12
Seengen, 2010
Dürfen wir das denn?«
Anouk strich behutsam über ein in braunes Leder gebundenes Buch und warf Max einen fragenden Blick zu. Dieser stand vor einem Bücherregal, das bis zur Decke reichte, und studierte die Titel der dort aufgereihten Wälzer.
»Solange wir nichts beschädigen … sicher«, sagte er. »Ich kriege nur Ärger, wenn etwas fehlt.« Er zog ein dickes Buch mit farbigem Umschlag aus dem Gestell und nieste. »Hier!« Max legte das Buch auf einen Sekretär. Ein weißes Tuch schützte die Antiquität vor Staub. »Die Herren von Hallwyl. Die vollständige Familienchronik des Hallwyler Geschlechts von 1167 bis heute« war auf dem Einband zu lesen und auf dem Buchrücken der Name des Verfassers: Professor lic.phil.I, Kurator, Herbert Rufli.
Sie befanden sich in der Schlossbibliothek, die dem Publikum nach der letzten Renovierung erst vor kurzem wieder zugänglich gemacht worden war. Zwar war es den Besuchern nicht erlaubt, die Gegenstände zu berühren – das Mobiliar wurde durch dicke Kordeln, die an Messingständern befestigt waren, vor neugierigen Touristenhänden geschützt –, doch Max hatte einfach eine Absperrung entfernt. Anouk war nicht ganz wohl bei der Sache. Sie schaute ständig nach rechts und links, um nicht plötzlich von einem Wächter überrascht zu werden.
»Dann wollen wir mal«, sagte Max und blätterte in Professor Ruflis prämiertem Meisterwerk. »Wann, sagtest du, müsste sich das Ganze ereignet haben?«
Anouk zog ihren Spiralblock hervor. »Circa siebzehnhundertsechsundvierzig«, erwiderte sie und linste Max über die Schulter. Sie mochte sein Rasierwasser und musste sich beherrschen, um nicht an seinem Hals zu schnuppern. Sie schloss einen Moment die Augen und seufzte.
»Ist was?« Er musterte sie eindringlich.
»Nein, wieso?«
Anouk errötete. Max schüttelte den Kopf und beugte sich wieder über das Buch.
»Also«, er blätterte die Seiten mit dem Familienstammbaum durch, »hier sind die Familienmitglieder aus dem achtzehnten Jahrhundert aufgelistet. Ich nehme an, uns interessiert nur der Seenger Zweig. Die österreichischen und schwedischen Abkömmlinge können wir sicher vergessen.«
Anouk nickte, und Max fuhr mit dem Finger den Stammbaum entlang.
Johannes v.Hallwyl ( 1689 – 1746 ) & Viktoria v.Hallwyl. geb. Stackelberger (1691–1711)
Kinder:
Désirée v.Hallwyl
Burkhardt v.Hallwyl
Kaspar v.Hallwyl
Georg Dietrich v.Hallwyl (1711)
Geschwister von Johannes v.Hallwyl:
Burkhardt v.Hallwyl (1692–1693)
Wilhelm v.Hallwyl (1695–1715)
Gerold v.Hallwyl (1701–1766)
Georgette v.Hallwyl (1703–1715)
»Kein Bernhard und auch kein Huldrich«, murmelte Max. »Der Schlossherr hatte aber vier Geschwister, von denen einer Gerold hieß. Das ist doch ein Name, der sich auch unter deinen Papierschnitzeln befindet und …«
Anouk keuchte. »Désirée!«, schrie sie. »Es gab eine Désirée! Diesen Namen hat die Frauenstimme am Wassergraben gerufen.«
»Gott, Anouk, du jagst mir ja Angst ein!«, japste Max. »Komisch«, fuhr er fort und strich sich über den Nacken, »bei den Kindern sind gar keine Geburts- und Todesdaten mit angegeben. Nur bei diesem Georg Dietrich … der ist scheinbar tot auf die Welt gekommen.«
Anouk riss das Buch an sich und ignorierte Max’ Proteste geflissentlich. Sie betrachtete den Stammbaum eine Weile und schaute dann gedankenverloren zum Fenster hinaus.
