Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.
14:21
Das Haus hätte von Thomas' hippen Architekten sein können – auch so ein kubischer Kasten mit drei Stockwerken, klaren Linien, viel Glas, und mit einer Außengalerie vor der ganzen Südwest-Seite. Mediterran weiß getünchte Wände. Unglaublich, dass Robert in so einem Haus wohnte, sie hatte ihn mehr in einem dieser 60er-Jahre-Spritzbeton-Kästen erwartet, die zwischen den Jugendstilvillen und Neubauten standen. Hatte sie auch wirklich die richtige Adresse? Sie schaute auf ihren Zettel. Es stimmte alles überein.
Das Tor des schmiedeeisernen Zauns stand offen. Sie ging in den Vorgarten. Links neben der Haustür war eine abfallende Einfahrt, die unter das Haus führte. Aber kein Auto in Sicht. In den beiden oberen Stockwerken waren alle Fensterläden zu, unten gab es Rollläden, die fast ganz geschlossen waren. Irgendwie machte das Haus einen verlassenen Eindruck. Unter der Klingel klebte ein handbeschriebener Streifen: Robert Malkowski, mit einem Pfeil, der um die Hausecke zeigte. Ansonsten stand nur ein in geschwungenen Buchstaben eingravierter Name in einer Messingmulde über der Klingel: Doktor Hermann Höpfer. Ihr lief es kalt über den Rücken. Das war also der ältere Mann, bei der Robert zur Untermiete wohnte – der alte Mann? Josi folgte dem Pfeil um die Ecke, ging an drei hohen Pappeln vorbei, die bestimmt doppelt so alt wie das Haus waren. Hier gab es nur ein vergittertes Milchglasfenster. Die Häuser der Nachbarn, die sehr weit weg waren, sahen auch nicht gerade belebter aus.
Eine graue Katze huschte durch den Nachbargarten.
Hoffentlich war Robert überhaupt da!
Ein weiterer Pfeil, der an der Hauswand klebte und von dem die Farbe schon vom Regen ausgewaschen war, zeigte auf eine Art Kellertür. Josi zögerte, dann klopfte sie an die Tür. Die Tür öffnete sich sofort, als würde sie bereits erwartet. Ein junger Mann stand vor ihr.
»Josefine! Was für eine Überraschung! Komm rein!«
Sie erkannte Robert nur an seinem zaghaften Lächeln. Er hatte eine Kappe auf, mit Nackenschutz, als käme er gerade aus der Wüste. Dazu trug er eine grüne adidas-Jacke und eine graue Jogginghose, die wohl mal weiß gewesen war. An den Füßen blaue Badelatschen. Er war gut anderthalb Köpfe größer als sie und ganz schön dick. Den Reißverschluss seiner Jacke würde er wahrscheinlich gar nicht mehr zukriegen, obwohl es ja elastischer Stoff war. Er lächelte sie immer noch an.
»Das ist so schön, dass du mich mal besuchen kommst!«
»Ja«, sagte Josi. »Lange nicht gesehen.«
»Genau vier Jahre, zwei Monate und sieben Tage.«
Josi stutzte. »Wirklich?«
»Kleiner Scherz.« Er lachte. Es war eine sehr hohe Lache für so einen großen, stämmigen Mann. »Aber vier Jahre sind es bestimmt.« Er rückte seine Kappe zurecht, sie konnte seine Augen nicht erkennen, er hatte den Schirm zu tief ins Gesicht gezogen. Auf seinen Wangen ein schwarzer Bartschatten. Dass Robert nun ein Bart wuchs, dem zierlichen, kleinen Robert … verrückt, wie sehr man sich verändern konnte. So, wie er aussah, ernährte er sich wohl nur von Junkfood und Süßigkeiten. Kannte man ja von Computerfreaks. Sein linker Mundwinkel zuckte zweimal hintereinander. Seinen Tick hatte er also immer noch.
Es roch muffig in dem Raum, als wäre schon lange nicht mehr gelüftet worden. Robert musterte sie. »Ja, Josefine, vier Jahre!« Er fing wieder an zu lachen. Was war daran so lustig? »Und trotzdem ist es, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Findest du nicht?«
Dem konnte sie nicht gerade zustimmen.
