Der Herr aber wird mich erlösen von allem Übel und mich retten, in sein himmlisches Reich.
11:12
Der Schlüssel passte nicht mehr. Josi versuchte es noch mal, aber er rutschte wieder ab. Es war der Kreuzberg-Schlüssel, keine Frage, nicht der Zehlendorf-Schlüssel, der kleiner und leichter war und an dessen Ring sie einen dicken, silbernen Quast trug, damit sie den Schlüssel in ihrer Tasche wiederfand. Der Kreuzberg-Schlüssel war eh nicht zu übersehen, daran hing noch ein Durchsteckschlüssel – ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, für die große Haustür unten. Josi versuchte noch einmal, den Schlüssel ins Schloss zu stecken – jetzt ging es. Ihre Finger zitterten leicht, deswegen hatte es nicht gleich geklappt.
Im Flur roch es nach Mamas Parfüm und nach Rosen, die auf einem Marmortischchen in einer Vase standen.
»Josi?« Barbara kam barfuß aus der Küche und nahm Josi in die Arme, hielt sie. Josi schlang die Arme um ihren Hals, sie roch so gut! Mama streichelte ihr über den Rücken. »Ich bin so froh, dass du da bist«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Und dass Lou wieder da ist!«
Josi konnte nur nicken, nichts sagen.
»Hola cariöo«, hörte sie Estefan. Er stand in der Küchentür, mit einem schwarzen Piratentuch um seinem Kopf. Er kam und küsste sie zur Begrüßung auf die Wangen. »Qué tal?«
»Okay«, sagte Josi.
»Guck mal, ich probiere gerade ein neues Rezept aus: Jakobsmuscheln mit Safran und rohem Thunfisch an Maracuja-Soße.« Er wollte sie in die Küche lotsen.
Josis Magen krampfte sich zusammen. »Oh, danke. Aber ich kriege jetzt nichts runter.«
Sonst kostete sie gern seine neuen Kreationen, die er zuerst bei Barbara und ihr für sein Restaurant ausprobierte, und sie konnte ihm auch ganz genau sagen, was ihr schmeckte und was nicht. Er schätzte ihre Meinung sehr, aber heute war wirklich nichts zu machen. Sie setzte sich mit Barbara an den Küchentisch – eine Holztür auf zwei verschnörkelten Metallständern, an der zehn Personen Platz hatten. Im Gegensatz zu Thomas hatte Barbara immer viele Gäste.
Der Tisch war zur Hälfte mit Schüsseln, Tellern und Zutaten vollgestellt, auf der anderen Hälfte stapelten sich Bücher – Leseexemplare, von denen Barbara so viele wie möglich verschlang, bevor sie welche für ihren Buchladen bestellte und verkaufte. Die Leute kamen von überall in ihren kleinen Laden, Ecke Heinrichplatz, um mit ihr über Literatur zu reden. Nur deswegen, meinte sie, könnte der Laden überleben.
Es tat gut, hier bei Mama in der Küche zu sitzen, während Estefan den Thunfisch schnitt. Am liebsten hätte sie den Kopf auf den Tisch gelegt; er war so schwer.
»Möchtest du auch einen Espresso, Josi?« Barbara stand auf und schraubte die Kanne auf.
»Ja, gern«, sagte sie. »Ich bin so müde. Hab die letzten Nächte echt nicht viel geschlafen.«
»Das war ja ein Schreck, mein Gott! Wie geht es Lou denn jetzt?«
»Und wo ist er nun gewesen?« Barbara stellte die Kanne auf die Flamme.
Josi zuckte die Schultern. »Darüber redet er nicht. Jedenfalls nicht richtig. Er sagt, er wäre bei einem alten Mann gewesen, einem mit Glatze. Zuerst hat die Polizei gedacht, es wäre Herr Dittfurth gewesen, einer aus der Nachbarschaft, so ein Oldtimer-Liebhaber. In seiner Einfahrt hatte man Herrn Rufus gefunden.«
»Herr Rufus?«, fragte Estefan.
»Ja, das ist Lous Detektiv, ein kleiner Spielzeug-Roboter. Ohne Herrn Rufus geht Lou nicht aus dem Haus.« Josi holte Espressotassen.
»Seltsam«, sagte Barbara. »Aber Hauptsache, er ist wieder da und hat nichts Schlimmes erlebt. – Hat er doch nicht, oder?«
»Nein, die Kinderärztin hat keine Schäden festgestellt. Die Polizeipsychologin wohl auch nicht. Aber sie haben Rückstände von irgendwelchen Beruhigungstabletten gefunden. Deshalb kann er sich nur bruchstückhaft erinnern. Die Psychologin kommt heute noch mal und versucht, ein Phantombild mit ihm zu erstellen.«
»Furchtbar, was man Kindern alles antut, und sie können sich nicht wehren.«
Josi wusste, worauf Barbara anspielte – sie bekam auch schon wieder diesen fürsorglichen »Robert-Blick«. Wie oft war sie damals mit Robi bei einer Kinderpsychologin gewesen. Die erste Zeit, als er in die Familie kam, hatte er ja nicht mal geredet. Josi konnte sich noch daran erinnern, auch, wie enttäuscht sie gewesen war. Sie hatte sich doch so auf einen großen Bruder gefreut! Alle ihre Freunde waren Einzelkinder und hatten nicht mal einen kleinen Bruder. Und sie sollte sogar einen großen bekommen! Aber als Robert dann da war, hatte sie sich manchmal gewünscht, ihre Eltern hätten einen anderen Bruder ausgesucht.