»Das ging mir auch schon durch den Kopf«, pflichtete sie ihm bei. »Auf dem Friedhof steht eine Gedenktafel für diese Kinder.« Ihre Stimme zitterte vor Erregung. »Ich habe die Inschriften gesehen. Aber auch dort kann man nur das Todesdatum dieses Georg Dietrich entziffern. Bei den anderen steht nichts. Da ist doch etwas faul!« Sie knallte Ruflis Chronik so heftig auf den Tisch, dass eine Staubwolke in die Luft stieg.
Max schaute sich verstohlen um. »Nicht so laut!«, zischte er. »Wenn wir uns nicht benehmen, muss ich den Schlüssel fürs Schloss wieder abgeben. Ich darf mich nämlich nur im vorderen Teil aufhalten.«
»Ist ja gut. Ich bin nur so aufgeregt. Endlich ein konkreter Hinweis.« Sie setzte sich auf einen Schemel neben dem Sekretär, schlug die Beine übereinander und wippte rhythmisch mit dem Fuß. »Ist doch ungewöhnlich, dass der Rufli alles akribisch dokumentiert und nur bei den Kindern geschludert hat. Findest du nicht?« Max griff nach der Chronik und kontrollierte den Einband. Anouk verdrehte entnervt die Augen. »Ich habe das teure Werk schon nicht beschädigt, keine Angst«, meinte sie spöttisch.
Max legte das Buch wieder hin. »Soweit ich weiß, ist das Schloss irgendwann einmal abgebrannt. Vielleicht sind damals ja einige wichtige Dokumente verlorengegangen.«
Anouk pustete sich die Fransen aus der Stirn.
»Nein, ich denke eher, dass der werte Herr Kurator da entweder einen Fehler begangen oder aber wissentlich Informationen unterschlagen hat.«
Max lachte. »Warum sollte er denn so etwas tun?« Er stellte das Buch sorgfältig an seinen Platz im Regal zurück. »Ihm kann doch egal sein, wie und wann die Kinder des damaligen Grafen gelebt haben oder wann sie gestorben sind.«
Anouk stützte den Kopf in die Hand. Max’ Einwand war nicht von der Hand zu weisen. Wenn sie mit ihrer Vermutung dennoch recht hatte, musste Rufli einen triftigen Grund gehabt haben, diese Daten zu verheimlichen. Aber welchen?
»Was tun Sie denn hier?«
Eine ältere Frau mit einem Staubwedel in der Hand stand im Türrahmen und blickte sie mit großen Augen an. Anouk schnellte herum.
Max räusperte sich. »Guten Tag, Frau Döbeli!«, rief er und setzte dabei sein charmantestes Lächeln auf. »Wie geht es denn Ihrer Mutter? Alles so weit in Ordnung?«
Die gefurchte Stirn der Angesprochenen entspannte sich augenblicklich. »Ach, Sie sind das, Herr Doktor! Ja, der Oma geht’s wieder gut.« Sie beäugte Anouk misstrauisch. »Sie wissen aber schon, dass man hier nicht so einfach alles anfassen darf, ne? Dafür sind ja diese Absperrungen da.«
»Tut mir leid, Frau Döbeli. Da haben Sie natürlich recht. Ich wollte meiner Freundin nur schnell die wunderschöne Bibliothek zeigen. Wir sind auch schon wieder weg.«
Max schob die grinsende Anouk aus dem Raum. Vor der Tür sahen sie sich in die Augen und brachen in schallendes Gelächter aus. Sie stolperten die Treppe hinunter ins Freie und setzten sich auf eine Holzbank im Vorhof.
»Meiner Freundin?«, feixte Anouk lächelnd.
