… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Amen.

18:04

Josi war, als hätte man ihr Eiswürfel in den Kragen geschüttet. Sie fühlte ihre Wirbelsäule nicht mehr, die Hände waren taub, die Füße fern von ihr. Irgendwo da oben war ihr Kopf und brummte. Diese Lilli hatte mehr von ihrem Vater gewollt. Es war also nicht nur ein One-Night-Stand gewesen, wie er die ganze Zeit behauptet hatte, sondern eine richtige Beziehung, wegen der er sogar seine Familie verlassen wollte. Er hatte alle angelogen, sogar sie, heute Morgen, und das voll ins Gesicht. Eiskalt – genauso eiskalt, wie er dann plötzlich umgeschwenkt war und mit Lilli Sander Schluss gemacht hatte, was sie nicht so einfach hinnehmen wollte. Deshalb war sie Samstag hier, um ihn zur Rede zu stellen. So war das also.

Josi verstand das einfach nicht! Dass Thomas Marina anlog, war ja noch nachzuvollziehen, aber wieso sie, seine Tochter? Ihr hätte er doch wenigstens die Wahrheit sagen können! Was hatte sie mit seinen Frauen zu tun!

Marina war völlig ausgerastet, als sie vorhin wiederkam. Sie würdigte Thomas keines Blickes, telefonierte im Gehen mit Ingrid, ihrer Mutter, sagte, sie könne nicht mehr unter einem Dach mit diesem Mann leben. Er habe sie derart hintergangen, das hielten ihre Nerven nicht mehr aus. Erst verschwände ihr Sohn und dann diese Sache mit der Toten. Wahrscheinlich sei Thomas sogar ein Mörder! Thomas stand da und tippte sich an die Stirn. Sie hatte ihm noch einiges an den Kopf gepfeffert. Josi war in ihr Zimmer gelaufen, zu Lou. Er schlief immer noch wie ein Stein, schon seit fast drei Stunden. Sie schaute ihm zu, wie er atmete. Sein Mund war halb offen und er sah total entspannt aus. Sie stellte sich an die Balkontür. Von hier aus hatte Max sie also beobachtet, als sie schlief. Lou schnarchte ganz leise. Sie griff nach ihrem Handy und hatte mehrere SMS. Max fragte, wann er vorbeikommen könnte, er habe Sehnsucht nach ihr und wollte Lou sehen. Miriam wollte wissen, was nun los sei. Es habe sich herumgesprochen, dass eine Leiche neben ihrem Garten gefunden wurde. Was da passiert sei, wollte sie wissen. Allein der Gedanke, etwas erklären zu müssen, war Josi zu viel. Sie wollte gerade zu Lou ins Bett kriechen, da klingelte ihr Handy. Max. Er sei unten, vorm Haus. Er müsse sie dringend sprechen, traue sich aber nicht zu klingeln, weil er laute Stimmen höre, als streite sich jemand.

»Die Klingel geht sowieso nicht, ich komm runter.«

Sie zog die Zimmertür zu und hoffte, dass Lou nicht von dem Gekeife wach wurde.

Max sah blass aus. Er war nervös. Küsste sie kurz und fragte, ob sie ein bisschen gehen könnten, er würde ihr dann alles erzählen.

»Was ist denn passiert?«

»Sie haben eine Kippe von mir an der Bushaltestelle gefunden – ›in unmittelbarer Nähe der Toten‹, wie sie es nennen.«

Josi blieb stehen. »Wieso denn an der Bushaltestelle?« In ihr klickten sofort wieder diese Bilder zusammen: Max mit lippenstiftverschmiertem Mund, Hand in Hand mit Lilli in den mörderischen High Heels.

»Josi?« Max fasste sie an den Arm. Sie zog ihn weg.

»Max, sag jetzt bitte ganz ehrlich: Bist du zum Rauchen in den Garten gegangen? Und von da aus vielleicht aus der Gartenpforte über den Trampelpfad und hast vielleicht …«

»Nein!«

Josi zuckte zusammen. Max stand mit aufgerissenen Augen vor ihr und schüttelte den Kopf.

