Gib mir noch eine. Bitte, bitte, nur noch eine! Ich war doch lieb!

16:11

Herr Rufus hatte im Rinnstein gelegen, an der Luisenstraße, schräg gegenüber vom Trampelpfad, in der Einfahrt von Herrn Dittfurth. Herr Dittfurth war ein rüstiger Rentner, der allein in einer Jugendstilvilla wohnte, einen alten Mercedes hatte und ihn immer in der Einfahrt parkte, um ihn dort zu polieren. Herrn Dittfurth kannte jeder, er grüßte nett und war auch zu Lou immer freundlich, wenn sie an seinem Haus und dem Mercedes vorbeikamen. Lou durfte sich sogar schon mal in sein Auto setzen. Lenkrad und Armaturenbrett waren aus Walnussholz und die Polster aus cremefarbenem Leder. Lou interessierte aber mehr, wie schnell er fahren konnte, und war erstaunt, wie langsam die Kiste war, im Vergleich zu Marinas Schlitten oder Thomas' BMW. Herr Dittfurth hatte eine Glatze, die genauso glänzte wie sein Auto. Anhand von Herrn Dittfurths Glatze hatte Josi Lou mal erklärt, dass Männern, wenn sie älter wurden, die Haare ausfielen. Lou hatte das erst für einen Scherz gehalten, aber dann wurde er nachdenklich und wollte wissen, ob er später auch mal eine Glatze bekommen würde.

»Glaube ich nicht, du hast das kräftige Haar von Papa geerbt«, hatte Josi gesagt. »Und Thomas ist kein Typ für eine Glatze.«

»Warum?«

»Na weil er dann jetzt schon Haarausfall hätte.«

»Was ist Haarausfall?«

»Na, da fallen einem eben die Haare aus.«

»Einfach so?«

»Ja.«

»Und dann hat man eine Glatte?«

»Glatze, Lou.«

Er hatte an seinen Haaren gezogen und geprüft, ob er auch Haarausfall hätte. Josi beruhigte ihn.

»Kriegen Frauen auch eine Glatze?«

»Nein.«

»Dann möchte ich lieber eine Frau sein.«

»Wirklich? Wärst du lieber ein Mädchen?«

Lou hatte daraufhin den Kopf geschüttelt und seine kleine Hand in Josis geschoben. Das war letzten Sommer gewesen, Josi konnte sich noch genau daran erinnern.

Was hatte Herr Dittfurth mit Herrn Rufus zu tun, dem klugen, roten Roboter, der aussah wie ein eckiges Männchen mit zu großen Schuhen? Die Polizisten, die ihn gefunden hatten, hatten Herrn Werner sofort ein Foto geschickt. Als Josi Herrn Rufus auf dem Display von Herrn Werners Smartphone sah, wie er bäuchlings auf dem Pflaster lag, musste sie weinen.

Herr Werner war daraufhin sofort zu Herrn Dittfurth gehumpelt. Sie wollte mit, aber er wies sie zurecht, sie solle sich bloß nicht in seine Ermittlungen mischen. »Das ist kein Räuber-und-Gendarm-Spiel, junge Dame!«

Seine Art, mit ihr zu reden, verschlug ihr die Sprache. Herr Werner fuhr gleich fort mit seinem Sermon, sagte, sie solle sich bitte zur Verfügung halten und ihm ihre Handynummer geben. Thomas stand mit verschränkten Armen da und sagte nichts. Machte die Tür hinter dem Hauptkommissar zu und kaute auf seiner Unterlippe herum.

16:30

Josi rief Max zurück, entschuldigte sich, dass sie ihn am Mittag weggedrückt und noch nicht zurückgerufen hatte. Max war ganz aufgebracht, aber nicht deswegen.

»Josi, stell dir vor, die Polizei war gerade bei mir. Sie haben mich gefragt, wo ich gestern zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr war und ob ich Lilli Sander kannte. Die Tote.«

Wie selbstverständlich er diesen Namen aussprach!

»Herr Wagner, dieser Voll-Horst mit den Krücken, hat mich gelöchert.«

»Herr Werner«, sagte Josi.

»Was denkt der denn? Ich war doch bei dir!«

»Ja«, sagte Josi. »Du warst bei mir.«

»Er hat mich gefragt, ob Lou mich genervt hätte, ob ich lieber allein mit dir gewesen wäre.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Klar wäre ich lieber allein mit dir gewesen! Aber das heißt doch noch lange nicht, dass mich Lou genervt hat. Der Kleine war echt gut drauf. Wir hatten Spaß! Aber das hat dieser Wagner – sorry, Werner – irgendwie nicht geschnallt. Hat versucht, mir zu unterstellen, dass ich Lou loswerden wollte. Er hat mich total festgenagelt, weil ich doch gesagt habe, mit Lou sei alles in Ordnung, als ich von der Toilette wiederkam. Er hat mich echt fertiggemacht, weil ich gelogen habe, nach dem Motto: Wer lügt, mordet auch. Dabei war das doch nur eine Notlüge. Er kapiert einfach nicht, dass ich mir nichts dabei gedacht habe. Okay, das war scheiße von mir, ich weiß, Josi, aber ich wollte dich nicht anlügen. Das tut mir alles so leid. Andauernd mache ich mir Vorwürfe: Hättest du doch bloß nachgesehen. Hättest du Josi doch bloß gesagt, er sitzt nicht auf dem Sofa. Aber es ist doch verständlich, wie ich reagiert habe, oder? – Sag doch mal, Josi. Das war doch keine vorsätzliche Lüge!«

»Der kann doch nicht ernsthaft denken, dass du in fünf Minuten mal eben ein Kind entführst und eine Frau umbringst.« Josi lachte laut auf.