Sein Lachen verstummte so plötzlich, wie es begonnen hatte. Er fasste sie brüderlich an die Schulter und sagte: »Komm rein in die gute Stube!«
Josi zögerte. Robert führte sie in einen großen, rechteckigen Raum – der mit den heruntergelassenen Rollläden. Auf einem langen Holztisch in der Mitte standen vier eingeschaltete Computer. Überall Kabel, Mehrfachsteckdosen. Licht kam nur von den Monitoren und durch die Ritzen der Rollläden. Die Luft war hier noch dicker als auf dem Flur und es roch angebrannt. Außerdem war es kalt, gruftig.
»Robert, hast du gerade irgendwas auf dem Herd?« Sie schaute auf die Küchenzeile, mit Theke und Barhocker links im Raum. Aber außer einem Turm ineinandergestapelter schmutziger Töpfe und Teller konnte sie nichts auf dem Herd erkennen.
»Ach, das sind meine Computer. Sie werden manchmal sehr, sehr heiß. Dann verbrennen sie Staub und Fliegen. Und dann gibt es noch den Toaster«, sagte Robert, als spräche er von einem gefährlichen Tier. Er grinste. Sein Mundwinkel zuckte. Dann hechtete er an ihr vorbei und warf sich auf einen Bürostuhl, rollte damit an einen der Computer und tippte wild auf eine Tastatur ein. Auf dem Bildschirm erschienen nur Zahlen und Zeichen, die von selbst weiterliefen.
»Setz dich doch, Josefine – Josi.«
Wie er ihren Namen aussprach. Hörte sie bei Josi nicht einen spöttischen Unterton? Er deutete auf einen Stuhl neben sich.
Sie setzte sich. Ihre Beine waren weich. Sie war wirklich noch müde und erschöpft von den letzten Tagen. Und ihr Magen war auch immer noch flau. Irgendwie war ihr unbehaglich, am liebsten wäre sie gleich wieder gegangen.
Sitzen tat gut. Auf drei der Monitore schlängelten sich Muster über die Bildschirme, Linien flossen ineinander, wurden mal groß, mal ganz klein, verschwanden im Nichts, tauchten wieder auf und wechselten Form und Farbe. Diese psychedelischen Bildschirmschoner hatten sie schon immer nervös gemacht, wirkten hypnotisierend, weil sie nicht von ihnen ablassen konnte, ihnen zuschauen musste. Die Ventilatoren der Computer surrten. An der Wand hinter ihr hingen drei Kreuze. In der Mitte eins mit einem dürren, toten Jesus. Josi fand den Anblick eines Kruzifix' immer schon schrecklich.
»Das ist mein Revier«, sagte Robert und machte eine weitumgreifende Handbewegung. Es standen noch mehr Rechner auf dem Boden, unter dem Fenster, aber ausgeschaltet.
»Ich habe mir die Rechner selbst zusammengebaut und gebastelt, alles genau auf meine Bedürfnisse abgestimmt.«
»Toll. Hat Barbara schon erzählt, dass du dich da auskennst. Ich verstehe gar nichts von Computern.« Es tat gut, Barbaras Namen zu erwähnen. Sie fühlte sich gleich nicht mehr so … allein.
»Ja, ich weiß«, sagte er und guckte sie von der Seite an. »Dafür kennst dich mit anderen Sachen gut aus.« – War da nicht wieder dieser leicht spöttische Unterton? Und was wollte er damit sagen? »Du bist auch bestimmt nicht gekommen, um meine Computerkenntnisse zu bewundern.«
»Nein. Hast du gehört, was mit Lou passiert ist?« Nun war sie mit der Tür ins Haus gefallen. Ihr Herz klopfte. Roberts Gesicht verfinsterte sich und sein Mundwinkel zuckte zweimal hintereinander. Er legte den Kopf schräg, als wollte er etwas abschätzen. Auch wenn sie seine Augen nicht sehen konnte, spürte sie, wie er sie anguckte.
»Ich fass es nicht«, sagte er. »Da haben wir uns vier Jahre, zwei Monate und sieben Tage nicht gesehen und dann kommst du her, um über deinen kleinen Halbbruder zu reden?«
Hatte er tatsächlich die Tage gezählt?
Ein greller Laut ertönte, wie eine Sirene. Es war einer der Computer, er weckte die anderen drei Rechner auf. Robert stellte mit einem iPod oder Smartphone, das er aus seiner Jogginghose zog, den Ton ab. Die psychedelischen Muster verschwanden von den Bildschirmen und Zahlen und Zeichen erschienen auf weißem Hintergrund. Es wurde sofort heller im Raum. Josi war aufgestanden. Sie hatte erst gedacht, es wäre eine Alarmanlage.