»Hör zu«, sagte er. Seine Stimme zitterte. »Als ich zu dir kam, habe ich vorher noch eine geraucht.«

»Im Regen, auf dem Rad?«

»Ja. Es hat ja nicht so doll geschifft, als ich unterwegs war. Und dann habe ich die Kippe vom Fahrrad geschnippt, in die Bushaltestelle. Die Bushaltestelle ist gleich neben dem Trampelpfad, wo sie die Leiche gefunden haben. Also, in der Nähe der Toten. Aber zu der Zeit war da ja noch keine Tote. Die hat ja zu der Zeit noch gelebt. Das weißt du doch! Aber meine Kippe haben sie da gefunden, eben ›in unmittelbarer Nähe der Toten‹.«

»Woher weißt du denn so genau, dass du die Kippe in die Bushaltestelle geschnippt hast?«

»Weil da die blöde BILD-Reklame hängt, wo all diese prominenten Idioten angeblich kein Geld für die Werbung bekommen. Ich habe das dieser Moderations-Tussi – wie heißt sie noch gleich? Ist ja auch egal –, auf jeden Fall habe ich ihr die Kippe in Gesicht geschnippt und getroffen. Darüber habe ich mich noch gefreut, weil ich die so was von scheiße finde, genau wie diese Werbekampagne von BILD. Mit solchen Lieblingen der Nation wird so ein mieses Blatt in der Gesellschaft etabliert!« Max blähte die Nasenflügel. Ja, das war ihr Max. Er log sie nicht an! Sein Temperament, seine politische Einstellung – das konnte er nicht erfinden. Deswegen liebte sie ihn doch auch, weil er einer der wenigen in ihrem Umfeld war, der eine eigene, kritische Meinung hatte und sie auch vertreten konnte.

Sie schämte sich wegen ihrer Gedanken – wie konnte sie nur solche Zweifel an ihm haben?

»Glaubst du mir?«, fragte er und sah ihr in die Augen.

»Ja«, sagte sie. »Ich glaube dir!«

Er zog sie an sich, in seine Arme, und hielt sie fest. Sie hielt ihn auch fest. Autos fuhren vorbei. Eine Frau mit einem Hund musste auf die andere Seite wechseln, weil sie mitten auf dem Bürgersteig standen und sich umarmten, sich festhielten.

Irgendwann machten sie sich los und standen voreinander.

»Das musst du Herrn Werner sagen. Am besten sofort, bevor der sich was zusammenreimt. Vielleicht sieht man ja noch einen Fleck auf der Reklametafel.«

»Das habe ich ihm ja schon gesagt, weil er mir unterjubeln wollte, ich wäre später zum Rauchen runtergegangen, zur Tatzeit. Meine andere Kippe, die ich vom Balkon geschnippt habe, haben sie komischerweise nicht gefunden.«

»Hast du nicht gesagt, sie hätten mehrere Kippen in ›unmittelbarer Nähe der Toten‹ gefunden?«

»Ja. Da lagen wohl auch noch zwei andere, die nicht von mir sind.«

»Von wem sind denn die?«

»Keine Ahnung«, sagte Max. »Wahrscheinlich vom Mörder.«

»Weißt du, welche Marke es ist?«

»Nein. Haben sie mir nicht gesagt.«

Max zündete sich eine Zigarette an. Dass er jetzt rauchen konnte! Ihr wurde schon schlecht vom Zugucken. »Max, bitte«, sagte sie. Er hielt die Zigarette weg, damit sie keinen Rauch abbekam, inhalierte tief.

»Ich war es nicht«, sagte er und pustete den Rauch in den Wind. »Ich habe überhaupt kein Motiv. Man mordet nicht ohne Motiv!«

Sie schaute ihm in die Augen. »Liebst du mich wirklich?«

»Ja!« Er schnippte die Zigarette weg.

Sie küsste ihn auf die Wange, auf den Mund, schmiegte sich in seine Halsgrube. »Ich liebe dich auch.«

Sie sah seine Zigarette vor dem Zaun, sie glühte noch. Hoffentlich waren die anderen zwei Kippen an der Bushaltestelle keine Gauloises Blondes, dachte sie.

18:44

Als sie zurückkam, saß Lou in ihrem Bett und rieb sich die Augen, neben sich der neue Roboter, den Thomas immer noch nicht repariert hatte.

