, ihre Stimme würde ihm verraten, wie aufgewühlt sie war. Der Holländer wartete ihre Entgegnung nicht ab, sondern drückte sie enger an sich, schob seine Hände unter ihren Umhang und streichelte ihren Rücken. Er liebkoste ihre Schultern, strich sanft über ihre Arme und umfasste ihre Brüste. Sie keuchte auf. Ihre Knie knickten ein, und sie fiel hart an seine Brust.
»Ich …« Bernhardine hob den Kopf und wollte sich für ihre fehlende Contenance entschuldigen, doch Cornelis beugte sich zu ihr herunter und presste seine Lippen auf ihren Mund. Sie waren weich, und sein Bart kitzelte sie an der Wange. Bernhardine schmeckte das Bier, das er zum Abendessen getrunken haben musste. Während Cornelis’ Zunge ihren Mund erkundete, dachte sie, dass sich jetzt entweder gleich der Höllenschlund oder aber die Himmelspforte öffnen müsse. Niemals zuvor, nicht einmal in ihren wildesten Träumen, hatte sie nur annähernd ein solches Gefühl gehabt, wie es sich jetzt ihres Körpers bemächtigte. Ihr war kalt und heiß zugleich. Ihre Glieder wurden schwer, und doch glaubte sie zu schweben. Ihr Herz hämmerte wild in der Brust, aber gleichzeitig breitete sich eine Mattigkeit in ihr aus, als hätte sie tagelang geschlafen. Nie wieder würde sie in Johannes’ Arme zurückkehren. Nie und nimmer. Eher würde sie sterben!
Marie hetzte über den Schlosshof und stieß die Tür zur Küche auf. Neben der Kochstelle, in der noch ein paar Stücke Kohle glühten, stand der Küchenjunge und kratzte Angebranntes aus einem rußigen Topf. Dahinter hockte eine Magd auf einem Schemel und rupfte ein Huhn. Bei Maries Eintreten drehten sich ihre Köpfe nach der Ankommenden.
»Schnell«, rief sie, »bringt Essig, warmes Wasser und trockene Tücher!« Die Bediensteten wechselten einen Blick. »Habt ihr nicht gehört? Faules Pack! Die Tochter des Herrn ist krank. Macht vorwärts!«
Die Magd warf das halb gerupfte Huhn auf den Küchentisch, stand auf und wischte sich die Hände an ihrer fleckigen Schürze ab. Der Küchenjunge ließ den Topf fallen, der mit einem metallischen Scheppern auf den Boden knallte, und schwenkte den großen Kessel über die Kochstelle. Er warf ein paar Holzscheite in die Glut und stocherte mit einem Eisen darin herum, bis die Flammen züngelten.
Marie setzte sich an den Küchentisch und wischte sich müde über die Augen. Dédée hatte hohes Fieber und sprach im Delirium. Die Essigsocken würden hoffentlich helfen, es zu senken. Sie war keine Heilkundige, wusste aber, dass es ernst um die Kleine stand. Bernhardine war nicht in ihrem Zimmer gewesen, als sie vorhin noch einmal zaghaft an deren Tür geklopft hatte. Marie hatte einen Verdacht, wo sich ihr ehemaliges Ziehkind befand, hoffte aber, sich zu irren. Dinchen konnte doch nicht wirklich so dumm sein und ihrer Schwärmerei für den Holländer nachgeben. Aber Frauen neigten schon seit jeher zur Kopflosigkeit, wenn es um Gefühle ging. Genau wie das Huhn, das halbnackt vor Marie auf dem Tisch lag.
Wenn nur ein Arzt hier wäre. Aber der nächste weilte im Kloster Baldegg, das einen Tagesritt, bei dem vielen Schnee vermutlich sogar zwei, entfernt lag. Ob sie Johannes von Hallwyl wecken sollte? Oder seinen Bruder? Aber Ersterer lag betrunken in seinem Bett, und vor dem anderen fürchtete sie sich. Sein stechender Blick war ihr unheimlich. Sie hatte auch das vage Gefühl, dass er Bernhardine und den Kindern nicht wohlgesinnt war.
Dinchen hatte ihr von Gerolds Besuch und seinem kuriosen Gebaren von vor drei Jahren erzählt. Marie erinnerte sich noch, wie ihr ehemaliges Stillkind auf ihren Ratschlag hin, einen Druidenfuß um sein Bett herum zu zeichnen, damals in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Aber Marie wusste genau, wie Schwarze Magie angewandt wurde und mit welchen teuflischen Sprüchen man Unheil heraufbeschwören konnte. Gott sei Dank war Désirée gesund zur Welt gekommen! Sie hatte der Kleinen gleich nach der Geburt ein schützendes Amulett mit einem Bergkristall angefertigt und ihr später, als sie zwei Jahre alt gewesen war, eingeschärft, dass sie diesen zu ihrer Sicherheit immer bei sich tragen sollte. Er würde bei Gefahr aufleuchten und sich erwärmen. Sicher war sicher!