»Tut mir leid, wenn es dich erschreckt hat«, sagte er. »Aber sie sind brav. Sie sagen immer Bescheid, wenn sie mit einer Kalkulation fertig sind.« Er gab einem der Computer einen leichten Klaps aufs Gehäuse. »Good boy!«, dann nahm er eine andere Tastatur vom Tisch und rollte mit dem Stuhl auf Josi zu, schloss die Tastatur an den Rechner, der neben ihr stand, und schaute kurz auf. »Josi, setz dich wieder hin und entschuldige mich für eine Minute.«
Robert hatte die Unterlippe zwischen den Zähnen und war hoch konzentriert. Sie schaute sich um. Eigentlich war es ein schöner, großer Raum, mit Verbindungstür zu einem anderen Raum, aber völlig zugemüllt. Auf dem Tisch, zwischen Kabeln, Steckdosen und DVDs mit Videospielen, lagen leere Bonbon-, Gummibärchen- und Chipstüten, angebissene Toastbrote und schwarze Bananenschalen. Unter dem Tisch stapelten sich leere Pizzapappen neben leeren Limoflaschen. Fliegen surrten umher. Robert tippte Josi an den Arm. Sie zuckte zusammen. Das hatte er früher auch immer gemacht, wenn er was Wichtiges sagen wollte. Und es hatte sie früher schon genervt.
»Ich teste hier gerade ein neues Programm, ob die Codierung stimmt, damit es nicht abstürzt«, nuschelte er vor sich hin. »Und ich muss sie für die nächste Kalkulation füttern. Natürlich sind sie alle overclocked.«
Josi verstand kein Wort. Er war in seiner Welt versunken. Dann war er eh nicht mehr zu erreichen. Das kannte sie von früher, auch wenn er da noch nichts mit Computern am Hut hatte. Wahrscheinlich war es keine gute Idee gewesen, so überstürzt herzukommen. Am besten, sie ging jetzt. Sie wollte ihm gerade sagen, dass sie losmusste, da fing Robert an zu fluchen. Irgendwas lief nicht so, wie er wollte. Er starrte auf den Bildschirm. Sein Gesicht schimmerte blau. Josi stand auf. Robert fing an, laut zu lachen, aber es war ein qualvolles Lachen. Und dann fing er an zu weinen. Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht.
»Tut mir leid, Josi. Tut mir wirklich leid.« Er schluchzte laut auf.
»Was ist denn, Robert?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe so viel Stress in der letzten Zeit. Alles haut irgendwie nicht hin. Ich weiß auch nicht, warum.« Er schluchzte nun wie ein kleines Kind. »Es tut mir so leid, dass das ausgerechnet jetzt passieren muss, wo du da bist.«
»Ist dir was abgestürzt?«
»Ich bin doch so glücklich, dass du mich endlich mal besuchst, obwohl es jetzt zu spät ist. Und dann fange ich auch noch an zu heulen. Vielleicht ist das alles ein bisschen viel für mich. Du hier – und …«
»Und was?« Was meinte er denn damit, dass es jetzt zu spät sei?
»Es ist alles so verdorben und verrottet. Total kaputt!«
»Was meinst du denn, Robi?«
Er holte tief Luft. »Es ist so schön, wenn du mich Robi nennst. Das fand ich immer schon so schön.« Er lächelte wieder, wischte sich die Tränen weg. Er hatte also immer noch diese heftigen Stimmungsschwankungen wie früher.
Ein Computer piepte. Robert sprang auf und wühlte in einer Box auf dem Tisch, zog einen USB-Stick heraus und steckte ihn in den Rechner.
»Scheiße!«, fluchte er. »Verdammter Mist!« Er haute mit der Faust auf die Tastatur. Es klirrte.
»Was ist denn passiert?«
»Was passiert ist? Siehst du das denn nicht?«
»Nein.«
»Siehst du etwa nicht das rote Licht?« Er tippte vorwurfsvoll mit dem Finger auf den Bildschirm. »Es sollte nicht rot sein, sondern grün. GRÜN, verstehst du!«
Josi nickte. Robert konnte selbst abstürzen wie ein Computer, aber dagegen hatte er doch Medikamente. Sie schaute zur Tür. Sie hatte keine Lust und keine Kraft für seine Stimmungsschwankungen.
