Er ist weg, Mama! Du kannst mich jetzt holen. Mama, wo bist du? Mama!? Mach auf!
2:28
Als die Polizei kam, war Thomas gerade im Garten. Marina stakste zur Terrassentür und rief nach ihm. Josi machte den Beamten auf. Es waren eine Polizistin und ein Polizist. Josi führte sie ins Wohnzimmer. Thomas kam aus dem Garten. Die Polizisten blieben mitten im Raum stehen und guckten sich um. Die Frau hatte einen dunklen, geflochtenen Zopf, der ihr bis an die Hüfte ging. Ihr Gürtel war mit Handschellen, Funkgerät, Schlagstock, Pfefferspray und Pistole bestückt. Lou hätte an dieser Ausstattung seine wahre Freude gehabt. Josi merkte, dass sie zitterte. In ihr war eine Art Überdruck, der sofort entweichen würde, wenn Lou doch nur auftauchte. Sie hoffte immer noch, dass er jeden Moment hinter einem Sessel hervorspringen würde, lachend, weil er so ein gutes Versteck gefunden hatte. Und sie würde ihn sich dann schnappen, ihn herumwirbeln und sein glucksendes Gesicht küssen. Aber es gab kein Glucksen, Lou blieb verschwunden und sie war schuld! Alles nur, weil sie so scharf auf Max gewesen war! Wie konnte sie Lou nur allein lassen!
Thomas redete und Marina redete dazwischen. Die Polizistin musste immer wieder nachfragen, ihr Zopf schlängelte sich jetzt über ihre Schulter nach vorn. Marina schien nüchterner geworden zu sein, sie lallte nicht mehr. Der Polizist, ein großer, sportlicher Mann, setzte sich auf das Sofa, legte eine schwarze Klemmmappe auf seine Knie und nahm die Personalien auf. Josi schlang die Arme um sich und lehnte sich an den Mauervorsprung neben dem Kamin und versuchte, das Zittern zu unterdrücken. Ihre Klamotten waren klamm und kalt auf der Haut. Max stand hinter ihr, versuchte andauernd, sie zu berühren und zu beruhigen, und beteuerte immer wieder, dass er wirklich gedacht hätte, Lou hätte sich nur einen Muffin geholt oder sich so auf den Teppich oder in einen Sessel gekuschelt, dass er von oben nicht zu sehen war. Das hatte sie ja auch zuerst gedacht, als sie vorhin die Treppe runtergekommen war. Aber er war gar nicht mehr da gewesen und wegen ihr hatte Max nicht darauf reagiert. Sie hatte ihn doch extra noch gebeten, er solle leise an der Treppe vorbeigehen, damit Lou ihn nicht sehe. Sie wollte, dass Max schnell zurück ins Bett kam. Nur darum war es ihr gegangen!
Sie fing an zu schlottern. Max holte eine Decke vom Sofa und legte sie ihr über die Schultern. Sie schüttelte sie wieder ab. Sie fand, ihr dürfe nicht warm sein, nach all dem, was sie angerichtet hatte.
Die Polizistin nahm ihren Zopf und warf ihn sich über die Schulter, fragte, wo der Junge zuletzt gesehen worden sei.
»Hier auf dem Sofa«, sagte Josi in einem Ton, als könnte sie damit alles wiedergutmachen.
»Und das ist die Tür, durch die er verschwunden ist?« Sie zeigte auf die Terrassentür. Josi nickte und zuckte gleichzeitig die Schultern. Woher sollte sie das wissen und warum sollte Lou durch die Tür verschwinden? Wohin denn, verdammt noch mal?
»Ich habe die Terrassentür angefasst, wahrscheinlich habe ich alle Fingerabdrücke zerstört. Ich war ja schon im Garten. Wir waren alle schon im Garten.« Plötzlich schossen die Tränen nur so aus ihr heraus. Es war, als hätte jemand ein Ventil geöffnet.
Max war sofort bei ihr und nahm sie in die Arme. Thomas kam auch auf sie zu, blieb aber einen Schritt vor ihr stehen. Marina schlug sich mit den Händen an den Kopf und fing an zu schreien: »Mein Kind! Wo ist mein Kind!«, als würde sie erst jetzt begreifen, dass Lou weg war.