»Warum schreit die Mama so?«

»Marina ist … sie ist ganz durcheinander. Sie hat sich solche Sorgen um dich gemacht.« Josi konnte Lou doch nichts von der Leiche erzählen!

»Wieso schreit sie den Papa an?« Lou stand auf. Josi versuchte ihn abzulenken, aber Marinas Gekeife war nicht zu überhören.

»Hat die Mama den Papa nicht mehr lieb?« Lous Augen füllten sich mit Tränen. Es zerriss Josi das Herz. Er lief nach unten. Josi hörte, wie Marina verstummte. Sie ging ebenfalls nach unten. Da standen sie sich gegenüber, Thomas und Marina, wie in einem Boxring. Lou rannte an Marina vorbei auf Thomas zu und umklammerte sein Bein. Josi kam sich fehl am Platz vor, fremd. Eigentlich wollte sie längst gehen, nach Kreuzberg, nach Hause, aber sie konnte Lou doch jetzt nicht alleinlassen, schließlich ging gerade seine Familie in die Brüche. Am liebsten hätte sie auf irgendwas eingeschlagen – auf ein Kissen, auf die Sofalehne oder auf Thomas' Rücken. Ja, Thomas' Rücken wäre dafür gerade genau richtig.

Vielleicht hatte Papa ja noch mehr Geliebte als nur diese Lilli Sander? Mittlerweile traute Josi ihm alles zu.

Wirklich? Alles?

Sie sah, wie Thomas Lou auf den Arm nahm. Lou schmiegte sich an ihn. Sie sah, wie seine große Hand auf Lous schmalem Rücken lag und ihn sanft streichelte – Papa konnte so zärtlich sein!

Armer Lou. Er wusste nichts von alledem. Er genoss Thomas' Hand auf seinem Rücken, die Wärme, die von ihm ausging, von seinem Papa, der sie alle angelogen hatte.

Aber wer gibt schon gern zu, dass er eine Geliebte hat? Außerdem hatte Herr Werner ihn derart unter Druck gesetzt. Und wie schnell man ins Lügen kommen konnte, hatte sie ja selbst erfahren, als sie Herrn Werner angeschwindelt hatte wegen der Muffins.

Das war aber doch was ganz anderes! Hier ging es darum, dass ihr Vater sich durch seine Lügerei mehr und mehr als Mörder verdächtig machte. Außerdem hatte er ein Motiv.

Marina stürzte auf Thomas zu und riss an Lous Arm. »Wir gehen jetzt zu Oma Ingrid«, sagte sie. Lou zog seinen Arm zurück.

»Ich will aber nicht zu Oma Ingrid.« Er machte einen Schmollmund und vergrub den Kopf in Thomas' Halsgrube. Josi wusste, dass er nicht so gern bei Marinas Mutter war, weil er sich dort kaum bewegen konnte. Die Wohnung in Steglitz war zwar riesig, aber alles war hyperaufgeräumt und nicht nur sauber, sondern hygienisch rein.

»Lou, komm! Wir gehen!«, drängte Marina noch mal, aber Lou schüttelte den Kopf, ohne sie dabei anzusehen.

»Will bei Papa bleiben«, nuschelte er.

»Geh du zu deiner Mutter«, Thomas klang müde, aber bestimmt. »Lou bleibt hier, in seinem gewohnten Umfeld, so, wie die Psychologin es gesagt hat.«

»Aber …«

»Ist schon gut, Marina. Geh du einfach«, sagte Thomas leise, aber bestimmt.

»Ich kann auch noch bis morgen bleiben«, sagte Josi.

»Au ja!«, rief Lou.

Marina drehte sich auf den Absatz um und ging, ohne noch ein Wort zu sagen.

