Wenn er dir noch einmal wehtut, schlag ich ihn tot!
6:37
Sie musste tatsächlich eingeschlafen sein, denn die Geräusche und das Blaulicht rissen sie aus dem Schlaf. Zuerst wusste sie gar nicht, wo sie war, sah ihr Bett – sie lag davor, auf dem Boden. Der Rücken schmerzte, die Schulter. Alles tat weh. Kalt war ihr auch.
Sie hörte Thomas, er redete mit jemandem, Geräusche von draußen. Die Haustür stand offen. Stimmen mischten sich – und dieses blinkende Blaulicht! Sie sprang aus dem Bett, zum Fenster. Polizeiautos überall!
Sie ging auf die Galerie, hörte, wie Männer mit ihrem Vater sprachen, verstand nicht alles, aber was sie verstand, ließ ihr das Blut in die Beine sacken. Jemand sagte: »Ein Hundebesitzer hat die Leiche in dem Waldstück neben dem Pfad hinter Ihrem Garten gefunden.«
Im Kopf nur noch Klingeln, Rauschen. Die Zunge hing wie Blei im Mund. Sie wollte etwas sagen, fragen, kriegte keinen Ton raus. Sie bekam auch keine Luft mehr, war wie vakuumverpackt, sah sich in Zeitlupe auf das Treppengeländer zugehen, sah noch den roten Ball, der gestern aus Lous Kleiderschrank gerollt war, sah überall rote Bälle auf sie zukommen. Dann hörte sie einen Schrei. Es war ihr Schrei. Plötzlich standen Thomas und ein Mann vor ihr. Thomas zerrte an ihrem Arm und rief andauernd etwas, aber sie konnte diesen Schrei nicht abstellen. Dann flog ihr was ins Gesicht, eine Ohrfeige. Alles verstummte.
»Es ist nicht Lou!«
Seine Worte erreichten sie wie durch einen dicken Nebel.
»Hörst du, es ist nicht Lou!«
Thomas fasste sie an beiden Schultern. In ihrem Kopf summte es wie in einem Bienenstock, ihre Zähne schlugen aufeinander.
»Wir haben eine weibliche Leiche gefunden«, sagte der Mann neben ihm. Er hatte schütteres, braunes Haar und trug eine ausgeleierte grüngraue Strickjacke. Seine Stirn glänzte.
»Mein Name ist Werner, ich bin Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei.« Seine Augen waren zusammengekniffen.
Hauptkommissar … Kriminalpolizei … rauschte es ihr durch die Ohren. Die Maschen dieser grüngrauen Strickjacke kamen auf sie zu und kratzten auf ihrer Haut.
Sie ging mit Herrn Werner und Thomas die Treppe runter, durch das Wohnzimmer. In der Küche ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, unendlich erschöpft. Thomas gab ihr Wasser, sie trank. Alles funktionierte, das Glas ansetzen, einen Schluck nehmen, runterschlucken, atmen. Marina lehnte an der Wand neben dem Tisch, eingewickelt in ihrem weißen Morgenmantel, völlig zerzaust, mit roten Augen. Selbst so sah sie noch sexy aus. »Was ist mit meinem Sohn?«
Josi konnte die Angst aus ihrer Stimme heraushören, sogar fühlen, sie legte sich wie eine Frostschicht über ihre Arme, ihren Hals. Sie schauderte.
Der Hauptkommissar hob abwehrend die Hände. »Ich habe schon gehört …«, setzte er an, als wollte er eine lange Rede halten, die ihm zuwider war. Thomas fiel ihm ins Wort: »Was heißt hier, gehört? Sie sollen ihn finden!«
»Moment mal«, sagte Herr Werner. »Ich verstehe Sie ja, aber die Patrouillen haben eine Leiche gefunden, eine junge Frau, gleich neben Ihrem Grundstück.«
»Was?«, fragte Marina. »Bei uns?«
Josi entging nicht, dass Herr Werner ihren Morgenmantel abscannte, besonders im Brustbereich.