Josi konnte Max jetzt nicht so nah bei sich haben, es war, als schnürte er ihr die Luft ab. Sie machte sich von ihm los, stolperte in Thomas' Arme, wollte etwas sagen, aber es kam kein Wort mehr aus ihr heraus, nur Schluchzen und Tränen.
»Bitte beruhigen Sie sich«, hörte sie die Polizistin sagen. »Wir brauchen keine Fingerabdrücke. Sicher wird sich bald alles aufklären. Vielleicht hat der Kleine sich hier irgendwo versteckt und ist dann eingeschlafen.«
»Das haben wir auch schon gedacht«, sagte Max.
»Und Sie haben im Haus wirklich alles abgesucht?«
»Ja, natürlich!«, schnauzte Thomas sie an.
Bevor die Polizei gekommen war, hatten sie noch mal das ganze Haus durchforstet. Josi lehnte sich an den Kamin, das Schluchzen hörte einfach nicht auf, es kam tief aus ihrem Innern, mit einer Wucht, die nicht zu stoppen war. Josi konnte kaum mehr atmen. Plötzlich stürmte Marina auf sie zu und packte sie am Handgelenk und schüttelte es heftig.
»Reiß dich zusammen, Josefine!«, zischte sie. Es war wie ein Schwall kaltes Wasser, voll ins Gesicht. Josi schnappte nach Luft, schaute Marina an. Sie schien jetzt vollkommen klar und nüchtern zu sein. Sie ließ ihr Handgelenk los.
»Also noch mal von vorn«, sagte die Polizistin. »Der Junge war dort, wo jetzt mein Kollege sitzt, und hat einen Film geschaut …«
Josi sagte: »Ja.«
»… während Sie und Ihr Freund …«, fuhr der Polizist fort und schaute auf seine Unterlagen, »… Max Krause, oben in Ihrem Zimmer waren.«
Josi sagte wieder: »Ja.«
»Und Sie haben nichts gehört? – Irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche?«
»Nein, nichts.«
»Hätten Sie denn oben gehört, wenn der Junge nach Ihnen gerufen hätte?«
»Ja, klar!«, sagte Josi.
»Sie sollte auf Lou aufpassen. Wir haben uns darauf verlassen«, mischte sich Marina ein. »Aber nein, Mademoiselle geht lieber mit dem da ins Bett!« Sie zeigte nun mit dem Finger auf Max.
»Red nicht so einen Quatsch!«, fuhr Thomas sie an. »Das nützt keinem was.« Er wandte sich an die Polizisten. »Tut mir leid, aber wir kommen gerade von einer Party wieder und meine Frau hat offensichtlich zu viel getrunken.«
Ja, Thomas, lass dir nicht alles von ihr gefallen. Sag, wo Lou ist und dass alles nur ein Spiel war und jetzt vorbei ist! Aber Thomas sagte gar nichts mehr. Marina benahm sich öfter mal daneben. Immer wollte sie die volle Aufmerksamkeit, hielt sie sich für was ganz Besonderes, nur weil sie so schön war, schlank und blond, mit großem Busen und langen Beinen. Dabei war sie nur schön anzuschauen, aber sobald sie den Mund aufmachte, kam nur Schwachsinn heraus. Josi hatte sich schon öfter gewundert, wie Marina es überhaupt bis zum Studium geschafft hatte, wo sie dann Thomas, ihren Prof, kennengelernt hatte. Und wie Thomas überhaupt auf so eine reinfallen konnte!
Sie sah die Ärgerfalten zwischen Thomas' Augenbrauen. Die waren in letzter Zeit auch tiefer geworden. Das hatte er nun davon!