Max’ Gesicht färbte sich eine Nuance dunkler. Er hüstelte. »Nun ja, ich dachte …«, er brach ab und beobachtete zwei Krähen, die sich um ein weggeworfenes Stück Brot stritten.
Anouk fand es ausgesprochen amüsant, wie er sich vor Verlegenheit wand. Sie beugte sich zu ihm hinüber und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.
»Klingt doch gut!«, rief sie und stand auf.
Da schlang er die Arme um ihre Hüften und zog sie an sich.
»Finde ich auch«, pflichtete er ihr bei.
Anouk lachte übermütig. Wie dumm sie doch gewesen war, sich die Gefühle, die sie für Max hegte, nicht eingestehen zu wollen. Was spielte es für eine Rolle, was morgen oder übermorgen sein würde und wie lange dieses Gefühl anhielt? Sie lebte hier und jetzt. Nichts war mit diesem Flattern im Magen zu vergleichen, das sich ihrer bemächtigte, wenn Max bei ihr war. Sie wollte jede Minute, jede Sekunde davon ausschöpfen, auskosten und mit allen Sinnen genießen.
Anouk strich ihm durchs Haar. Er drehte den Kopf und küsste ihre Handfläche. Dann schob er seine Hand unter ihr T-Shirt und streichelte ihren Bauch. Anouk zog scharf die Luft ein. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und spontan kam sie ihm mit ihrem Körper entgegen.
Ein Räuspern ließ sie zusammenzucken. Frau Döbeli stand im Türrahmen, schüttelte missbilligend den Kopf und klopfte ihren Staubwedel aus.
»Ich glaube, wir sollten uns ein ruhigeres Plätzchen suchen«, flüsterte Max und grinste. »Komm, ich zeige dir Bertas Kostüm!«
Anouk nickte stumm. Sie war noch immer aufgewühlt. Dieser Mann brachte sie vollkommen aus dem Konzept. Schweigend folgte sie ihm an der Scheune, die zu einem Café umgebaut worden war, und am Kornhaus vorbei, bis sie schließlich an eine kleine Pforte kamen.
»Das alles hier«, Max machte eine ausholende Geste, »nannte man früher den Westbau. Hier wohnten die Bediensteten und alle anderen Leute, die fürs Schloss arbeiteten. Auch Gäste von niederem Stand wurden in diesem Teil untergebracht. Für die adligen Besucher standen natürlich komfortablere Zimmer im Palas oder im Wohnturm zur Verfügung.«
Anouk hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, aber Max schien von ihrer Verwirrung nichts zu bemerken. Er zog seinen Schlüsselbund hervor und öffnete die Holztür.
»Im Moment dient uns diese Kammer als Umkleide.« Er trat beiseite, und Anouk schlüpfte ins Zimmer. Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich in den gelben Butzenscheiben der Fenster und tauchten den Raum in ein goldenes Licht. Auf einem Metallständer hingen die Kostüme, die für das Theaterstück verwendet wurden. Samt, Brokat und weiße Spitzen, dazwischen braunes und helles Leinen. Eine Reihe Hüte lag auf einem roh gezimmerten Holztisch; an der gegenüberliegenden Wand standen verschiedenfarbige Schuhe, Pantoffeln und Stiefel in Reih und Glied.
Es riecht wie in Tatis Kleiderschrank, ging es Anouk durch den Kopf.
»Schau, das ist Bertas Kostüm!«
Max hielt einen Kleiderbügel hoch, an dem ein bräunliches, unförmiges Gewand baumelte.
»Das muss ich tragen?«, fragte Anouk bestürzt und linste begehrlich nach einem silberdurchwirkten, tief ausgeschnittenen Kleid aus Taft und Brokat. Dann wandte sie sich wieder dem unscheinbaren Kleid zu und strich über das Gewebe. Es sah nicht nur kratzig aus, es fühlte sich auch so an. Sie verzog den Mund.
