Ich habe Durst! Mach die Tür auf! Ich habe Durst!

9:27

Es war ein Kommen und Gehen. Andauernd wollten irgendwelche Leute von der Polizei was von Herrn Werner, persönlich oder per Telefon.

Herr Werner war auf dem Weg in den Garten. An der Terrassentür schaute er sich noch mal um. Von dort hatte er einen guten Blick in die Küche, direkt auf den Herd und die Anrichte daneben. Es fuhr Josi wie ein Schlag durch den Körper, denn sie wusste, was er gerade entdeckt hatte: die vier Muffins.

Sie wollte ihm sagen, dass sie geschwindelt hatte, weil sie wütend war, schließlich hatte er Max verdächtigt, mit dem Verschwinden von Lou etwas zu tun zu haben, ihren Max, der so zärtlich zu ihr war. Und nun kam er und machte alles kaputt, ja zog sogar in Betracht, dass Max diese Frau umgebracht haben könnte. Das war doch völlig absurd!

Herr Werner sah sie finster an. »Glaub mir. Es ist nicht gerade hilfreich, wenn du jetzt auch noch lügst.«

»Das ist mir so rausgerutscht, mit dem Muffin«, sagte Josi. »Sie haben sich so an Max verbissen, da …«

»Hör mal, Mädchen, ich verbeiße mich nicht, sondern führe hier Ermittlungen und habe gesehen, dass da nicht drei von diesen Muffins stehen, sondern vier, also hast du eindeutig gelogen.«

»Nun hören Sie doch mal mit diesem bescheuerten Muffin auf!«, herrschte Thomas ihn an.

Sie gingen über den Rasen. Die weiß eingetüteten Leute von der Spusi untersuchten gerade die Gartenpforte und den Trampelpfad auf Spuren, stellten Schilder auf, maßen Entfernungen aus und steckten irgendwas mit Pinzetten in kleine Plastiktüten.

»Das wird schwierig«, sagte Herr Werner und schaute auf die Bodenplatten, die vom Schuppen bis zur Pforte reichten. Zwischen Rasen und Platten waren Pfützen. »Der Platzregen von gestern dürfte kaum Spuren übrig gelassen haben.« Er brummelte noch was vor sich hin, dass es ja auch zu schön gewesen wäre, wenn man gleich verwendbare Fußabdrücke gefunden hätte, und blieb beim Komposthaufen stehen. Dort betrachtete er ausgiebig die Kapuzinerkresse, die sich bis an den Zaun rankte.

»Schön, so ein Gewächs«, sagte er. »Unglaublich friedlich. Finden Sie nicht?« Er schaute Thomas an. »Friedlich und unschuldig und so schöne Blüten.«

»Ja. Mit der Kresse hatten wir noch nie Probleme«, sagte Thomas.

Herr Werner lachte. Josi sah seine bräunlichen Zähne – total verraucht. »Außerdem sehr gesund: blutreinigend, pilztötend und schleimlösend. Beruhigend, dass es so was gibt, oder? – Na ja, ich meine, es gibt eben doch Nützliches auf der Welt. Das finde ich immer wieder beruhigend.«

Josi hatte, genau wie Thomas, keine Lust, mit diesem Kommissar über unschuldige Kapuzinerkresse zu philosophieren. Sie gingen an den Johannisbeer- und Stachelbeersträuchern vorbei. Herr Werner schaute auf den Baumbestand.

»Keine Obstbäume?«, stellte er fest.

»Nein, keine Obstbäume«, brummte Thomas.

»Wie schade.«

Vor dem Baumhaus blieben sie stehen. Herr Werner deutete auf die Strickleiter, die von der Linde baumelte. »Ach, guck an, ein Baumhaus! So was hätte ich als Kind ja auch gern gehabt.«

»Und warum hatten Sie keins?«, fragte Josi.

»Nicht jeder ist so glücklich und hat einen Garten in Berlin, junge Dame. Ich bin in Marzahn aufgewachsen. – Platte. Sagt dir das was?«

Daher wehte also der Wind, dachte Josi. Der Herr Hauptkommissar war tatsächlich neidisch.

»Kann ich da mal rauf?« Herr Werner fasste an die Strickleiter.

»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Thomas und trat die Zigarette im Rasen aus. Herr Werner guckte, als hätte Thomas die Kippe auf seinem Arm ausgedrückt. Josi hatte so was von ihrem Vater auch noch nicht gesehen.

Herr Werner packte die Strickleiter und kletterte hoch. Er war jetzt auf der letzten Sprosse und griff nach dem Ast über ihm, um sich auf die Plattform zu hieven. Dabei rutschte er mit der Hand ab.

Es ging alles ganz schnell: Er versuchte sich noch am Strick festzuhalten, aber zu spät. Ein Fuß verklemmte sich zwischen zwei Sprossen, dann knallte Herr Werner auf den Rasen und blieb liegen.

Josi war sich nicht sicher, ob das, was sie sah, wirklich war: einen stöhnenden Hauptkommissar, vor ihr, auf dem Boden.

»Oh Gott«, sagte Thomas und fasste Herrn Werner am Arm. »Haben Sie sich verletzt?« Er versuchte, ihm aufhelfen, aber Herr Werner stöhnte nur.

Die nächste Viertelstunde brauchte Thomas, um Herrn Werner zum Haus zurückzuschleifen. Herr Werner hatte einen Arm um seine Schulter gelegt und hüpfte mit schmerzverzerrtem Mund auf einem Bein zum Haus. Josi rückte einen Gartenstuhl zurecht. Herr Werner schob sein Hosenbein hoch, den Socken runter und betrachtete den angeschwollenen rotblauen Knöchel.