»Er meinte ja auch nicht in den fünf Minuten, als ich auf der Toilette war.«

»Sondern?«

»In der Zeit, als ich eine geraucht habe.«

»Geraucht? Wann hast du denn eine geraucht?«

»Als du geschlafen hast, Josi. Die berühmte Zigarette danach. Auf deinem Balkon. Du warst so entspannt und so schön, Josi, ich habe dir beim Schlafen zugesehen und dabei eine geraucht.«

Also doch! Er hatte nicht die ganze Zeit geschlafen, so wie sie!

»Wann war das?« Josi erschrak selbst vor ihrer schrillen Stimme.

»Keine Ahnung, bestimmt nach Mitternacht.«

»Wann bist du wieder ins Bett gekommen?«

»Gleich danach.«

Nun erinnerte sie sich auch, dass er nach Rauch gerochen hatte und an seine kühlen Lippen an ihrem Ohr.

»Josi?«

»Ja.«

»Warum sagst du denn nichts?«

Sie kriegte keinen Ton raus.

»Ich war nicht weg, Josi. Ich war bei dir. Die ganze Zeit. Du glaubst mir doch?«

Josi schluckte. »Ja. Klar!«

»Ich habe dem Wagner nicht erzählt, dass ich auf dem Balkon geraucht habe.«

»Werner«, sagte sie leise.

»Dieser Moment, der war so kostbar, du sahst so schön aus, Josi. Ich hätte da noch stundenlang stehen und dich anschauen können, andererseits hatte ich solche Sehnsucht, dich wieder zu spüren, deine Haut, deine Wärme, deine Haare. Und dann bin ich ja auch eingeschlafen, bis du …«

Josi holte tief Luft. So etwas Schönes hatte ihr noch nie jemand gesagt. Sie hörte Max' Atem durchs Telefon. »Das geht auch keinen was an«, sagte sie leise.

»Können wir uns nicht noch sehen, Josi?«

Sie zögerte. »Ich kann nicht, Max. Ich habe Kopfschmerzen. Mir tut alles weh.« Sie wollte nicht, dass Max sie so sah, blass, verheult und völlig ungeschminkt. »Wir reden morgen, ja?« Außerdem war sie so schlapp, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte.

21:51

Josi lag im Bett, auf dem Rücken, die dünne Decke bis ans Kinn gezogen, wie früher, wenn sie in der Nacht aufgewacht war, weil sie Geräusche gehört und sich gefürchtet hatte. Dann hatte sie nach Papa gerufen und er war in ihr Zimmer getapst, in kurzer Pyjamahose und T-Shirt, und hatte mit dieser Streichelstimme gefragt, ob sie schlecht geträumt hätte. Er hatte ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen und seine weiche, kühle Hand auf ihre Wange gelegt. Meistens war sie gleich darauf wieder eingeschlafen.

Max – er hatte also auf dem Balkon geraucht und sie hatte davon nichts mitgekriegt. Er hätte auch eine Stunde weg sein können – davon hätte sie genauso wenig mitgekriegt.

Was wusste sie schon von Max? Sie kannte ihn gerade mal ein paar Wochen. Sie wusste, dass er sein Abi so gut wie in der Tasche hatte, einmal in der Woche bei einem Orthopäden als Aushilfs-Arzthelfer jobbte, Peter Fox und Seeed toll fand, Spontanpartys liebte, große Clubs nervig fand, weil man sich nicht unterhalten und nur tanzen konnte, Stracciatella seine Lieblingseissorte war und dass er Sportmedizin studieren wollte. Sie hatten so viele Gemeinsamkeiten. Und dann war es gestern auch so schön gewesen – wie nie zuvor! Er war feinfühlig, witzig und zärtlich. Sie wusste schon gar nicht mehr, was sie denken sollte. Josefine ging es schlecht, es war ihr noch nie so schlecht gegangen in ihrem Leben. Ihr war, als liefe eine dunkle, kalte Schlucht durch ihren Körper und breitete sich immer weiter in ihr aus. So ein ähnliches Gefühl hatte sie auch gehabt, als ihre Eltern sich getrennt hatten. Da konnte sie ihre Freundinnen mit den »heilen Familien« um sich herum nicht ertragen. Es tat ihr weh zu sehen, wie eine ganze Familie in ein Auto stieg, womöglich noch mit Hund. Sie hatte keine Familie mehr, von einem Tag auf den anderen war nichts mehr so wie früher, seit dem Tag, als ihre Mutter gesagt hatte, sie müsste jetzt mal mit ihr reden, ihr etwas sagen, was erst einmal ganz schlimm klinge, doch gar nicht so schlimm sei. Josi hatte sich ganz eng an Mama gekuschelt, mit ihrer Giraffe in der Hand, Gina. Sie hatte noch genau vor Augen, wie sie Gina an einem Bein gehalten hatte und ihr Kopf hin und her baumelte. Er stieß dabei immer gegen Mamas Bein.

