Das Zelt steht offen. 29 Grad, wolkenloser Himmel. Josi spürt den Luftzug an ihren Füßen, aus der Ferne Stimmen, Möwengeschrei. Sie war heute schon dreimal im Wasser. Jetzt döst sie Arm in Arm mit Max im Zelt. Sie sind auf Sylt. Morgen kommen Thomas, Marina und Lou. Sie werden in einem kleinen Hotel wohnen, nicht weit vom Zeltplatz. Josi hat Lou versprochen, dass er eine Nacht bei ihnen im Zelt schlafen darf. Max ist damit einverstanden. Er ist mit allem einverstanden, Hauptsache, sie ist bei ihm.
Richtig schlafen kann sie immer noch nicht. Sie schreckt bei jedem noch so kleinen Geräusch auf, immer in Alarmbereitschaft. Auch der Reißverschluss vom Zelt musst einen Spalt offen bleiben, sie erträgt es einfach nicht, dieses Gefühl von Eingesperrtsein. Das wird sich mit der Zeit wieder ändern, hat die Psychologin gesagt, die sie im Krankenhaus betreut hat.
Seit einer Woche ist ihr Gips ab. Das Sprunggelenk ist gut zusammengeheilt, keine Komplikationen, obwohl es noch nicht voll belastbar ist. Sie humpelt ein bisschen. Schürfwunden, Schnitte und Prellungen sind auch gut verheilt, aber noch sichtbar.
Als sie im Krankenhaus wieder zu sich kam, war das Wichtigste zu wissen, dass Thomas wieder frei war – ihr Vater, nicht mehr im Gefängnis! Er hatte wirklich die zwei Zigaretten an der Bushaltestelle nur geraucht und war dann wieder zur Party zurückgegangen, weil Lilli Sander nicht gekommen war. Konnte sie auch nicht, denn zu der Zeit war sie schon tot, erstickt, von Robert, ein paar Minuten vorher, hinter dem Geräteschuppen. Von dort aus hatte er sie über den gepflasterten Weg durch den Garten, zum Trampelpfad nahe der Bushaltestelle geschleift und sie dort in den Brennnesseln abgelegt. So war sie vom Pfad oder der Bushaltestelle aus nicht sichtbar gewesen.
Robert hat alles gestanden. Er wollte Lilli nicht umbringen, er wollte nur, dass sie aufhörte zu schreien.
Robert ist jetzt in einer geschlossenen Psychiatrie. Er leidet unter einer ausgeprägten schizoiden Persönlichkeitsstörung. Barbara hat mit der leitenden Ärztin gesprochen und will auch weiterhin Ansprechpartnerin sein. Im Moment darf sie ihn jedoch nicht sehen. Josi wünschte, sie ließe endlich von ihm ab. Warum will sie sich um jemanden kümmern, der den kleinen Halbbruder ihrer Tochter entführt, eine Frau getötet und auch Josi fast umgebracht hätte? Josi darf gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn sie es nicht geschafft hätte, ins andere Zimmer zu entkommen und schließlich aus dem Fenster zu springen! Wie oft hat sie diesen Albtraum, dass Robert sie erwischt und mit der Axt auf sie einschlägt. Barbara sagt dazu, sie solle sich da nicht reinsteigern und es nicht noch schlimmer machen, als es ohnehin schon sei. Irgendwie kommt es Josi vor, als hänge sie in einer Warteschleife, wenn sie mit Barbara spricht. Mama ist wieder voll in ihrem Element, spricht mit der leitenden Psychiaterin über Roberts Traumata, erzählt ihr, wie er früher von seiner Mutter in den Schrank gesperrt wurde, wenn die Kunden hatte, und dass er sich unter das Bett geflüchtet und dort die High Heels seiner Mutter vor Augen hatte. Wenn seine Mutter ihn unter dem Bett erwischte, schlug und bestrafte sie ihn und sperrte ihn in den Schrank. Manchmal vergaß sie ihn dort bis zum nächsten Tag! Dann tat es ihr furchtbar leid und sie fütterte ihn mit weißen Pralinen. Später, als Jugendlicher, fing Robert an, Absätze von allen High Heels abzusägen, die er kriegen konnte.
Mit Barbara konnte Josi also kaum reden, aber mit ihrem Vater schon. Thomas war so weich geworden, seitdem er vom Tatverdacht befreit worden war. Er entschuldigte sich bei Josi, für alles, was er ihr angetan habe und für seine Lügen. Und dann weinten sie zusammen. Sie hatte ihren Vater bis dahin noch nie weinen sehen. Und trotzdem blieb da doch noch eine Art Wand zwischen ihnen – seine Sexualität, die sie nichts anging und mit der sie auch nichts zu tun haben wollte, und mit der sie doch seit ihrer frühsten Kindheit, zwangsläufig, wenn auch nur indirekt, immer wieder konfrontiert wurde. Jedenfalls mit den gravierenden Folgen.
Und sie? Sie war noch nie so verliebt gewesen wie in Max! An dem verhängnisvollen Samstag hatten sie das erste Mal zusammen geschlafen und damit ein Fundament ihrer Liebe geschaffen. Und darauf bauen sie jetzt auf. Josi und Max. Max und Josi.
Im November würde sie gern mit ihm in eine WG ziehen. Es gäbe da zwei freie Zimmer, bei einem Studentenpaar, Freunde von Max, in Neukölln. Josi würde liebend gern ihren eigenen Haushalt haben, Abstand zu den Eltern, sie besuchen, aber nicht mehr bei ihnen wohnen. Marina sagt, sie könne Josi gut verstehen.