»Tja, Berta war eben eine Magd. Die hatte kein so tolles Outfit wie die Gräfin. Aber probier das gute Stück doch einfach mal an«, schlug Max vor. »Wenn es nicht passt, bleibt noch genügend Zeit, es ändern zu lassen. Ich befürchte nämlich, das Teil wird dir etwas zu weit sein. Susanne ist … nun ja, etwas fülliger als du.«
Er grinste.
Anouk griff nach dem Bügel und schaute sich suchend um.
»Hier?«
Obwohl sie sonst nicht prüde war, hatte sie plötzlich Scheu davor, sich vor Max auszuziehen.
»Warum nicht, du bist doch ein Model?«, sagte er unschuldig, aber als er Anouks ärgerlichen Blick bemerkte, nickte er kurz und wies auf eine verborgene Tür neben dem Kamin.
Der kleine Raum dahinter war eher ein Kabuff als ein richtiges Zimmer. Vermutlich hatte er früher als Plumpsklo gedient, denn im Boden war noch ein rundes Loch zu sehen, das ganz offensichtlich in späteren Jahren zugemauert worden war. In einer Ecke standen ein paar Rechen, eine Mistgabel und ein hölzernes längliches Fass, das zum Butterstampfen verwendet wurde. Die Requisiten der Knechte und Mägde im Theaterstück.
Ehemaliges Topmodel erzeugt Markenbutter! Wäre doch eine tolle Schlagzeile für die Vogue. Anouk schmunzelte. Ihr früheres Leben schien so weit weg zu sein. Als sei es lediglich eine Geschichte aus einem Buch, an dessen Protagonisten man sich nur noch vage erinnerte. War das hier dieselbe Anouk, die noch vor einem halben Jahr von Party zu Party gehetzt war, mit Gefühlen und Alkohol gespielt und ihr Geld mit vollen Händen ausgegeben hatte?
Sie setzte sich auf eine umgestülpte Apfelkiste und legte das Magd-Kostüm über ihre Knie. Was Zeit doch für ein unwirklicher Begriff war! Es war noch keine Woche her, seit sie aus dem Postbus ausgestiegen war. Mit nichts als einer Schuld auf der Seele, die sie zu ersticken drohte. Und jetzt, nur ein paar Tage später, konnte sie schon wieder viel freier atmen. Zwar tauchte Julias Gesicht immer noch ab und an vor ihr auf, aber der Schmerz ihres Verlustes erdrückte sie nicht mehr. Und sie fühlte sich weniger schuldig. Ja, sie fühlte sogar so etwas wie Glück. Max mit seinen unvergleichlichen Augen, dem schlechten Haarschnitt und seinem unwiderstehlichen Lächeln hatte ihr mit seiner unaufdringlichen, aber beharrlichen Art gezeigt, dass sie nicht bloß eine schöne Fassade war, sondern ein Mensch, den man mit all seinen Vorzügen und Fehlern lieben konnte. Lieben? Anouk lächelte. Ja, vielleicht sogar das.
»Alles in Ordnung?«, hörte sie ihn durch die Tür fragen.
Anouk atmete tief durch und stand auf.
»Sofort!«, rief sie, streifte sich die Schuhe von den Füßen und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen.
Da krachte hinter ihr etwas an die Fensterscheibe. Anouk wirbelte herum. Blut und grauer Flaum klebten am Glas. O nein, der arme Vogel! Anouk stellte die Apfelkiste vor das winzige Fenster und kletterte hinauf. Der Fensterriegel war verrostet und ließ sich nicht bewegen. Sie packte ihn mit beiden Händen und zog mit aller Kraft daran. Mit einem Knirschen gab der Verschluss plötzlich nach. Anouk verlor das Gleichgewicht und ruderte wild mit den Armen. Die Holzkiste unter ihr wackelte wie ein Seemann beim Landgang. Dann kippte sie schließlich um, und Anouk mit ihr. Sie prallte rücklings gegen eine Bretterwand, die unter ihrem Gewicht krachend in sich zusammenstürzte. Staub wirbelte auf. Anouk fiel auf den harten Steinboden und schlug sich den Kopf an.
