Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.
4:10
Sie knipste das Licht an, griff nach einem Stuhl, rammte die Lehne unter die Klinke, schrie auf, als sie einen Knauf entdeckte, mit dem man die Tür verriegeln konnte, wie in einem Badezimmer. Sie nahm den Stuhl blitzschnell noch mal weg und drehte am Knauf. Er ließ sich zweimal umdrehen. Dann rammte sie den Stuhl wieder unter die Klinke.
»Raus hier, raus hier, raus hier!«, spornte sie sich an und lief zum Fenster. Aber was war das? Die Fenstergriffe waren mit einer Eisenkette umschlungen und einem Sicherheitsschloss versiegelt. Verknotete Fenster – das hatte Lou gesagt. Er war also in diesem Raum gewesen und er war dann einfach gegangen, als der »alte Mann« schlief. Damit, dass Robert in der nächsten Zeit schlafen würde, war nicht zu rechnen, auch nicht, dass sie diese verknoteten Fenster aufkriegte. Hatte er sie wegen Lou verriegelt?
In dem Moment hörte sie Robert nebenan einen Befehl rufen und die Rollläden gingen runter. Nein! Sie stand davor, völlig erschöpft. Die Arme hingen wie mit Blei gefüllt an ihr herab und jeder Atemzug tat weh. Die Beine knickten ihr weg, sie ging in die Knie. Sich auf den Boden legen und die Augen zumachen – die Decke bis ans Kinn ziehen und auf den Tod warten …
»Mach die Tür auf!« Robert trommelte mit den Fäusten gegen die Tür.
Josi konnte sich immer noch nicht rühren. Auf allen vieren checkte sie den Raum: neben ihr ein zerwühltes Bett, mit schmuddeligem Bezug. Auf dem Boden Socken und Unterhosen, ein Klamottenberg, eingetrocknete Essensreste auf Tellern, Plastikflaschen, DVDs, eine angebissene Marshmallowmaus. Ein Sessel, ein Schrank.
»Mach sofort auf!« Sie hörte, wie Robert gegen die Tür wummerte. Dann aufschrie. Im Nu war sie auf den Beinen.
4:16
Robert wummerte wieder gegen die Tür und brüllte. Er klang wie ein wildes Tier, das gerade aus einer Höhle gekommen war und sie in Stücke reißen würde, wenn es sie erwischte.
»Denk nach, Josi! Denk nach!« Sie biss sich auf ihre Lippe und schmeckte Blut auf der Zunge. – »Wenn man ein Problem nicht lösen kann, vergiss es für einen Moment und betrachte es dann aus einem anderen Blickwinkel«, pflegte Papa immer zu sagen.
Ihr Problem war jedoch nicht zu vergessen, nicht eine Sekunde! Es wummerte schon wieder gegen die Tür. Aber ein anderer Blickwinkel wäre trotzdem gut.
Sie lief zum Fenster und entdeckte die Gardinenstange, eine Art Speer mit zwei Pinienzapfen am Ende. Das Teil sah solide und schwer aus, kein Ikea-Scheiß. Vielleicht konnte sie damit die Scheibe einschlagen, zumindest würde sie nicht ohne Waffe sein, wenn Robert es schaffte, die Tür aufzubrechen.
4:22
Sie hängte sich mit aller Kraft an einen der Vorhänge, sprang an ihm hoch wie an einem Turnhallenseil, bis es krachte und sie mit dem Vorhang auf den Boden fiel.
Im Nebenraum war es still geworden.
»Robert?« Keine Antwort. Das war noch unheimlicher als sein Gehämmere.
Die Stange lag noch fest in der Halterung. Sie ging zum anderen Vorhang und riss auch den herunter. Die Stange rührte sich nicht. Dann entdeckte sie das kleine weiße Kästchen in der Wand, das gleiche, das Thomas neben dem Kamin hatte. Damit ließen sich die Rollläden bedienen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie eine Hand mit der anderen festhalten musste, um die kleinen Knöpfe zu treffen. Sie war jetzt im Menü, sah die Zeichen und Pfeile und drückte auf den nach oben zeigenden Pfeil und da ruckte der Rollladen und setzte sich langsam und surrend in Bewegung. Der Lichtspalt wurde langsam größer, blendete sie. Draußen war es fast hell.
