Wenn ich groß bin, schieße ich sie tot. Alle!

9:18

Sie ging durch die Gartenpforte, durch die Siedlung, über die Straße, zur Hausnummer 11. Dort wohnte Herr Dittfurth. Hier hatte die Polizei Herrn Rufus gefunden.

Sie betrat die Einfahrt. Der alte Mercedes stand draußen, blitzblank, wie immer. Sie schaute ins Auto, auf die Sitze. Sie waren leer. Niemand im Auto. Sie schaute sich um – keiner zu sehen –, drückte auf den Knopf vom Kofferraum, aber er war abgeschlossen. Ihr Herz raste. Natürlich hatte Herr Dittfurth Lou nicht in den Kofferraum gesperrt! Warum auch? Sie schaute zu den Fenstern im Haus. Nichts zu sehen. Ob sie mal klingeln sollte?

Plötzlich hielt eine Streife neben ihr und die hintere Tür öffnete sich. Zwei Krücken kamen zum Vorschein, ein verbundenes Bein – Herr Werner.

»Guten Morgen, junge Dame«, sagte er. »Darf ich fragen, was du hier machst?«

»Nichts«, sagte sie und ging weiter, sah, wie Herr Werner zur Haustür von Herrn Dittfurth humpelte, mit der Krücke anklopfte und ihr einen bösen Blick hinterherschickte.

Sie lief zurück in den Garten, schloss die Pforte, ging zum Baumhaus. Sie würde später noch mal zu Herrn Dittfurth gehen. Hier hinten am Waldrand war es ein paar Grad kühler als am Haus. Ein leichter Wind wehte. Sie saß im Baumhaus und wünschte sich Antennen oder auch so eine »Mücke«, mit der man alles abscannen und finden konnte. Sie wollte Lou finden!

Von Weitem sah sie Herrn Werner mit seinen Krücken über den Bürgersteig humpeln, schwerfällig, er kam kaum vom Fleck. Dann verschwand er um die Ecke, Richtung Haustür. Das war ja ein kurzer Besuch bei Herrn Dittfurth gewesen! Sie kletterte vom Baum und ging ebenfalls zum Haus zurück, versteckte sich hinter dem Geräteschuppen gegenüber von Papas Büro. Die Fenster standen offen. So einfach ließ sie sich nicht von diesem Kommissar zurechtweisen!

Sie hörte Herrn Werners Stimme und ging näher ans Bürofenster. Eine Biene summte vor ihr, setzte sich auf eine Kleeblüte und versenkte ihren Rüssel in der Blüte. Ihr Fell war schon ganz gelb und die Beintaschen prall vor Pollen. Lou hatte mal eine Hummel beim Nektarsaugen gestreichelt, weil sie so kuschelig aussah. Zum Glück war es wohl eine männliche Hummel gewesen, eine Drohne, ohne Stachel. Sie war dann nur summend und taumelnd weggeflogen.

Josi stellte sich seitlich zum Fenster. Herr Werners Stimme klang so ausgeleiert, wie seine graugrüne Strickjacke aussah: »Es ist ja alles Geschmacksache, aber Tatsache ist, Sie haben ein wirklich geräumiges Haus. Und dieses Büro, alle Achtung, so hell und wunderbar aufgeräumt!« Er lachte. »Wenn Sie dagegen mein Büro sehen würden …«

Wollte er sich etwa einschleimen? Thomas ignorierte seine Schmeichelei. »Was gibt es Neues?«, hörte sie ihn sagen.

»Wir sind gerade an Herrn Dittfurth dran, einem Ihrer Nachbarn.«

»Und was bedeutet das?«

»Nun, dass wir alles im Umfeld und zu seiner Person überprüfen, auch wo er am Samstag war.«

»Und wo war er?«

»Darüber kann ich noch nicht mit Ihnen reden. Aber ich kann Ihnen den kleinen Spielzeugroboter wiedergeben. Die Fingerabdrücke stimmen mit denen vom Handrührgerät überein.«

Josi hatte gar nicht mitgekriegt, dass sie Fingerabdrücke vom Mixer genommen hatten. Sie hatte ihnen erzählt, dass Lou den Teig allein gerührt hatte.

»Außerdem waren noch die Fingerabdrücke von Herrn Dittfurth auf der Figur.«

Josi linste ins Fenster und sah, wie Herr Werner Herrn Rufus auf den Schreibtisch legte.

»Und was heißt das?«

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen.«

Thomas verdrehte die Augen. »Was können Sie mir denn sagen, Herr Kommissar?«

»Hauptkommissar«, sagte Herr Werner ernst. Josi biss sich auf die Lippe. Der Typ schien echt einen Minderwertigkeitskomplex zu haben.

»Wissen Sie eigentlich, dass Herr Dittfurth homosexuell ist?«

»Ja«, hörte Josi ihren Vater sagen. »Warum?«

»Haben Sie ihn auch schon mit Männern gesehen?«

»Wahrscheinlich schon.«

»Was heißt wahrscheinlich schon? Haben Sie oder nicht?«

Sie merkte, wie Thomas der Geduldsfaden riss. »Wir kümmern uns hier nicht so sonderlich um die Beziehungen anderer Leute.«

»Aber man muss doch mitkriegen, wenn zwei Männer …« Herr Werner räusperte sich.