Die zweite Schwangerschaft hatte Bernhardine problemlos hinter sich gebracht. Es konnte aber nicht schaden, wenn sie nächstens die Kinderzimmer mit Rosmarin ausräuchern und bei abnehmendem Mond ein schwarzes Band knoten würde. Gerold von Hallwyl hatte allen Grund, die Nachkommen seines Bruders zu hassen, die in der Erblinie vor ihm standen. Gleich ob Herr oder Knecht, Neid und Habgier hatten schon so manchen zu abscheulichen Taten verleitet.
Der Küchenjunge trat mit einem Eimer dampfenden Wassers an den Tisch, die Magd gesellte sich mit einem Arm voller Tücher dazu und griff nach der Essigkaraffe.
»Dann kommt«, sagte Marie und erhob sich ächzend. »Und betet für die Kleine!«
»Wir dürfen das nicht.«
Sie versuchte, Cornelis’ Hände abzuschütteln. Doch der Maler schien seine Finger plötzlich überall zu haben. Bernhardine trat einen Schritt zurück. Sie atmete heftig. Ihr Busen, den Cornelis schon fast aus dem Mieder befreit hatte, wogte auf und ab. Verschämt kreuzte sie die Hände vor der Brust.
»Mon Amour«, flüsterte der Maler, trat aber nicht näher, sondern lehnte sich an die schlecht verputzte Steinmauer der Kapelle. »Wir dürfen alles, weil die Liebe alles darf.«
Bernhardine errötete. Er liebte sie wirklich! Ihr Herz machte einen Sprung.
»Dann werden wir gemeinsam das Schloss verlassen?«
Sie wagte kaum zu atmen. Hatte sie diese Frage tatsächlich gestellt? Und wenn er sie nun bejahen würde, hätte sie dann auch den Mut, es zu tun?
Cornelis blieb einen Moment stumm, trat näher und nahm ihr Gesicht in beide Hände: »Schönste aller Blumen, nichts würde mir mehr gefallen. Aber so ein Schritt muss gut überlegt sein. Seid Ihr Euch denn sicher? Würdet Ihr ein Leben auf der Straße all dem hier«, er machte eine ausladende Geste, »vorziehen? Und könntet Ihr Prunk und Annehmlichkeiten zurücklassen, nur um bei mir zu sein?«
»Jederzeit!«, rief Bernhardine leidenschaftlich. »Nichts von alledem bedeutet mir etwas!«
Er lachte, ließ sie los und drehte sich um. Sie erschrak; hatte sie etwas Falsches gesagt? Ihm zu wenig gezeigt, dass sie ihn liebte?
Der Holländer ließ sich mit einem Seufzer auf eine Holzbank sinken und strich sich durch die Haare.
»Verzeiht, wenn ich an Euren Worten zweifle«, sagte er und fuhr mit einem Finger über die Kirchenbank, »aber Ihr gestattet mir ja nicht einmal, Euch richtig zu berühren. Wie soll ich da sicher sein, dass Eure Liebe jede Unbill, die uns erwachsen wird, erträgt?«
Bernhardine schluckte. Er hatte recht. Zwar schrie jede Faser ihres Körpers danach, von seinen Händen liebkost zu werden, aber wenn sie diesen letzten Schritt ginge, gäbe es für sie kein Zurück mehr. Dann wäre sie, auch in fleischlicher Hinsicht, eine Ehebrecherin. Und damit vogelfrei.
Der Föhn brauste mit unverminderter Kraft um die Kapelle, drang durch die Mauerritzen und ließ die Kerzenflamme tanzen. Im Gebälk knirschte es, als würde dort oben jemand Nüsse knacken. Bernhardines Atem gefror zu weißen Wölkchen. Sie trat vor Cornelis, öffnete die Bänder ihres Mieders und zog sich das Kleidungsstück bis zur Taille hinab. Ihre Brustwarzen wurden in der kalten Luft augenblicklich hart. Eine Gänsehaut zog über ihren nackten Oberkörper. Der Maler umfasste mit beiden Händen ihre Körpermitte, vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten und zog Bernhardine langsam auf die harte Holzbank hinunter.