»Anouk?« Max stürmte in das Kabuff. Er wedelte die Staubwolken zur Seite. »Verdammt, was ist passiert?«
»Hier!«, krächzte sie, fasste sich an den Kopf und stöhnte. Das würde eine schöne Beule geben. Zum Glück gehörte zu ihrem Kostüm eine Haube. Sie lachte, schluckte dabei eine Portion Dreck und fing an zu husten. Max’ Hand tauchte durch die Staubwolke hindurch vor ihr auf. Sie griff danach, rappelte sich hoch und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. Ihre Bluse war zerrissen, eine blutende Schramme zog sich über ihre Wade, und ihre roten Locken waren von einer puderigen Schicht aus Staub und Spinnweben bedeckt.
»Du siehst wie Frankensteins Braut aus«, sagte Max trocken und zog ihr ein totes Insekt aus den Haaren. »Kannst du mir erklären, was zum Teufel du schon wieder angestellt hast?«
Anouk nieste. »Ich habe gar nichts gemacht. Etwas flog …«, sie brach ab und starrte überrascht auf einen Gegenstand, der hinter der zerborstenen Bretterwand an der Wand lehnte. Der Zwischenraum war nur eine Handspanne tief und voller Mäusekot.
»Flog …?« Max riss das Fenster auf und schaute sie fragend an.
»Ein Vogel …«, fing sie an und brach dann ab. Sie griff nach dem rechteckigen Gebilde hinter der Bretterwand, das in ein gegerbtes Ledertuch eingeschlagen war. Als sie es berührte, begann die Tierhaut zu zerbröckeln. Sie zog den Gegenstand vorsichtig aus dem Versteck und schlug sich dann entsetzt die Hand vor den Mund. Vor ihr stand die Frau im roten Kleid!
Schloss Hallwyl, 1746
Sie fanden Gerold im Palas, wo er vor dem großen Kamin saß und in einem dicken Folianten blätterte. Dazu murmelte er leise in einer Art Singsang unbekannte Worte vor sich hin, die immer wieder von Zisch- und Schnalzlauten unterbrochen wurden. Auf einem Beistelltisch standen eine Schale mit gedörrten Apfelringen und eine Karaffe Wasser.
Bernhardine gab Marie und Cornelis ein Zeichen, die sich daraufhin hinter den Säulen am Eingang versteckten. Dann straffte Bernhardine die Schultern, zog den Gürtel ihres Morgenmantels enger und marschierte erhobenen Hauptes auf ihren Schwager zu.
Das flackernde Kaminfeuer verlieh Gerolds Gesichtszügen ein dämonisches Aussehen. Genau so stellte sie sich einen Boten der Hölle vor. Sie schauderte und blieb unwillkürlich stehen. Doch der Gedanke an Désirée trieb sie weiter. Sie würde ihren Schwager jetzt zur Rede stellen. Noch einmal blickte sie zurück zum Eingang. Obwohl sie niemanden sehen konnte, gab ihr die Gewissheit, dass Marie und Cornelis hinter den Säulen warteten, Zuversicht. Was konnte ihr schon passieren?
»Wie geht es meinem geliebten Bruder, verehrte Belle-Sœur?«, wandte sich Gerold an sie. Bernhardine stolperte. Er musste ihre Schritte gehört haben, hoffentlich nicht auch die ihrer Zeugen.
»Sagt Ihr es mir, werter Schwager!«, erwiderte sie und trat in den Lichtschein des Feuers. Sie streckte ihre eiskalten Hände nach den wärmenden Flammen aus.
Gerold lachte leise, klappte das Buch zu und hob den Kopf. Sein Blick war pure Herausforderung. Plötzliche Angst schnürte Bernhardine die Kehle zu. Sie schluckte.