»Haben Sie etwa ein Problem mit Schwulen oder haben Sie etwa noch nie welche gesehen, in Ihrer Platte, in Marzahn?«, fuhr Papa ihn an. Er schien diese Retourkutsche voll zu genießen. Aber warum regte er sich so auf?

»Ich wohne schon lange nicht mehr in Marzahn, Herr Herzberg, sondern in Lankwitz.«

»Auch sehr schön da«, sagte Thomas. »Im guten, alten, spießigen Westen.«

»Zehlendorf ist ja nicht viel anders, nur protziger«, sagte Herr Werner.

»Hören Sie, Herr Hauptkommissar, ich möchte hier nicht mit Ihnen über beliebte oder weniger beliebte Wohnlagen Berlins diskutieren, sondern Sie daran erinnern, dass bis jetzt noch jede Spur von meinem Sohn fehlt!«

Daraufhin knallte Herr Werner etwas auf den Tisch. Josi schluckte das Herzklopfen runter und wagte noch einen Blick. Eine schwarze Mappe lag auf Papas Schreibtisch. Daneben Herr Rufus, auf dem Rücken. Am liebsten hätte sie ihn sofort an sich genommen, aber da musste sie wohl noch ein bisschen warten.

»Wir haben in der Nachbarschaft etwas munkeln gehört«, sagte Herr Werner. »Dass Herr Dittfurth eine Neigung zu jungen Männern habe.«

»Ach ja? Und was hat das mit Lou zu tun? Meinen Sie mit jungen Männern etwa Kinder …?«

»Ich meine gar nichts, Herr Herzberg, aber ich kann Ihnen sagen, wir bleiben dran an dem Mann und überprüfen gerade sein äußerst fragiles Alibi.«

Josi biss sich auf die Unterlippe. Es war einen Moment still, dann fragte Herr Werner: »Warum ist Ihre Tochter eigentlich nicht in der Schule?«

Josi horchte auf.

»Wieso?«

»Weil sie sich schon frühmorgens in der Nachbarschaft herumtreibt und Detektiv spielt.«

Josi musste sich echt beherrschen, nicht durchs Fenster zu brüllen. Herr Werner erzählte Thomas, dass er sie vorhin bei Herrn Dittfurth getroffen hätte und man ihr doch bitte mitteilen möge, dass sie sich nicht in die laufenden Ermittlungen einmischen solle. »Das habe ich ihr gestern schon gesagt, dass nicht alles für ihre Ohren bestimmt ist – übrigens ganz in Ihrem Interesse, Herr Herzberg.«

»Erstens treibt sich meine Tochter nicht herum, und dass Sie sie in der Nachbarschaft gesehen haben, ist bestimmt nicht der Grund, warum Sie mit mir reden wollen«, hörte Josi Thomas.

»Sie treffen den Nagel auf den Kopf, Herr Herzberg«, fuhr Herr Werner fort. »Wir haben nämlich in der Wohnung von Frau Sander etwas gefunden. Das ist es, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte.« Er tippte auf die schwarze Mappe.

Josi duckte sich an die Wand, neben das Fenster und spitzte die Ohren.

»Frau Sander pflegte sich während der Vorlesungen Notizen zu machen.«

»Ach wirklich?«, sagte Thomas. »Wie interessant!«

»Genau«, sagte Herr Werner. »Weil es nämlich Sie betrifft. Ich habe hier eine Mappe mitgebracht und möchte Ihnen etwas zeigen. – Dürfte ich mich vielleicht an Ihren Schreibtisch setzen?«

»Bitte sehr!«, knurrte Thomas. Er mochte es nicht, wenn jemand anders als er an seinem Schreibtisch saß. Josi traute sich nicht, sich zu bewegen, sie wusste nicht genau, wo Thomas stand, und wollte kein Risiko eingehen, entdeckt zu werden. Sie hörte, wie Herr Werner in den Drehsessel plumpste. Eine seiner Krücken fiel dabei auf den Boden. Er ächzte. Wahrscheinlich versuchte er, sie im Sitzen aufzuheben. Dann fiel die andere Krücke auch noch hin.

»Lassen Sie doch verdammt noch mal diese Dinger liegen und zeigen Sie mir endlich, was Sie mir so dringend zeigen müssen.« Da war etwas in Thomas' Stimme, was sie noch nie gehört hatte, mehr als Wut und Ärger, irgendwas Gebrochenes – Angst. Aber wovor hatte Papa Angst?

Josi wagte noch einen Blick, sah ihn neben Herrn Werner stehen, mit der Schulter zum Fenster. Herr Werner raschelte mit ein paar Blättern. Eine Ameise lief Josi über den nackten Fuß, es kitzelte. Sie schüttelte sie ab. Die Biene war noch immer in der Kleeblüte versunken, nur ihr gestreifter Hinterleib guckte noch raus. Warum hatte sie bloß das Gefühl, dass Papa genau in die Mitte des Netzes rannte, das Herr Werner ihm gerade webte?