»Ja, zwischen der Bushaltestelle und Ihrem Garten, auf einem kleinen Trampelpfad, der in den Wald führt, Richtung Krumme Lanke.«
Josi stockte das Blut. Durch die Gartenpforte, über den Trampelpfad – genau dort war sie vor ein paar Stunden noch langgelaufen.
Marina rieb sich mit den Fingern über die Schläfen. »Ich will meinen Sohn wiederhaben!«, sagte sie so leise, dass alle verstummten.
»Eine junge Frau? Tot?«, fragte Josi in die Stille hinein. »Wieso denn tot?«
»Wir gehen davon aus, dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist.«
»Ist sie … ermordet worden?«, fragte Marina.
»Sieht ganz danach aus«, sagte Herr Werner. »Einzelheiten erfahren wir später von unserer gerichtsmedizinischen Abteilung. Die Leiche ist schon auf dem Weg dorthin.« Er schaute in die Runde. »Ihr Name ist Lilian Sander. Kannten Sie die Tote vielleicht?«
Irgendwas störte Josi an diesem Hauptkommissar, die Art, wie er fragte, sein Tonfall, als ob es sich hier um ein heiteres Ratequiz handelte, und wie er dabei die Augen zusammenkniff und jeden abschätzend musterte.
»Nein«, sagte Thomas sofort. Josefine spürte die elektrische Ladung in seiner Stimme. Er war angespannt. Das waren sie alle.
»Lilian Sander …« Marina ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Hört sich an wie eine Schauspielerin.«
»Sie war Studentin«, sagte Herr Werner. »Wir haben einen Studentenausweis bei ihr gefunden. Sie war gerade mal neunzehn Jahre alt.«
Thomas raufte sich die Haare. »Hören Sie«, sagte er. »Mein Sohn ist fünf Jahre alt und seit gestern Abend verschwunden. Anscheinend geht hier ein Mörder um. Für die Tote können Sie jetzt nichts mehr tun, aber für meinen Sohn schon!«
»Natürlich suchen wir nach Ihrem Sohn, Herr Herzberg. In ganz Berlin hält jeder Streifenwagen nach ihm Ausschau. Außerdem ist ein Hundesuchtrupp angefordert.«
»Dann helfen Sie ihnen gefälligst suchen, anstatt hier herumzustehen und uns wegen einer Toten zu löchern.« Thomas' Stimme klang schrill. Er verlor die Nerven. Marina sank auf einen Stuhl.
Herr Werner reagierte nicht, sondern musterte Thomas und Marina nur kritisch. Josi kannte diese neugierigen Blicke. Viele hatten Marina schon für seine Tochter gehalten. Josefine und Marina waren auch schon öfter als Schwestern angesehen worden. Josi bemerkte, wie Herr Werner in die Jackentasche seiner Strickjacke griff und einen zerknitterten Tabaksbeutel herausholte. Dabei starrte er auf den mannshohen Edelstahlkühlschrank, als hätte er so ein Teil noch nie gesehen.
»Sagen Sie, wie viel ist dieses Haus wert, Herr Herzberg?«
Thomas stutzte.
»Ich frage Sie nicht aus privatem Interesse. Ich persönlich stehe nicht auf diese kühlen, modernen Kästen, wenn ich mich mal so pauschal ausdrücken darf. Ich bin selbst in einem Kasten aufgewachsen, das reicht mir.« Er gab Tabak auf ein Blättchen und drehte sich eine Zigarette, redete weiter, ohne aufzusehen. »Mir geht es eher um die Summen, für die es sich lohnen könnte, ein Kind zu entführen.«
»Ach so? Ab wann lohnt es sich denn Ihrer Meinung nach?« Thomas war auf Anschlag, aber der Kommissar blieb ganz ruhig.
»Kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
»Hier in der Umgebung stehen überall Villen in ähnlicher Preisklasse, da könnte man eine Menge Kinder entführen.«
Herr Werner leckte das Blättchen an und klebte die Zigarette zu.
»Herr Herzberg, haben Sie Feinde?«
»Nein«, sagte Thomas sofort.