20:08

Der Dienstagabend verlief leise, ruhig und friedlich. Es war ein bisschen so, wie ins Grüne zu fahren, nur mit Lou und Thomas. Sie bestellten Sushi und Pizza und aßen zusammen auf dem Sofa. Die Terrassentür stand offen und ein warmer Sommerwind wehte ab und zu herein. Alles hätte so schön sein können, wenn da nicht dieser Druck in Josis Brust wäre – die Sorge, dass ihr Vater etwas mit dem Tod von Lilli Sander zu tun hatte. Sie versuchte, sich da nicht weiter reinzusteigern, damit dieser kostbare Moment nicht zerstört wurde. Könnte sie das doch nur unbeschwert genießen, jetzt, wo Lou wieder da war! Aber die Wut, Angst und Enttäuschung lasteten auf ihr und schmerzten, besonders wenn sie Thomas mit diesen Sorgenfalten zwischen den Augenbrauen sah. Trauerte er um Lilli Sander? Oder um seine Familie? Was hatte sie ihm wirklich bedeutet? Was verheimlichte er? Da war doch noch was!

Josi traute sich nicht, ihn zu fragen. Sie wollte nicht noch mal angelogen werden. Sie wollte eigentlich gar nichts mehr wissen. Hoffentlich fand die Polizei bald den wahren Mörder. – Und wenn es wirklich ihr Vater war?

Lou flegelte sich zwischen Thomas und sie und war sehr anhänglich. Morgen wollte Frau Bruchhusen wieder vorbeikommen, um ein bisschen mit ihm zu spielen, diesmal allein. Josi hatte auch noch nichts weiter über den »alten Mann« erfahren können. Aber als sie jetzt alle zusammen auf dem Sofa saßen und fernsahen, sagte Lou plötzlich, dass der Roboter »von da gekommen« sei. Er zeigte auf die Terrassentür.

»Dein neuer Roboter?«, fragte Thomas.

Lou nickte.

»Der ist zu dir gekommen? Hierher?«

»Der ist gegen die Tür gerannt.« Er machte das Geräusch nach.

»Und dann hast du die Tür aufgemacht?«

Lou nickte. Das hatte er Josi ja auch schon erzählt.

»Und dann?«

Josi biss sich auf die Unterlippe und hielt die Luft an.

»Und dann?«, fragte Thomas noch mal.

Lou zog die Schultern hoch.

»Hast du die Tür aufgemacht?«

Lou nickte.

»War der alte Mann da?«

Lou zuckte die Schultern.

»Wie sah der alte Mann denn aus?«, versuchte es Josi noch mal.

»Der hatte überhaupt keine Haare mehr«, sagte Lou.

»So wie Herr Dittfurth?«

Lou guckte unter die Decke und grinste. »Nee«, sagte er. »Ganz anders. Aber er hatte eine glatte Glatze.«

23:11

Josi hatte sofort, als Lou schlief, Herrn Werner angerufen. Er schien auch schon geschlafen zu haben, jedenfalls klang er genervt, dass er um diese Zeit noch gestört wurde.

»Lou hat gesagt, der alte Mann, der ihn mit dem Spielzeugroboter dazu gebracht hat, die Terrassentür zu öffnen, hatte eine Glatze«, sagte Josi. »Aber Herr Dittfurth war es nicht. Den kennt er ja. Da muss man nach einem anderen Mann fahnden.«

»Erzähl du mir nicht, wonach ich fahnden muss, Mädchen«, brummte Herr Werner. »Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren im Geschäft und weiß, wie ich meine Ermittlungen zu führen habe. Okay?«

»Und was heißt das jetzt?«

»Dass der Dittfurth noch immer kein wasserdichtes Alibi für die Tatzeit hat. Aber was erzähl ich dir das.«

»Sie hatten ihn doch wegen Kindesentführung verdächtigt …«

»Mädchen, hier geht es um Mord! Da muss ich jeder Spur nachgehen, und bis nicht das Gegenteil bewiesen ist, sind erst mal alle verdächtigt. Punkt.«

»Aber mein Vater hat ein Alibi.«

»So? Was denn für eins?«

»Er war auf der Schaunmann-Party. Und Max hat nur auf meinem Balkon geraucht. Er war ganz sicher nicht unten an der Bushaltestelle.«

»Das werden wir schon alles klären. Morgen komme ich noch mal mit der Kinderpsychologin vorbei und dann werden wir mit dem Kleinen erst mal ein Phantombild erstellen. Und dann sehen wir ja, mit wem es Ähnlichkeit hat. Alles andere folgt. Und jetzt Gute Nacht für dich! Unsereins hat ja noch was zu tun«, maulte er, wie ein Schüler, der nachsitzen musste