»Schauen Sie, dieser Kalender hier. Da steht am siebzehnten Juni: Thomas kommt. Und am einundzwanzigsten heißt es: Vorlesung Thomas. Am vierundzwanzigsten: Thomas, zwanzig Uhr, Noi-Quattro. Und dann diese Smileys und Herzen überall.«

Josi sah, wie ihr Vater sich über den Kalender beugte, dann drehte er sich ruckartig um. Josi sprang zur Seite. Plötzlich brannte es in ihrem Zeh, als wäre sie in einen glühenden Zigarettenstummel getreten. Beinahe hätte sie aufgeschrien. Verdammt, die Biene hatte sie gestochen. Sie hockte sich hin und nahm ihren Fuß in die Hand. Da sah sie den kleinen schwarzen Stachel mit der Giftblase. Josi fasste den Stachel mit den Fingernägeln und zog ihn heraus. Die Biene krabbelte benommen im Gras herum. Sie würde jetzt sterben, ohne Stachel, wegen ihr. Josi biss sich auf die Lippe. Der Schmerz zuckte durch ihren kleinen Zeh und verteilte sich im ganzen Fuß.

»Was meinen Sie, wie viele Leute namens Thomas es an der FU gibt?«, hörte Josi ihren Vater. »Also, ich kenne schon mal einen Kollegen, Professor Schaunmann, der mit Vornamen ebenfalls Thomas heißt. Bei ihm war übrigens vorgestern die Party. Ganz zu schweigen von den Studenten. Haben Sie das schon alles überprüft, Herr Kommissar?«

»Hauptkommissar«, betonte Herr Werner. Einen kurzen Moment war es still, dann fuhr er fort: »Brauchen wir nicht zu überprüfen. Sie sollten am besten wissen, wovon die Rede ist! Also, reden wir nicht länger um den heißen Brei herum, Herr Herzberg. Hier, schauen Sie, was wir noch gefunden haben: vier Passfotos in Schwarz-Weiß, mit Lilli Sander und Ihnen.« Es entstand eine Pause. Josi traute sich nicht zu atmen.

»Möchten Sie sie nicht sehen, Herr Herzberg?«

»Nein!«

Sie musste Papa retten, ging es ihr durch den Kopf, vor dem fiesen Mann mit dem Holzbein, aber sie konnte sich nicht rühren.

»Gut, dann lassen Sie mich beschreiben, was darauf zu sehen ist«, sagte Herr Werner.

Josis Herz raste. Der Schmerz breitete sich immer weiter aus und zog jetzt bis ins Bein. Sie schloss die Augen.

»Auf dem ersten Foto küssen Sie Frau Sander auf die Wange«, hörte sie Herr Werner. »Auf dem zweiten Foto schon auf den Mund. Auf dem dritten tun Sie etwas, was wir nicht genau sehen. Vermutungen, dass Sie ihr die Bluse hochschieben, bestätigen sich jedoch auf dem vierten Foto, auf dem Frau Sander mit entblößter Brust zu sehen ist.«

»Wie prüde sind Sie denn?«, platzte Thomas los. Dann versuchte er zu lachen. Josi hielt sich die Ohren zu, aber sie konnte ihn trotzdem noch hören. »Da war nichts. Ein feuchtfröhlicher Abend. Ein kleine Affäre zwischen einer Studentin und ihrem Professor. So was kommt vor. Punkt. Das macht mich noch lange nicht zum Mörder!«

Tränen rannen Josi über die Wangen. Sie kroch unter dem Fenster entlang und humpelte zur Terrasse, von dort lief sie ins Haus. Marina kam ihr entgegen, mit den Autoschlüsseln und einer Flasche Wasser in der Hand.

»Was ist passiert?«, fragte sie, als sie Josi sah. »Ist was mit Lou …?«

»Nein«, sagte Josi und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Vom Flur aus ging die Bürotür auf, sie hörte das Handy von Herrn Werner klingeln.

»Ich bin in eine Biene getreten.« Josi wischte sich die Tränen ab. Thomas kam ins Wohnzimmer.

»Im Kindergarten ist er auch nicht«, sagte Marina. Thomas sah leichenblass aus.

»Was ist?« Marina ging auf ihn zu.

»Nichts.«

»Natürlich ist was, das sehe ich dir doch an.«

Im Hintergrund hörte Josi Herrn Werner telefonieren. Es dauerte, bis er aus dem Büro hinkte. Thomas hatte ihm die Krücken bestimmt nicht aufgehoben, so wütend, wie er guckte.

»Ich muss Sie bitten, die nächsten Tage erreichbar zu sein und die Stadt nicht zu verlassen. Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald wir Neuigkeiten von Frau Sanders Computer haben. Meine Kollegen haben soeben das Passwort geknackt.«

»Und was geht uns das an?«, fragte Marina und stellte sich mit verschränkten Armen vor Herrn Werner.

»Ihr Mann stand Frau Sander sehr nah, Frau Herzberg.« Er räusperte sich. »Einzelheiten werden Sie bestimmt von ihm selbst erfahren. Guten Tag noch!« Dann schlurfte er mit seinen Krücken zur Tür.