Er guckte Marina böse an. Sticheleien konnte er noch nie ertragen. – »Die Weiber sollen gefälligst die Klappe halten und hübsch aussehen, möglichst jung und leicht bekleidet vor dem Professor hertrippeln.« Das hatte Barbara, ihre Mutter, mal zu Josi gesagt und dieser Satz hatte sich wie ein Zeichen unter ihre Haut gebrannt. Mama war damals sehr verletzt gewesen, als sie herausbekommen hatte, dass sich ihr Mann mit seinen Studentinnen vergnügte. Marina war schließlich nicht die Erste gewesen. Dass Thomas an ihr hängen geblieben war, kam nur, weil sie gleich schwanger wurde und das Kind unbedingt haben wollte. Sie war damals gerade zwei Jahre älter als Josi jetzt, 19. Barbara wollte mit dieser »Tussi hoch zehn« nichts zu tun haben. Und wenn es Lou nicht geben würde, wäre Josefine wahrscheinlich auch nicht so oft bei ihrem Vater. Josi liebte Lou vom ersten Tag an. Niemals würde sie den Augenblick vergessen, als sie ihn ein paar Tage nach der Hausgeburt das erste Mal auf den Arm nehmen durfte. Sie hatte ihn im ersten Jahr bestimmt mehr auf dem Arm gehabt als Marina, die ihn auch nicht stillen wollte, weil sie Angst um ihren Busen hatte.
All das ging Josefine jetzt durch den Kopf – sie sah Lou vor sich, als er noch ein Baby war, wie er anfing zu krabbeln, wie sie sich die Knie wund gescheuert hatte, weil sie mit ihm auf Knien durchs Haus gerutscht war – er rückwärts, sie vorwärts. Manchmal hatte Lou sogar »Mama« zu ihr gesagt, woraufhin Marina meinte, das sei nur, weil er »Josi« noch nicht aussprechen konnte.
»Lassen Sie mich noch mal zusammenfassen«, sagte der Polizist und schaute auf seine Notizen. »Gegen dreiundzwanzig Uhr saß der Junge auf dem Sofa und hat einen Film geguckt …«
»Das Dschungelbuch«, unterbrach ihn Josi.
»Ist doch scheißegal, welchen Film«, pfiff Marina sie an. »Es ist unglaublich, dass du Lou spätabends vor dem Fernseher parkst, nur damit du in Ruhe rumvögeln kannst.«
»Marina, es reicht!« Thomas' Ton war scharf wie ein Messer. Er schnitt ihr das Wort ab. Sie verstummte sofort.
Der Polizist räusperte sich und fuhr fort: »… und gegen Viertel nach eins haben Sie bemerkt, dass er nicht mehr auf dem Sofa war. Sie haben dann im ganzen Haus gesucht, und weil die Terrassentür offen war, sind Sie auch in den Garten gegangen, wo Ihnen auffiel, dass die Gartenpforte offen stand, obwohl sie für den Jungen nicht zu öffnen war. Und dann kamen Sie, Herr Herzberg, und Sie, Frau Herzberg, von einer Party wieder und wurden von der Situation unterrichtet, woraufhin Sie mit der Suche fortfuhren.«
Thomas nickte.
»Okay«, sagte die Polizistin und schwang ihren Zopf wieder nach vorn. »Wir brauchen ein aktuelles Foto und werden sofort eine Meldung an alle Streifen geben, um die Gegend abzusuchen. – Könnte er bei irgendwelchen Freunden sein?«
Thomas zuckte die Schultern. Josi hatte ihren Vater noch nie so hilflos gesehen.
Die Polizistin zog ihr Handy aus der Hosentasche und telefonierte. Nebenbei fragte sie, ob Max über Nacht bleibe.
»Nein«, sagte Max sofort. Josi spürte einen Stich im Magen – wie schnell er das gesagt hatte! Er hätte sie ja auch mal fragen können.
»Ich komme morgen vorbei«, sagte er und flüsterte ihr »Schlaf jetzt« ins Ohr. Als wenn sie jetzt schlafen könnte!
»Herr Herzberg!« Der Polizist stand schon an der Tür. »Ist das schon mal vorgekommen, dass Ihr Sohn verschwunden ist?«
»Nein«, sagte Thomas, seine Stimme kaum noch unter Kontrolle. »Der Junge ist gerade mal fünf Jahre alt!«