Sie sah die Einfahrt der Garage unter ihr. Und dann sah sie Robert. Draußen. Er kam aus dem Garten und er hatte etwas in der Hand. Eine Axt!
Sie sah, wie er zurück ins Haus lief. Sie rückte sich den speckigen Ledersessel ans Fenster, kam außer Atem dabei, stellte sich auf die Lehne.
»Mach die verdammte Tür auf, du Miststück!«, brüllte Robert. Und dann krachte die Axt mit voller Wucht in die Tür. Sie hörte Holz splittern. Fast wäre sie bei dem Schlag vom Stuhl gefallen. Sie rüttelte an der Halterung der Gardinenstange. Sie war mit zwei Schrauben fest in der Wand verankert und wackelte nur ein bisschen. Es fehlten nur ein paar Zentimeter, bis sie die Gardinenstange zu fassen kriegte. Sie stellte sich auf Zehenspitzen – und rutschte beinahe von der Sessellehne! Sie sprang mit beiden Händen an die Stange, hing dort, zwei, drei Sekunden, die Halterung knirschte langsam aus der Wand und sie fiel mitsamt der Stange erst halb auf den Sessel, dann auf den Boden. Ihr Knie war dabei gegen die Wand geknallt; der Hintern taub. Ihr wurde schwarz vor Augen. Putz rieselte auf sie herab. Der nächste Axtschlag hieb in die Tür und krachte, als würden ihre Knochen splittern. Er ließ sie aufspringen, mit der Stange in der Hand.
Diesmal war schon die halbe Schneide der Axt zu sehen, aber sie steckte fest. Josi hörte, wie Robert sich abmühte, die Schneide aus dem Holz zu reißen.
Sie holte aus und haute das Ende der Gardinenstange gegen die Scheibe, aber davon fiel nur der Pinienzapfen ab und kullerte durchs Zimmer. Robert zerrte noch immer an der Axt, keuchte und fluchte dabei. Sie versuchte, die Scheibe frontal mit der Stange einzuschlagen, ohne Erfolg. Das musste so ein Dreifach-Isolierglas sein, so eins, womit man jede Menge Energie sparte und das absolut einbruchsicher war. So was hatte Thomas auch in seinen Fenstern. Sie sah, wie die Axt mit einem Ruck aus dem Holz verschwand, und hörte einen Knall im Nebenzimmer, dann schepperte es, als wäre ein Computer runtergefallen. In der Tür war jetzt ein schmaler Spalt. Für einen Augenblick war es still. Hatte Robert sich durch den Rückschlag vielleicht selbst außer Gefecht gesetzt?
Sie hörte ihr Herz rasen. So schnell konnte ein Herz doch gar nicht schlagen! Bestimmt würde sie gleich einen Herzinfarkt kriegen.
Sie sah den Pinienzapfen neben dem Bett liegen. In dem Moment krachte die Axt wieder in die Tür, vergrößerte den Spalt. Diesmal bekam Robert die Schneide ohne Schwierigkeiten aus dem Holz und schlug gleich wieder zu. Sie sprang zum Zapfen, hob ihn auf und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen das Fenster. Es knisterte. Und dann sah sie einen Riss in der Scheibe und von dem Riss ging ein weiterer Riss aus und viele kleine Risse schlängelten sich durchs Glas. Sie hielt die Luft an. Es knisterte. Im Loch in der Tür erschien ein Teil von Roberts knallrotem Gesicht.
In dem Moment griff sie nach dem Gardinenstangen-Speer und rannte zum Fenster, stieß mit voller Wucht gegen die Risse, stocherte, bis das Glas barst, hörte Robert im Hintergrund: »Bitte, lieber Gott, gib Josi die gerechte Strafe, sie hat es verdient!«
4:39
Josi kletterte aufs Fensterbrett, trat den Rest Scheibe aus dem Fenster, unter ihr Pflastersteine, die Einfahrt zur Garage, es war verdammt hoch, sie zögerte einen Augenblick, aber da sah sie Roberts Hand durch den Holzspalt greifen, seinen Arm, sah noch, wie er versuchte, an die Verriegelung zu kommen, aber die Stuhllehne versperrte ihm den Zugriff. Alles in ihr drängte vorwärts, sie spürte etwas in ihr Fleisch schneiden, tief in die Schulter, in den Arm. Es wurde ganz heiß in ihr. Dann sprang sie.