»Und Sie?«
»Natürlich nicht«, sagte Marina.
»So natürlich ist das heutzutage nicht«, sagte Herr Werner und steckte die frisch gedrehte Zigarette wieder in den Tabaksbeutel und ließ diesen in der Strickjacke verschwinden. Dann ging er – langsam, wie in Zeitlupe – aus der Küche. »Wir halten Sie auf dem Laufenden«, sagte er, ohne sich noch mal umzudrehen.
7:15
Josi saß neben dem Backofen. Auf der Anrichte standen die letzten vier Muffins. Die Oberflächen war schon ein bisschen eingeschrumpelt. Thomas hatte Kaffee gekocht und rauchte in der Küche. Er lief die ganze Zeit hin und her. Marina nahm nun schon die dritte Aspirin.
»Geh doch bitte raus zum Rauchen!«, sagte sie und fasste sich an die Schläfen, aber Thomas reagierte nicht. Er war völlig in Gedanken vertieft. Josi wurde auch übel von dem Zigarettenrauch. Es war schon lange her, dass ihr Vater in der Wohnung geraucht hatte. Damals, als sie noch klein war, in ihrer alten Wohnung in Charlottenburg, da gab es Momente, wo er sich vergaß und sich im Wohnzimmer oder in der Küche eine Zigarette anzündete. In angespannten Situationen, wenn es Probleme gab wegen der Arbeit oder er sich mit Barbara gestritten hatte oder wenn Robert seine Schreikrämpfe kriegte. Thomas hatte ihn dann irgendwann angeschrien, dass jetzt aber mal Schluss sei, woraufhin sich Robert in einen Schrank verkroch oder sich unterm Bett versteckte. Was hatten sie ihn zu Anfang immer gesucht! Später wussten sie ja, in welchen Situationen er sich verkroch, sogar im Theater, wenn laute Männer auftraten, mit derben Schritten. Dann kauerte er sich unter den Sitz und der ganze Abend war gelaufen. Mama musste danach immer an seinem Bett sitzen bleiben, bis er eingeschlafen war, und Thomas ging in der Küche auf und ab und rauchte. Vielleicht aus Protest, hatte Josi später mal gedacht, weil Barbara sich nur noch um Robert kümmerte. Dabei hätte Papa ihr Robert ja auch mal abnehmen können. Josi hatte sich in solchen Momenten immer ganz elendig gefühlt, klein, wie ein Staubkörnchen, das in der Zugluft herumgewirbelt wird und in einer Bohlenritze verschwindet, ohne dass es irgendjemand bemerkt.
In dieser Zeit hatte Josi angefangen, ihre Eltern beim Vornamen zu nennen, und war – bis auf wenige Ausnahmen – dabei geblieben.
7:42
Josi konnte den Rauch nicht länger ertragen. Sie ging hoch in ihr Zimmer und rief ihre Mutter an.
»Na, du bist ja früh dran, für einen Sonntag«, sagte Barbara verschlafen. »Guten Morgen!«
»Mama, Lou ist weg.«
»Wie bitte?«
Sie hörte, wie Barbara sich im Bett aufsetzte. Dann erzählte sie ihr alles, auch von der Leiche. Dabei fing sie mehr und mehr an zu frieren und konnte immer weniger sagen, so sehr schlotterte sie.
»Josi!«, hörte sie aus dem Handy. »Du gehst jetzt erst mal unter die Dusche und dann ziehst du dir was anderes an, hörst du, und dann isst du einen Happen und trinkst was! In der Zeit telefoniere ich mit Thomas. Und dann sprechen wir uns wieder, okay?«
7:48
Josi befolgte die Anweisungen. Es tat gut, sich aus der Jeans zu pellen, es tat auch gut, warmes Wasser auf den Kopf prasseln zu lassen. Das Zittern hörte davon auf. Sie zog ihre weite Hip-Hop-Hose an, ein frisches Top und ein ärmelloses Hoody. Allein die neuen Sachen auf dem Körper waren eine Wohltat. Als sie die Treppe wieder runterging, hörte sie Thomas mit Barbara telefonieren. Marina lag auf dem Sofa, Arme über das Gesicht verschränkt.