»Nun, Weib, das würde ich ja gerne tun, nur hat mich mein Bruder des Zimmers verwiesen, als …« Er brach ab und griff nach einem gedörrten Apfelring.
Bernhardine registrierte mit Abscheu, wie er sich die Süßigkeit zwischen seine verfaulten Zähne schob, mit offenem Mund kaute und sie dabei grinsend musterte. Sie wandte sich angeekelt ab. Es war an sich schon ein unglaublicher Affront, dass er sich nicht erhob, um ihr seine Ehrerbietung zu bezeugen, aber dass er sie derart abfällig mit »Weib« ansprach, verschlug ihr die Sprache.
Ich werde stark sein. Er kann mir nichts anhaben. Marie und Cornelis sind da!, sprach sie sich Mut zu. Es war wie bei Johannes’ Wolfshunden: Man durfte seine Angst nicht zeigen.
Bernhardine setzte sich auf das Kanapee zu Gerolds Linken. Sie drapierte sorgfältig die Falten ihres Morgenmantels über ihrem verschmutzten Kleid, zupfte ein wenig an ihrer Haube herum und suchte nach den richtigen Worten. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass ihr Schwager sie beobachtete. Sie räusperte sich und hob den Kopf. Gerolds dunkle Augen glänzten wie flüssiges Pech. Sein Mund war ein schmaler horizontaler Strich, als hätte ihn jemand mit einem Beil in sein Gesicht eingeschlagen.
»Schluss mit den vorgespielten Höflichkeiten!«, eröffnete Bernhardine die Schlacht und warf den Kopf in den Nacken. »Ihr könnt mich nicht leiden, genauso wenig, wie ich Euch leiden kann. Die Gründe sind zweitrangig. Tant pis! Wie dem auch sei, man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen. Und solange Ihr auf Eurem Anwesen bleibt, soll es mir egal sein, wie Ihr Euch gebärdet. Doch jetzt seid Ihr hier, auf meinem Schloss, und da habt Ihr Euch gefälligst an die Gepflogenheiten dieses Hauses zu halten. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Gerold verzog spöttisch den Mund. »Euer Schloss, liebe Schwägerin? Ich verstehe.« Seine Augen wurden schmal. Er umfasste den Folianten mit beiden Händen, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Auf dem Einband war ein Pentagramm abgebildet, und einen kurzen Moment dachte Bernhardine, er würde ihr das dicke Buch an den Kopf werfen, doch ihr Schwager entspannte sich wieder und verschränkte seine Finger über dem Einband. »Sehr wohl, Madame«, erwiderte er spöttisch und deutete eine Verbeugung an. »Ganz wie es der hochwohlgeborenen Dame beliebt.«
Bernhardine atmete innerlich auf. Sie spürte, wie ein Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten hinabrann, ignorierte aber den Drang, ihn schnell wegzuwischen.
»Was habt Ihr mit Désirée gemacht?«
Sollte die Frage ihren Schwager überrascht haben, so zeigte er es nicht. Er griff nach der Schale mit den Apfelringen und starrte in sie hinein, als würden sich in ihr die Geheimnisse der Menschheit offenbaren. Das Feuer knisterte, die Pendule in der Ecke tickte monoton. Gerold blieb stumm. Das Schweigen zerrte an Bernhardines Nerven. Sie wagte kaum zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen, als würde ein Verändern ihrer Körperhaltung die versteckte Anschuldigung nichtig machen und ihrem Schwager die Möglichkeit geben, sich um eine klare Stellungnahme zu drücken.
Gerold stellte die Süßigkeiten langsam auf das Tischchen zurück. Er nahm einen Schluck Wasser und schloss genüsslich die Augen. Nur das Knacken der Tannenscheite im Kamin übertönte sein Schlürfen. Unvermittelt warf er den Kelch in den Kamin. Mit einem Knall zersplitterte das Glas in tausend Stücke, und als sich sein Inhalt in die Flammen ergoss, folgte ein lautes Zischen.