»Das kriegst du schon wieder hin«, sagte sie. » Du bist doch der Fachmann. Ich will dich auch nicht weiter stören. Ich gehe jetzt lieber.«
»Nein«, sagte er wie aus der Pistole geschossen. »Du bist doch gerade erst gekommen. Setz dich wieder hin!«
15:55
Alles in ihr sträubte sich dagegen, sich wieder hinzusetzen. Es war ungemütlich und irgendwie auch unheimlich, hier mit Robert allein zu sein, aber sie wollte ihn auf keinen Fall reizen. Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie jähzornig er werden konnte, wenn er so den Mund verkniff. Also setzte sie sich, aber nur, um den richtigen Moment zum Gehen abzuwarten. Wegen Lou fragte sie jetzt lieber auch nicht weiter. Besser, sie würde erst mit Barbara sprechen, ihr von ihrer Vermutung erzählen, dass Robert wohl der Untermieter des alten Mannes sei, bei dem Lou gewesen war. Vielleicht arbeitete Robert ja mit ihm zusammen an neuen Computerspielen? Josi erschrak selbst vor ihren eigenen Gedanken. Das war doch absurd! Mit Robert konnte man doch nicht zusammenarbeiten.
»Ich mach uns einen Kaffee«, sagte er, stand auf und ging zur Küchenzeile. Sie stand auch auf.
»Danke, aber ich möchte keinen.«
»Doch. Einen kleinen.« Er fischte eine Tasse aus der Spüle und wusch sie mit den Händen aus. Die andere nahm er vom benutzten Stapel. Er goss beide Tassen voll und gab ihr die saubere. Na gut, dann würde sie eben noch einen Kaffee mit ihm trinken.
Sie gingen an den Tisch zurück, setzten sich wieder. Der Nackenschutz seiner Kappe sah von der Seite aus wie lange Haare. Der Schirm warf Schatten über seine Augen. Unter den Augen war die Haut rot und faltig. Er litt früher schon unter Schuppenflechte und Barbara hatte alle möglichen Salben und Puder ausprobiert, auch homöopathische Mittel. Josi konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich ständig an den spröden Ellenbogen kratzte – und dann dieses ständige Zucken des linken Mundwinkels. Er hatte sich kaum verändert, wenn man mal von seiner Fettleibigkeit absah, und sicher hätte sie ihn nicht erkannt, wenn sie ihn zufällig auf der Straße getroffen hätte, schon gar nicht mit dem Bartschatten und dieser Wüstenkappe. Auch nicht an der Stimme.
Er tat sich nun schon den vierten Löffel Zucker in den Kaffee. Seine Vorliebe für Süßes hatte er auch behalten. Josi pustete in ihre Tasse, nahm einen Schluck, verbrannte sich die Lippe, fragte nach Milch. Robert langte über den Tisch, hinter einen Rechner und stellte ihr eine offene Tüte H-Milch vor die Nase. Sie goss einen Schluck in ihren Kaffee und sah zu, wie sich die Milch mit der dunklen, wässrigen Brühe vermischt. Es drehte ihr fast den Magen um.
»Wirklich total schön, dass du da bist«, sagte Robert und schaute sie mit hungrigen Augen an. Sie kannte diesen bettelnden Blick noch gut, wenn er vor ihr gestanden hatte und ihre Schokolade haben wollte, weil er seine schon aufgegessen hatte – oder eins von ihren Kuscheltieren.
16:26
Eine Fliege summte über der Milchtüte. Robert war still, sein Wortschwall verebbt. Dabei waren die Probleme, die er mit den Computern hatte, bestimmt nicht gelöst, aber das schien ihn jetzt nicht mehr zu stören. Josi traute sich nicht, ihn darauf anzusprechen. Ihr Magen zog sich schon wieder zusammen. Irgendwas stimmte hier nicht! Die vielen Computer und die Computerspiele – die Kreuze an der Wand. Und Robert war auf Anschlag. Warum?
Sie kriegte den Kaffee nicht runter. Die Tasse war von innen braun, als wäre sie nie richtig abgewaschen worden, und der Kaffee selbst sah aus wie eine schmutzige Pfütze. So schmeckte er auch. Am besten, sie ging gleich kurz auf die Toilette, und wenn sie wiederkam, würde sie sich schnell verabschieden. Bis dahin wollte sie ihn bei Laune halten und mehr über den »alten Mann« erfahren.