»Ja«, sagte Thomas und noch mal: »Ja. Natürlich sage ich dir Bescheid, wenn er wieder da ist.« Er hatte es mit seiner weichen Stimme gesagt, aber Josi hörte die Anspannung – Barbara hatte sie bestimmt auch gehört. Niemand kannte Thomas so gut wie ihre Mutter.
»Barbara will dich noch mal sprechen.« Thomas gab Josi sein Telefon.
»Hast du geduscht?«
»Ja.«
»Hast du was Frisches angezogen?«
»Ja.«
»Hast du schon was gegessen?«
»Nein.«
»Dann mach das jetzt. Du willst doch fit sein, wenn Lou wiederkommt, oder?«
»Ach Mama …« Jetzt musste Josi wieder weinen. Barbara tröstete sie. Ihre Stimme war wie Salbe auf einem abgeschrammten Knie. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie jetzt in ihren Armen liegen könnte.
»Willst du zu mir kommen?«
»Nein, ich muss hierbleiben, bis Lou wieder da ist. Ich kann jetzt nicht weg.«
»Soll ich kommen?«
Josi schniefte und holte tief Luft. »Nein. Es geht schon. Ich ruf dich an.«
»Jederzeit, mein Schatz, hörst du?«
»Ja, Mama.«
»Und jetzt iss erst mal was!«
Josi machte sich ein Brot und trank Kaffee. Die Muffins wollte sie für Lou aufbewahren. Er würde sich sicher darauf freuen, wenn er wiederkam. Es war kein Problem für Lou, vier Muffins zu verdrücken.
8:22
Ihr Handy klingelte. Max.
»Bist du schon wach?«
»Ich habe gar nicht richtig geschlafen.«
»Ich auch nicht.« Sie ging auf ihren kleinen Balkon. Seine Stimme, so weich in ihrem Ohr. Hinten, an der Gartenpforte sah sie Leute von der Spurensicherung, oder Spusi, wie sie ja in den Krimis genannt werden. Sie sahen auch genauso aus: weiß eingetütet bis obenhin und mit einem Schriftzug Polizei auf dem Rücken.
»Dann ist Lou … noch nicht wieder da?«
»Nein, Max«, sagte sie und erzählte ihm von der Toten.
8:32
Sie war noch mit Max am Telefonieren, da klingelte es an der Tür. Thomas machte auf. Es war dieser Hauptkommissar.
»Max, ich ruf dich zurück.«
»Soll ich nicht vorbeikommen?«
»Nein«, sagte sie und legte auf. Sie wollte gar nicht so schroff klingen, obwohl sie es ihm immer noch ein wenig übel nahm, dass er gestern Abend so schnell verschwunden war. Schließlich hatten sie miteinander geschlafen. Vielleicht reagierte sie aber auch überempfindlich. Ja, so fühlte sie sich, wie ein freigelegter Zahn.
Herr Werner hatte immer noch diese Strickjacke an, obwohl es schon 20 Grad war. Ein Schweißfilm zierte seine Stirn. Hinter ihm standen Männer mit Hunden. Er sagte, es seien auch schon Taucher unterwegs, in der Krumme Lanke. Josi schluckte.
Die Polizisten trugen schwarze Stiefel und blaue Overalls. Drei hatten Schäferhunde an der Leine. Ein Hund mit Maulkorb hechelte stark. Thomas sollte ein getragenes Kleidungsstück holen. Marina war inzwischen vom Sofa aufgestanden und sagte, er solle eins aus dem Wäschekorb nehmen.
»Es sollte möglichst frisch getragen sein«, sagte ein Polizist.
»Nimm das rote Piraten-T-Shirt. Das liegt in seinem Zimmer«, rief Josi ihm hinterher. »Das hatte er gestern Nachmittag an.« Gestern Nachmittag – es war, als wären Jahre vergangen, seit sie mit Lou im Baumhaus gesessen hatte!