Mama sagte, sie würde sich von Papa trennen und mit Josi ausziehen, in einen anderen Stadtteil, nach Kreuzberg. Josi hatte nichts dazu gesagt, nur weiter mit der Giraffe rumgeschlenkert, und dann spürte sie, wie heiß ihr im Gesicht war und wie nass. Sie musste so sehr weinen, dass sie gar keine Luft mehr bekam. Mama hatte sie auf den Schoß genommen. Dann kam Papa und schimpfte mit Mama, weil sie es Josi gesagt hatte.

»Irgendwann muss man es ihr doch mal sagen!« Mama war aufgestanden, mit Josi auf dem Arm. Dabei war Josi schon in der zweiten Klasse und Mama hatte sie schon lange nicht mehr auf den Arm genommen, weil sie zu schwer für ihren Rücken war.

»Warum hast du damit nicht auf mich gewartet?«, hatte Thomas gesagt und war hinter ihnen hergelaufen. Josi wollte ihn umarmen, aber ihre Arme hingen zu schwer an ihr herab.

»Weil du dich wieder rausgeredet hättest. Du bist doch zu feige, endlich auszusprechen, was sie sowieso schon so lange ahnt! Ein Kind spürt so was doch!«

Und dann war Papa stehen geblieben, mit aufeinandergepressten Lippen, und Josi war die Giraffe aus der Hand gerutscht. Wie oft hatte sie danach geträumt, dass sie ins Leere trat und in ein Loch fiel, als würde sie in eine Höhle einbrechen, wo jemand mit dem Rücken zu ihr hockte und weinte. Und als sie näher heranging, sah sie, dass es ihr Vater war, der dort hockte. Sie wollte die Hand ausstrecken und ihn trösten, aber da verschwand er und sie wachte von ihrem eigenen Weinen auf, schweißgebadet. Jetzt hatte sie genauso ein Gefühl wie nach diesem damals immer wiederkehrenden Albtraum.

Sie stand auf, trat ans Fenster, auf den Balkon. Hier hatte Max also gestanden und geraucht. Na und!

Der Garten. Die dunklen Umrisse der Bäume. Die Gartenpforte. Der Trampelpfad. Sie zog die Gardinen zu und trank einen Schluck Wasser.

Wo war Lou? Und was hatte diese Lilli Sander von ihrem Vater gewollt?

Bilder fraßen sich durch ihr Hirn wie Holzwürmer durch Barbaras antiken Küchenschrank. Lou, wie er in Brennnesseln lag, Lilli Sander, mit leuchtend roten Lippen und großen, traurigen Augen. – Max – Lilli – Max – Lou. Nein. Lou lag nicht in den Brennnesseln! Und wie kam sie darauf, dass Lilli Sander traurige Augen hatte? Josi konnte sich nicht an ihre Augen erinnern.

Sie musste jetzt vernünftig sein. Etwas schlafen.

Sie schlief.

Oder doch nicht?

Traumsequenzen surrten in ihrem Kopf herum wie Schmeißfliegen. Immer wieder taumelte sie durch ein absurdes Szenarium, wo Bäume vor ihr umfielen und der Wurzelteller blutete. Dann hörte sie Lou rufen: »Hol mich hier raus! Bitte, bitte, hol mich hier raus!«

Schweißgebadet, mit Herzklopfen bis zum Hals, schreckte sie hoch und horchte, aber sie hörte nur Thomas durch die Wohnung tapsen, durchs Wohnzimmer, durch die Küche in sein Büro. Sie wollte runter, zu ihm, aber ihre Beine waren zu schwach, um aufzustehen und in sein kaltes Büro zu gehen. Thomas' Büros waren immer kalt. Wie oft hatte sie schon an seinem riesigen Schreibtisch gesessen und gefroren. Dann war er nah und doch so weit entfernt, als wäre er gar nicht da. Er wurde erst warm vor Publikum, vor seinen Studenten.

Sie fror in ihrem eigenen Schweiß, faltete die Hände. Beten konnte sie nicht. Sie hatte noch nie gebetet. Zu wem denn auch? Sie glaubte an keinen Gott, anders als Robert. Er hatte abends immer gebetet. Bitte, bitte, lieber Gott! Aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was er von dem lieben Gott so inbrünstig erbeten hatte, nur dass Mama ihr erklärt hatte, dass Robert einen Gott brauchte und man ihm den nicht auch noch nehmen dürfte.

»Ich will auch einen Gott haben«, hatte sie einmal gesagt.

»Du brauchst keinen«, hatte Barbara erwidert. »Du hast eine Mutter und einen Vater, die dich über alles lieben.«