Es gab auch einen Abend, wo sie zu dritt auf der Terrasse saßen, Marina, Papa und sie, als Lou schon schlief. Sie redeten über das Leben, die Versuchungen, denen man ausgesetzt ist, die Fehler, die man macht, und ob man sie durch Beichten tilgen könne.
»Nein«, hatte Josi gesagt. »Fehler muss man wiedergutmachen.« Papa hatte sie daraufhin angeschaut. Ein neuer Anfang.
Sie haben auch über Religion gesprochen, über das Glauben an sich – warum man glaubt und wie viel Glaube normal ist.
Roberts Glaube war auf jeden Fall ein missbrauchter Glaube. Bei den Eheleuten Schneider, die Robert aufnahmen und selbst keine Kinder hatten, musste er regelmäßig beten, beichten und aus der Bibel vorlesen. Bestraft wurde er immer im Namen Gottes. Schneiders hatten ihn ständig spüren lassen, dass er etwas Minderwertiges war, ein unchristliches Kind einer Prostituierten. Und wen Gott in so eine Situation brachte, der hatte es eben verdient und musste Buße tun. Dass Robert Josi aufgelauert und sie beobachtet hatte, wenn sie von der Schule nach Hause ging oder zu Thomas fuhr, wenn sie mit Lou spielte oder Freunde traf, verursacht ihr jetzt noch eine Gänsehaut. Er habe »seine kleine Schwester« und Lou immer retten wollen, hatte er der Psychiaterin in nicht enden wollendem Wortschwall erklärt, retten, vor der Schlange Marina, denn sie und alle ihre Vorgängerinnen hätten schließlich Roberts wahre Familie zerstört, weil sie die Männer betörten, mit ihren High Heels – die Pestilenz schlechthin. Leider sei Josefine auch der Pestilenz verfallen, wenn auch nicht mit High Heels, aber sie habe Max außerhalb ehelicher Bahnen verführt. Robert habe es kommen gesehen, sie jedoch nicht davon abhalten können. An jenem Samstag habe er sich persönlich angegriffen gefühlt, als er vom Garten aus sah, wie die beiden nach oben in Josis Zimmer gingen und den kleinen, unschuldigen Lou im Stich ließen.
Dabei hatte er doch schon wochenlang Kerzen für sie angezündet, nicht nur in der Kirche, sondern auch seine »Kerzen« – abgesägte Absätze, die er in den Rasen steckte und die das Licht in die dunkle, böse Welt bringen sollten –, vergebens, jedenfalls was Josi betraf. Aber Lou war noch zu retten! Er musste ihn nur aus dem Wohnzimmer locken und forttragen. Nicht auszudenken, wenn der Kleine nach oben gelaufen und der Sünde wahrhaftiger Zeuge geworden wäre! Deshalb musste Robert ihn so schnell wie möglich aus den Fängen Babylons befreien. Also habe er einen der Spielzeugroboter, die er reparierte und in einer Kiste im Auto hatte, gegen die Terrassentür laufen lassen, und glücklicherweise hat der Kleine auch sofort reagiert und die Tür aufgemacht. Er habe ihm dann den Mund zugehalten und ihn durch den Garten getragen. Er sei durch die noch offene Pforte gegangen, habe ihn in sein Auto gesetzt und in seine Obhut genommen.
Dass er Lou auch hätte ersticken können, wie er es kurz vorher bei dem zufälligen Aufeinandertreffen mit Lilli Sander getan hatte, war Robert gar nicht in den Sinn gekommen. Lous Benommenheit hatte er als Zeichen Gottes gesehen, als eine Art Gehorsam, ein Zeichen, dass er richtig und gut handelte. Später habe er ihm eine von seinen eigenen Tabletten gegeben, damit es ihm gut ging – so wie es Robert gut ging nach Einnahme seiner Medikamente.
Das Phantombild, das Lou mit der Kinderpsychologin angefertigt hatte, zeigte eine Art Ei mit kleinen Reptilaugen auf zwei Beinen. Er habe sich darüber köstlich amüsiert und Herrn Werner immerhin dazu gebracht, seine Strickjacke auszuziehen und sich eine seiner selbst gedrehten Zigaretten anzuzünden.
Als Max sie an dem Mittwoch angerufen hatte, ihr Handy daraufhin unter Roberts Küchenhocker zerstört wurde, hatte Max Barbara kontaktiert, woraufhin Barbara die Polizei einschaltete. Aber das hatte wenig genützt, denn Herr Werner hatte mal wieder nur stundenlang Fragen gestellt und war erst am nächsten Morgen auf die Idee gekommen, ihr das Phantombild von Lou zu zeigen, woraufhin Barbara sofort sagte, es erinnere sie an Robert. Da war Josi allerdings schon auf dem Weg ins Krankenhaus.
Wie ihre Mutter eine Verbindung zwischen einem Ei mit kleinen Reptilaugen und Robert herstellen konnte, ist ihr bis heute schleierhaft.
Das Zelt steht offen, wolkenloser Himmel. Auch wenn sie döst, Arm in Arm mit Max, rotieren die Gedanken in ihrem Kopf, wie Figuren auf einer eingerosteten Spieluhr, aber es scheppert nicht mehr so laut in ihr, und Schwimmen tut gut. Das ist im Moment das Einzige, was ihren Kopf frei macht. Zum Glück soll das Wetter weiterhin schön bleiben.