Ein Hund fing an zu bellen, als Thomas mit dem T-Shirt runterkam. Der Mann im Overall nahm es Thomas ab und kniete sich vor den Hund. Der schnüffelte daran und winselte, fing an, sich im Kreis zu drehen. Der Polizist nahm ihm das Kleidungsstück wieder weg und ging mit dem Hund in den Garten. Drei Polizisten in normaler Uniform fragten, ob sie sich im Haus umsehen dürften.
»Sie kennen das Haus nicht wie Sie, deshalb suchen sie mit anderen Augen«, sagte Herr Werner. »Ich weiß, Sie haben schon überall gesucht, aber –«
»Natürlich«, sagte Thomas und gab ihnen den Garagenschlüssel. Josi wollte mit, aber Herr Werner hielt sie zurück.
»Du bleibst hier!«, sagte er und sie erschrak vor seiner Schroffheit. »Ich hätte da nämlich noch ein paar Fragen.« Er betonte das so, als hätte er sie gerade auf frischer Tat ertappt.
Sie setzte sich neben Marina in die Sofaecke. Marina kaute auf ihrer Unterlippe herum. Herr Werner zog ein kariertes Notizheft aus der Hosentasche. Sein Gesicht war teigig, blass, als wäre er den ganzen Sommer über nicht einmal draußen gewesen. Er schwitzte. Ein Zipfel von seinem karierten Hemd ragte unten aus der schlabberigen, grauen Strickjacke heraus. Seine Jeans war viel zu kurz und unten umgenäht. Er trug Sandalen mit grauen Socken, durch die vorn seine Zehen schimmerten. War er wirklich Polizist – und sogar Hauptkommissar? Er sah eher aus wie einer dieser BVG-Kontrolleure, und für den Hauch eines Augenblicks war ihr so, als wäre sie nur beim Schwarzfahren erwischt worden. Dann würde er jetzt ihre Personalien aufnehmen, es würde Ärger geben und teuer werden, aber damit wäre die Sache erledigt. Leider war sie nicht beim Schwarzfahren erwischt worden. Sie hatte viel Schlimmeres verursacht, sie saß hier auf dem Sofa, wo gestern noch Lou gesessen hatte und heute noch sitzen würde, wenn sie nur besser auf ihn aufgepasst hätte! Aber nun hockte sie diesem komischen Kommissar gegenüber, weil wegen ihr Lou verschwunden war, und das nun schon seit über acht Stunden! Die Hoffnung, dass er in irgendeinem Versteck eingeschlafen war, verblasste mit jeder Minute. Obwohl kleine Kinder durchaus auch zehn Stunden durchschlafen können, oder sogar zwölf, versuchte sie sich einzureden, aber sie wusste nur zu gut, nicht Lou. Er war kein Langschläfer. Er wäre längst wieder aufgewacht. Josi schaute nach draußen, in den Garten. Die Terrassentür stand sperrangelweit offen. Ein paar Spatzen hüpften über den Rasen. Als wenn Herr Werner ihre Gedanken lesen könnte, sagte er: »Einmal haben wir sogar ein hyperaktives Kind nach zehn Stunden wiedergefunden. Es hatte sich in ein Schränkchen unter dem Fernseher gequetscht und war dort eingeschlafen. Die Eltern hatten überall nachgeschaut, nur nicht in dieses Möbelstück, auf dem der riesige Flachbildschirm stand.«
»So was haben wir hier aber nicht«, sagte Thomas.
»Es war ja auch nur ein Beispiel«, sagte Herr Werner.
»Trotzdem«, brummte Thomas. »Wir haben keine nutzlosen Dekorationen.«
»Man weiß nie … vielleicht ist Ihr Sohn tatsächlich noch im Haus.«
»In der Garage ist er offensichtlich nicht«, sagte Marina, als das Suchteam aus der Garage zurückkam, kopfschüttelnd. »Außerdem ist mein Sohn nicht hyperaktiv.«
Thomas nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Herr Werner zog daraufhin wieder diesen zerknitterten Tabaksbeutel aus seiner Strickjackentasche und fing an, sich eine Zigarette zu drehen.