Gerold hatte sich mit einem Satz aus dem Sessel erhoben. Das dicke Buch fiel zu Boden, wo es aufgeschlagen liegen blieb. Ihr Schwager war mit zwei Schritten beim Kanapee und pflanzte sich vor ihr auf, so dass Bernhardine zu ihm aufblicken musste.
Obwohl Gerold kaum größer war als sie selbst, schien er auf einmal zu wachsen, bis seine Schultern an die Decke stießen und er plötzlich den ganzen Raum beherrschte. Ein unheimliches Brausen erfüllte die Luft, ließ die Flammen im Kamin flackern und dröhnte in Bernhardines Ohren. Eine beißende Kälte drang durch die Wände. Ihr Atem gefror zu weißen Wölkchen. Es roch unvermittelt penetrant nach Schwefel und Moder.
Bernhardine saß zu keiner Bewegung fähig auf dem Kanapee. Es war genau wie damals in Bern, als sie, kurz bevor sie nach Seengen aufgebrochen war, von einem bösen Traum heimgesucht worden war. Eine tote Krähe war darin vorgekommen, Pferdegetrampel und eine Teufelsgestalt. Oder hatte sie diese Szene tatsächlich erlebt? Aber wie war das möglich? Bernhardine blinzelte mehrmals. Der Spuk verflog, und sie atmete erleichtert auf. Vom Eingang her hörte sie einen spitzen Schrei. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Sie begann, geistesgegenwärtig zu husten. Marie, Marie, sei bitte still!, flehte sie stumm und suchte in Gerolds Gesicht nach einem Hinweis, dass er die heimlichen Zuhörer bemerkt hatte. Ihr Schwager schien jedoch vollkommen geistesabwesend zu sein. Seine Augen huschten von einer Seite zur anderen, die Lider flatterten wie Libellenflügel. Er knirschte mit den Zähnen, als hätte er Kiesel im Mund. Plötzlich drehten sich seine Augäpfel so weit nach oben, dass nur noch das Weiße zu sehen war.
»De profundis ad te clamavi. Sic volo, sic ferro ignique, ad honorem diaboli iubeo!« Aus der Tiefe habe ich zu dir gerufen. So will ich, so befehle ich, mit Feuer und Eisen, zu Ehren des Teufels!
Schaum stand vor Gerolds Mund. Sein Körper zuckte, als hätte er den Veitstanz. Er stöhnte und schwankte wie eine junge Birke im Wind.
Bernhardine rutschte entsetzt an die äußerste Ecke des Sofas. Was sollte sie tun? Sie streckte vorsichtig ihre Hand aus und berührte Gerolds Arm. Blitzschnell umschlossen seine Finger ihr Handgelenk. Sie schrie auf. Mit aller Kraft versuchte sie, sich zu befreien, doch seine Klauen hielten sie eisern fest. Er beugte sich zu ihr hinab. Sein Schweißgeruch und sein fauliger Atem malträtierten ihre Nase. Sie wandte den Kopf ab und wimmerte.
»Sei auf der Hut, Metze, er wird auch dich richten! So wie er alle richtet, die ihm nicht folgen. Selbst die kleinen Engelchen …«, flüsterte er und bleckte die Zähne. »Oder zwei lächerliche Gehilfen. Dein Glück, dass du nicht allein gekommen bist.«
Bernhardine keuchte. Sie riss sich los und hetzte davon. Hinter den Säulen traten Cornelis und Marie hervor. Beide bleich wie der Tod. Der Maler ergriff Bernhardines Hand, und zu dritt liefen sie auf den Ausgang des Palas zu, verfolgt von Gerolds höhnischem Gelächter. Der Holländer stemmte die Tür zur Ahnengalerie auf und schlug sie mit aller Wucht wieder zu, nachdem sie durch sie hindurchgeschlüpft waren. Das Lachen erstarb augenblicklich, als hätte es jemand mit einer Schere abgeschnitten. Marie bekreuzigte sich ununterbrochen. Ihre Augen waren dunkel vor Angst. Bernhardine rutschte am kalten Mauerwerk entlang zu Boden und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Im Kinderzimmer roch es nach saurer Milch und Kampfer. Bernhardine verscheuchte die junge Amme, die vor der Wiege kniete, mit einem groben Stoß in die Seite, worauf das Mädchen mit schreckgeweiteten Augen davonstob. Die Zwillinge schliefen, hatten jedoch eine ungesunde Röte im Gesicht. Bernhardine strich Burkhardt über das Köpfchen. Seine Stirn war heiß, und er verzog bei der Berührung den Mund, ohne aufzuwachen.