»Schöner, großer Raum«, sagte sie. »Und so modern. Nach dem, was Barbara mir erzählt hat, dachte ich, du wohnst bei einem alten Herrn, möbliert, unterm Dach.«
»Ja, das Haus ist toll.«
»Bewohnt er die oberen Etagen ganz allein?«
»Wer?«
»Na, dein Vermieter.«
»Nein.«
»Hat er es vermietet?«
»Nein.«
»Hast du mit ihm … zu tun?«
»Nein!«, brüllte Robert. Seine Nasenflügel bebten. Eine Frage mehr und er würde ausrasten. Sie biss sich auf die Lippe. Sie konnte auf keinen Fall weiterfragen.
»Robert, wo ist die Toilette?«
»Was? Wieso?« Er hob den Kopf. Sein linker Mundwinkel zuckte zweimal.
»Ich muss mal«, sagte sie sanft und versuchte zu lächeln. Das entspannte ihn tatsächlich.
»Ja. Klar«, sagte er leise und deutete zur Tür. Und dann prasselte er los: »Der ›Alte‹ ist auf Weltreise. Ich passe auf das ganze Haus auf, damit keiner einbricht. Aber hier bricht keiner ein. Er ist sehr ängstlich. Er will, dass immer alle Rollläden zu sind, obwohl es eine Funk-Alarmanlage im Haus gibt, mit aktivem Einbruchschutz.«
Was redete er da?
»Ach so.« Josi stand schon an der Tür und hatte die Klinke in der Hand. Von hier konnte sie gut in den angrenzenden Raum schauen, sein Schlafzimmer. Sie sah ein zerwühltes Bett, Klamotten auf dem Boden verstreut, einen Stuhl. Robert starrte sie an, als hätte er sie noch nie gesehen.
»Das Klo?«
»Über den Flur, nächste Tür rechts.«
Sie ging in den Flur. Im Bad atmete sie auf. Komisch – besonders, dass der alte Mann auf Weltreise sein sollte.
Warum war ihr nur so eng in der Brust? Wahrscheinlich wegen der Aufregung, immerhin war Robert ihr »großer Bruder«, den sie lange Zeit nicht gesehen hatte. Und er hatte sich ja immer schon seltsam verhalten. Sie war es nur nicht mehr gewohnt. Vielleicht stimmte das ja auch gar nicht mit der Weltreise. Vielleicht träumte Robert von so einer Reise und projizierte seine Wünsche auf andere. – Gut möglich, bei Robert.
Das Bad war groß und hell, mit einer vergitterten Milchglasscheibe. Weiße Wände, rundes Waschbecken. Alles sehr karg und dreckig. Der Spiegel fast blind vor Zahnpastaspritzern und die Toilette hatte wohl auch noch nie eine Klobürste gesehen. Die Klobrille war hochgeklappt. Josi mochte sie nicht anfassen und ließ sie so.
Über der Badewanne hingen graue Handtücher. Auf der Konsole nur ein Rasierpinsel und eine Dose Rasierschaum. Robert rasierte sich also nass. Früher hatte er immer mit Thomas' elektrischem Rasierapparat gespielt, sich damit rasiert, aber auch telefoniert oder Fotos gemacht. Oder Josi damit geweckt. Er hatte ihr den eingeschalteten Rasierer ans Ohr gehalten oder war ihr damit über die Schulter gefahren. Josi war jedes Mal aufgeschreckt und hatte ihn angeschnauzt, sie in Ruhe zu lassen. Sie mochte das Geräusch nicht und schon gar nicht die rotierenden Messer auf der Haut. Später hatte er ihn dann als eine Art Diktiergerät benutzt, in das er Beobachtungen und Geheimnisse gesprochen hatte. Josi war das damals peinlich gewesen, dass ihr »großer Bruder« ständig mit einem Rasierapparat herumlief und zu ihm sprach.
Sie wusch sich die Hände, hörte ein Geräusch auf dem Flur – wie schlappende Badelatschen. Lauschte Robert etwa vor der Tür? Sie horchte, hörte nichts mehr, nur ihr Herz. Sie wischte die Hände an der Hose trocken, wollte gerade gehen, da fiel ihr auf, dass etwas auf der Konsole fehlte: ein Rasiermesser.