»Hier drinnen wird nicht geraucht«, pfiff Marina ihn an. Das Zigarettenblättchen riss ein, Tabakkrümel fielen auf den Boden.
»Möchten Sie eine richtige Zigarette?« Thomas deutete auf die Schachtel Gauloises Blondes auf dem Tisch. »Wir können auf die Terrasse gehen. Entschuldigen Sie den Ton meiner Frau, aber sie hat einen Schock!«
»Nein, danke«, sagte Herr Werner und guckte schon wieder so abschätzend. »Ich bin Nichtraucher. Mir reicht es, wenn ich mir ab und zu eine Zigarette drehe. Das ist auch billiger.« Er lachte kurz auf, obwohl es sich mehr wie ein Räuspern anhörte.
Josi schaute zu, wie er die heruntergefallenen Krümel mit den Fingern zusammenfegte und aufklaubte, aufstand und nach einem Mülleimer fragte.
»Mein Gott, lassen Sie das liegen!«, fauchte ihn Marina an. »Und finden Sie endlich meinen Sohn!«
8:44
Josi kam sich vor wie in einem Tatort, den sie mit Thomas manchmal sonntagabends guckte – seltene Stunden, wenn sie mal nebeneinander auf dem Sofa saßen, während Lou im Bett und Marina bei ihren Eltern oder einer Freundin war. Aber beim Tatort war alles inszeniert, ausgedacht. Solche schrecklichen Verbrechen spielten sich doch nicht in ihrer Welt ab! Jetzt saß sie jedoch einem echten Kommissar gegenüber, sogar Hauptkommissar, der mit seiner Schrulligkeit jedem Tatort-Kommissar den Rang ablief. Josi hatte das ungute Gefühl, dass dieser Typ nicht mal seinen Autoschlüssel wiederfinden würde, wenn er ihn verloren hätte, geschweige denn Lou!
Herr Werner starrte auf den Sockel der Stehlampe neben dem Sofa. Wahrscheinlich hatte er gerade entdeckt, dass er aus reinem, weißem Marmor war, und überlegte, wie viel die Lampe wohl gekostet hatte. War er etwa neidisch?
Er hatte seinen Tabaksbeutel wieder eingesteckt und räusperte sich. »Wie ich gehört habe, Josefine – ich darf dich doch noch duzen –, hast du deinen Halbbruder das letzte Mal hier auf diesem Sofa gesehen.«
Es störte sie, dass er von Lou als ihrem Halbbruder sprach und ihr gar keine Zeit ließ, auf die Duz-Frage zu antworten. Außerdem hatte er sie schon die ganze Zeit geduzt.
»Ja. Wir haben vorher Muffins gebacken.«
»Und dann kam dein Freund Max.«
»Genau.«
»Und ihr seid dann in dein Zimmer gegangen.«
»Nicht sofort. Erst haben wir noch mit Lou den Anfang vom Film geguckt.«
»… und Lou hat dann allein weitergeguckt.«
»Ist ›Lou‹ nicht eigentlich ein Mädchenname?«
»Nicht unbedingt«, sagte Josi. »Man kann ihn für Mädchen und Jungs verwenden.«
Herr Werner runzelte die Stirn. Er schien mit der Antwort ein bisschen überfordert zu sein. Wahrscheinlich musste ein Junge bei ihm Christian oder Ulrich heißen.
»Na ja«, sagte er und holte tief Luft. »Könnte es sein, dass Lou eifersüchtig auf Max war?«
»Nein, wieso denn? Die beiden haben sich gleich gut verstanden, haben hier noch auf dem Boden zusammen mit den Transformern gespielt …«
»Mit den was?«
»Transformern. Das sind Autos, die sich in Roboter verwandeln können.«
Herr Werner nickte. »Könnte es sein, dass Lou frustriert war, als ihr dann in dein Zimmer gegangen seid? Oder hast du ihn vielleicht etwas barsch angesprochen? Schließlich wolltest du endlich mit deinem Freund allein sein, wenn ich das richtig verstehe.«
»Ach Quatsch!« Josi wäre am liebsten in ihr Zimmer gerannt. Die Art, wie Herr Werner sie ausfragte, ging ihr auf die Nerven! Lou war den ganzen Abend gut drauf gewesen. Von Max war er auch begeistert, gleich von Anfang an. Was wollte Herr Werner ihr hier unterstellen?