»Und was ist nun mit dieser Leiche?«, fragte Barbara. »Was für eine schreckliche Geschichte, die dann auch noch in derselben Nacht passiert und gleich nebenan.« Die Espressokanne fing an zu blubbern. Sie stand auf.
»Es ist noch schlimmer als nur das …«
Barbara fuhr herum. »Was meinst du damit?«
Estefan legte das Messer weg. Josi holte tief Luft und schaute auf ihre Tasse. »Heute Morgen … also … heute Morgen«, setzte sie noch einmal an. »Die Polizei hat Thomas mitgenommen …«
»Wie mitgenommen?
»Na ja. Sie wollen ihn verhören. Auf dem Präsidium.«
»Warum denn das?«
»Sie hatten einen Haftbefehl.«
»Das heißt, sie haben Thomas verhaftet?«
Josi biss sich auf die Lippe und nickte. Barbara stellte den Herd aus.
»Aber … Weil Thomas die Tote kannte? Weil es eine Studentin von ihm war?«
Mehr hatte Josi ihrer Mutter noch nicht erzählt, aber sie hörte an ihrer Stimme, dass sie schon eine Ahnung von dem hatte, was sie gleich erfahren würde.
»Thomas hatte ein Verhältnis mit der Studentin.« Nun war es raus. Barbara setzte sich und goss Espresso in die Tassen. So schwarz war Josi der Kaffee noch nie vorgekommen. Der Geruch stieg ihr in die Nase und machte sie ein bisschen schwindelig.
»Ach, du meine Güte«, sagte Barbara. »Da liegt der Hase also im Pfeffer.«
Normalerweise würde Estefan jetzt fragen, was das zu bedeuten hatte, wenn ein Hase im Pfeffer liegt. Und Barbara und Josi hätten es ihm als ein besonderes Rezept verkauft und ihn ein bisschen auf die Schippe genommen, bevor sie ihm das Sprichwort erklärt hätten, aber jetzt war keinem zum Scherzen zumute.
»Thomas verhaftet«, wiederholte Barbara und Estefan nuschelte nur: »Madre Mia!«
Josi löffelte Zucker in ihren Espresso und trank ihn in einem Schluck. Er schmeckte dick, bitter und süß. Barbara saß neben ihr und überlegte: »Das kann doch nur ein schreckliches Missverständnis sein. Thomas' Sohn wird entführt und in der gleichen Nacht findet man eine Leiche an der Bushaltestelle nebenan.«
»Zwischen Bushaltestelle und Garten«, korrigierte Josi. »Beim Trampelpfad zum Wald.«
Barbara schaute Josi in die Augen. »Das kann doch nur ein verheerender Zufall sein. Dein Vater …« – Josi mochte es nicht, wenn sie Thomas »dein Vater« nannte – »… er mag ja ein Schürzenjäger sein, ein Frauenheld oder Womanizer oder wie man das auch immer nennen mag.« Sie holte tief Luft. »Aber er geht doch nicht über Leichen!«
Josi sagte nichts. Sie traute sich nicht, Barbara von den Zigarettenkippen an der Bushaltestelle und Lillis Anruf zu erzählen.
»Macht man ihn etwa auch für das Verschwinden seines Sohnes verantwortlich?«
»Natürlich nicht.«
»Arbeitet derselbe Kommissar an den beiden Fällen?«
»Hauptkommissar«, sagte Josi. »Herr Werner.«
»Was ist das denn für ein Hauptkommissar, bitte schön?!« Barbara war jetzt stinksauer.
»Tranquila, cariöo«, sagte Estefan und lächelte sie lieb an. Normalerweise schmolz ihre Mutter bei so einem Lächeln von ihm dahin, aber jetzt blieb ihre Stirn gerunzelt.
»Ist echt ein unappetitlicher Typ. Und ihr müsstet mal sehen, wie der sich mit seinen Krücken anstellt.«
»Krücken?« Estefan verstand nicht.
»Muletas«, übersetzte Barbara und fragte Josi: »Warum hat er denn muletas?«
»Der ist doch von Lous Baumhaus gefallen.« Hatte sie Barbara das etwa nicht erzählt?
Estefan lachte los. »Qué idiota!«
Barbara zog die Unterlippe ein. »Und wenn die beiden Fälle doch zusammenhängen? Wenn es ein und dieselbe Person war, die Lou gekidnappt und die Studentin ermordet hat? Dann kann dein Vater nicht der Schuldige gewesen sein. Außerdem hat er doch ein Alibi. War er nicht auf dieser Snob-Party bei den Schaunmanns – er fünfundsechzig, sie neunundzwanzig?«
Barbara war nicht nur gut im Zitieren, sondern auch im Sticheln.
»Keine Ahnung, wie alt die sind«, sagte Josi. Sie hatte Kopfschmerzen. Der Espresso hatte ihren Kreislauf angeregt und nun hämmerte ihr jeder Herzschlag in den Schläfen. Sie wollte weder mit Barbara grübeln noch über die Schaunmanns lästern. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Vielleicht sollte sie sich ein bisschen hinlegen und dann Marina anrufen. Vielleicht gab es inzwischen Neuigkeiten.
Sie schaute auf die Küchenuhr, kurz vor halb eins. Jetzt holte Marina Lou gerade aus dem Kindergarten.
Barbara stand auf und öffnete das Fenster. Straßengeräusche kamen in die Küche. Stimmen, türkische Musik, ein Bus fuhr vorbei. Dann klingelte Josis Handy.