»Jetzt seid ihr meine Einzigen«, murmelte sie mit tonloser Stimme. Sie hätte gerne geweint, doch ihre Augen waren so trocken wie Staub.
Was hatte sie sich nur gedacht? Gerold würde sich nie zu einer unbedachten Äußerung hinreißen lassen. Wenn er, wie sie vermutete, tatsächlich etwas mit Désirées Verschwinden zu tun hatte, würde er sein Wissen darüber mit ins Grab nehmen. Sie war machtlos. Johannes hätte kein Ohr für ihre Anschuldigungen. Und was sollte sie ihrem Gatten auch erzählen? Wo waren ihre Beweise? Es gab keine; bis auf die wenigen geflüsterten Worte eines Irren und ihre eigenen Mutmaßungen. Johannes! Ihr Kopf schnellte in die Höhe. Er sei krank, hatte Marie gesagt. Bernhardine blickte zur Tür, wo Marie am Türpfosten lehnte. Ihre alte Kinderfrau hatte den Kopf gesenkt, schüttelte ihn immer wieder, als müsse sie sich über etwas klar werden. Cornelis stand neben ihr. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er starrte Bernhardine an, ohne sie jedoch bewusst wahrzunehmen. Die beiden taten ihr plötzlich unendlich leid. Noch weitere Unschuldige, denen sie Gram verursacht hatte.
»Es ist gut, Marie. Geh jetzt in deine Kammer! Ich werde mich um die Zwillinge kümmern und später bei meinem Gatten vorbeischauen.«
Marie öffnete den Mund. Doch ein Blick in Bernhardines Gesicht ließ sie verstummen. Sie nickte und strich sich mit ihrer runzeligen Hand über die Augen. In Bernhardine wallte plötzlich ein Gefühl tiefer Zuneigung auf. Sie lief zu ihrer alten Amme und umarmte sie stürmisch. Presste den mageren Körper an sich und vergrub ihr Gesicht an Maries Schulter.
Die schluchzte. »Ich …«
»Ich weiß«, sagte Bernhardine, »ich weiß. Wir müssen jetzt stark sein!«
Marie nickte abermals und verließ dann gesenkten Hauptes den Raum. Bernhardine schaute ihr bekümmert hinterher. Ein Räuspern drang in ihr Bewusstsein, und sie wandte den Kopf. Cornelis. Eine tiefe Falte hatte sich auf seiner Stirn eingegraben. Bernhardine hob die Hand und strich behutsam darüber. War es wirklich erst wenige Stunden her, dass sie sich geliebt hatten? Der Holländer griff nach ihren Fingern und presste seine Lippen darauf.
»Was kann ich tun?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
Bernhardine schüttelte stumm den Kopf. Sie war sich sicher, dass Gott sie für ihren Fehltritt strafte. Und gegen Gottes strafende Hand konnte niemand etwas ausrichten. Nun zog ein höherer Richter die Fäden. Sie waren lediglich Marionetten, die einmal hierhin, einmal dorthin gelenkt wurden.
»Geh, lass mich allein!«, sagte sie zu ihm. »Ich muss mich jetzt um meine Familie kümmern.«
Cornelis schluckte. »Und wir?«, fragte er leise.
»Wir?« Bernhardine lächelte bitter. »Wir hatten die letzte Nacht.«