»Vielleicht ist der Kleine weggerannt, weil er ärgerlich, eifersüchtig oder eben frustriert war?« Seine Stimme ließ keine Ausflüchte zu.
»Nein!«, schrie Josi ihn an.
Er hob eine Hand hoch, als wollte er den Verkehr regeln. »Stopp mal, Josefine, nimm dich nicht so wichtig und sei nicht gleich beleidigt. Ich muss wirklich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« Er nahm seine Hand wieder runter. »Könnte es denn sein, dass Lou sich irgendwo versteckt hat, weil sein Stolz verletzt war?«
Josi schüttelte den Kopf.
»Oder könnte er sich irgendwo eingesperrt haben, wo er nicht allein rauskommt?« Herr Werner guckte Richtung Küche. Was dachte er, dass Lou vielleicht im Backofen kauerte oder in der Mikrowelle hockte?
»Wir haben mit ihm gespielt, und als er den Film geguckt hatte, ging es ihm sehr gut!«
»Könnte der Film ihn denn veranlasst haben, sich irgendwo zu verstecken? Gibt es Szenen, bei denen er Angst gehabt hat?«
»Doch nicht beim Dschungelbuch! Er kennt den Film komplett auswendig.«
»Hat er sich vielleicht gelangweilt und ist woanders hingegangen? Ist er nach oben gekommen, um nachzusehen, wo ihr seid?«
»Nein«, sagte Josefine. »Bestimmt nicht. Wenn er das Dschungelbuch anschaut, ist er völlig in dem Film versunken.«
»Anscheinend aber nicht.« Herr Werners Ton war nun sehr scharf. »Denn wie wie ich von meinen Kollegen gehört habe, ist dein Freund Max ja um dreiundzwanzig Uhr zwanzig zur Toilette gegangen und hat ihn da bereits nicht mehr auf dem Sofa sitzen sehen.«
Herr Werners Augen waren nur noch schmale Schlitze, er hatte Schweißperlen an den Schläfen. In seinem Ton lauerte etwas, was ihr Angst machte. Und warum zog er diese verdammte Strickjacke nicht endlich aus?
»Weil sich Lou in der Zeit noch einen Muffin aus der Küche geholt hat«, sagte Josi so ruhig wie möglich. Wollte Herr Werner etwa Max beschuldigen, weil er ihr gesagt hatte, mit Lou sei alles okay, obwohl er ihn nicht auf dem Sofa gesehen hatte?
»Einen was?«
»Einen Muffin. – So ein kleiner Kuchen.«
»Ach ja? Und woher willst du das so genau wissen?«, bellte Herr Werner. »Wie viele Kuchen waren denn noch da, bevor du mit Max nach oben gegangen bist.«
»Vier«, sagte Josi.
Herr Werner zuckte mit dem Kopf wie eine Echse. »Und wie viele waren heute Morgen noch da?«
»Drei«, sagte Josi schnell und hielt seinem lauernden Blick stand, merkte, wie es heiß ihren Hals hochkroch und sie rot wurde. Sie war noch nie gut im Schwindeln gewesen. Sie rieb sich das Gesicht.
»Offensichtlich ist in der Nacht also noch einer gegessen worden«, sagte Herr Werner mit schnarrender Stimme. »Und von Ihnen hat niemand diesen … Kuchen gegessen?« Herr Werner schaute Marina und Thomas an.
»Ich hasse Muffins«, sagte Marina und verzog den Mund. Josi merkte, dass Herr Werner ihr auch mächtig auf den Senkel ging. Er ließ nicht locker.
»Bleibt dennoch die Tatsache, dass Max den Kleinen weder auf dem Sofa noch in der Küche gesehen hat!«
»Man kann von oben nicht bis in die Küche gucken«, sagte Josi.
»Eben, insofern hat Max ihn auch nicht in der Küche gesehen«, triumphierte Herr Werner und legte einen Finger an die Schläfe. »Trotzdem hat Max, als er von der Toilette zurückkam, zu dir gesagt, dass alles in Ordnung sei mit dem Jungen. Das haben die Kollegen gestern notiert. Stimmt das, Josefine?«
Josi schaute in sein verschwitztes Gesicht und biss sich auf die Lippe. »Ja.«
»Dann hat dein Freund dich also angelogen«, sagte Herr Werner.
»Wieso denn gelogen?« Josi reichte es jetzt wirklich. Er steigerte sich da in etwas rein, was völlig unwichtig war. »Max hat nicht gesagt, dass Lou auf dem Sofa sitzt. Er hat gesagt, dass alles okay mit ihm sei.«
»So so. Alles okay. Und wie will er das wissen, wenn er ihn nicht mal gesehen hat, junge Dame, kannst du mir das mal verraten?«
Josi verschlug es die Sprache. Wie redete dieser Typ eigentlich mit ihr?
»Wie lange war Max denn auf der Toilette?«
»Jedenfalls nicht lange genug, um Lou k. o. zu schlagen, ihn in ein Verließ zu zerren und dort anzuketten.« Sie war jetzt echt sauer.
Herr Werner riss plötzlich die Augen auf und schaute unter die Decke. Josi sah, wie es in seinem Gehirn förmlich knackte. Dann sagte er sehr leise, aber sehr bestimmt: »Es geht nicht um den Jungen allein. Ungefähr zwischen elf und eins trat der Tod von Frau Sander ein. War dein Freund die ganze Zeit bei dir?«
»Ja, natürlich!«
»Woher willst du das so genau wissen? Du bist doch angeblich, nachdem du mit deinem Freund Sex hattest, eingeschlafen. Das hast du meinen Kollegen jedenfalls erzählt. Wie lange hast du denn geschlafen?«
Josi merkte, wie sie glühend rot wurde. Wie konnte er nur in ihrer Gegenwart von Sex reden – das Schöne, was sie mit Max gehabt hatte, auf dieses ausgeleierte Wort reduzieren! Und dachte dieser Mensch etwa, Max spurtet mal eben nach draußen, bringt kurz eine Frau um, entführt Lou und kommt dann zurück ins Bett und kuschelt sich wieder an sie?
»Max war die ganze Zeit bei mir«, sagte Josi so ruhig wie möglich.
Herr Werner nickte. »Das will ich von Max selber hören.«
8:57
Das Suchteam kam von oben und berichtete, dass sie nichts gefunden hatten.
»Hier ist alles sehr übersichtlich«, sagte ein Polizist.
»Wissen Sie noch, als wir das kleine Mädchen in der Wäschetruhe gefunden haben, weil sie beim Versteckspiel dort eingeschlafen war?«, fragte Herr Werner einen der Beamten.
Marina fuhr hoch. »Haben Sie etwa nicht in der Wäschetruhe nachgesehen?«
»Da haben wir gestern schon nachgeschaut«, sagte Josi, aber Marina hörte gar nicht auf sie. Sie stand auf, tapste barfuß auf die Männer zu und schnauzte sie an, dass sie, wenn sie hier schon alles durchwühlten, wenigstens gründlich gucken sollten.
»Beruhigen Sie sich«, sagte Herr Werner und stand auch auf. »Ich weiß, dass es sehr schwer für Sie ist, aber wir tun alles, was wir tun können, okay?!«
Marina schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Sie lief die Treppe hoch und verschwand im Schlafzimmer. Herr Werner und Thomas schauten ihr nach. Noch nie hatte Josi Marina so hilflos gesehen, sie wirkte selbst wie ein kleines Kind.