»Bänderriss«, sagte Josi. »Dauert vier bis sechs Wochen.« Einer Freundin vom Volleyball war das auch gerade passiert.

Herr Werner guckte sie an, als wäre sie ein Geist. Beinahe hätte sie laut gelacht, es war wirklich verrückt. Der Herr Hauptkommissar fällt vom Baumhaus!

Herr Werner rief seine Kollegen an. Ein Streifenwagen kam und holte ihn ab.

»Noch nichts Neues wegen meinem Sohn?«, fragte Thomas die Beamten. Sie schüttelten den Kopf und hievten Herrn Werner ins Auto. Dann fuhren sie ins Behring-Krankenhaus.

9:59

Auf der Straße war der Bär los. Alle möglichen Leute standen vor der Absperrung und gafften. Wie im Zoo, dachte Josi. Dabei war die Leiche längst abtransportiert worden. Sie stand auf ihrem kleinen französischen Balkon. Von Weitem sahen die Spusi-Leute wie äsende, weiße Tiere aus, wenn sie knieten oder sich bückten. Irgendwie kam ihr alles inszeniert vor. Da konnte doch keine echte Leiche gelegen haben, gleich neben ihrem Garten! Und was, verdammt noch mal, war mit Lou? Papa hatte es schon angesprochen: Hier lief irgendwo ein Mörder herum und ihr Bruder war immer noch verschwunden. So ein kleiner Junge war doch ein gefundenes Fressen für Gewalttäter. Josi zwang sich, nicht weiter in diese Richtung zu denken. Ihr Herz schlug wie nach einem 400-Meter-Lauf. Sie musste sich ablenken, irgendwas tun!

Sie ging in ihr Zimmer und holte den Detektivkoffer unter dem Bett hervor, stellte ihn aufs Bett und öffnete ihn. Alles war sorgfältig in Schächtelchen oder Tüten verpackt, aneinandergeklammert und sortiert. Sie nahm einen aufgerollten Bindfaden heraus, eine Taschenlampe, die aussah wie ein Kugelschreiber, eine Streichholzschachtel mit Reißzwecken – wahrscheinlich, um fliehende Verbrecher zu stoppen –, eine Lupe, ein Fernrohr, Thomas' altes Handy, ein Döschen mit Pulver und Pinsel, um Fingerabdrücke zu nehmen, mehrere Stöckchen, an denen noch getrocknete Erde klebte, und Visitenkarten, die sie mit Lou am Computer entworfen hatte. Sie bröckelte die Erde von den Stöckchen. Einige waren beige, andere schwarz oder braun und alle waren sehr glatt. – Moment mal, es waren gar keine Zweige, es waren … Josi betrachtete sie näher. Sie sahen eher aus wie Absätze von High Heels. Tatsächlich, es waren abgetrennte Absätze, manche bestimmt zehn Zentimeter lang und dünn wie ein Bleistift.

Ihr Handy klingelte. Sie sah Max' Foto auf dem Display. Sein strahlendes Lächeln tat ihr weh.

»Ist Lou …?«

»Nein.«

»Wie geht es dir?«

Sie musste weinen, kriegte keinen Ton raus.

»Soll ich nicht doch vorbeikommen?«

Sie wischte sich die Tränen ab. »Max, ich kann jetzt nicht. Bitte! Ich ruf dich an, wenn Lou wieder da ist.«

»Meinst du nicht, es täte dir gut, aus dem Haus zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen? Das ist doch alles zu viel auf einmal – und jetzt noch mit der Toten …«

»Max, ich kann nicht weg. Bitte, lass mich.«

»Ich möchte bei dir sein, dich trösten.«

Sie spürte, wie sich ihr Körper nach einer warmen Umarmung mit Max sehnte. Das wollte sie auf keinen Fall! Nicht, dass ihr noch mal so was passierte wie gestern.

»Gibt es denn irgendeine Spur?«, fragte Max nach einer Weile.

»Ich weiß nicht. Der Kommissar will noch mal mit dir sprechen, wegen …«

»Ja«, sagte er sofort. »Das hat mir die Polizei schon gesagt.«

»Wieso hast du mir eigentlich gesagt, dass mit Lou alles okay wäre, obwohl du ihn gar nicht gesehen hast?«

»Josi, deswegen habe ich mir schon die größten Vorwürfe gemacht, aber glaub mir, ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht. Man denkt doch nicht gleich an so was. Und ich wollte zu dir. Es war so schön!«

Ja, es war schön, aber auch unwichtig. Es gab Wichtigeres im Leben. Verantwortung, zum Beispiel. Sie hatte die Verantwortung für ihren kleinen Bruder missbraucht.

»Max, als wir eingeschlafen sind, nachdem wir …«

»Ja?«

»Wir haben bestimmt eine Stunde geschlafen …«

»Du warst so schön«, flüsterte er.

Sie konnte nicht weiterreden. Max' Stimme klang, als würde er sie mit den Fingerspitzen im Nacken berühren. Und es war sowieso Blödsinn, dass Herr Werner ihn verdächtigte, und außerdem war es eben nicht nur Sex – etwas, was man »hat«. Es war viel mehr, es war …

»Josi, was ist?«

Irgendwas war da, aber sie kam nicht drauf. »Ach, ist schon gut.«

»Wirklich?«

»Hm.«

»Ich würde dich so gern in die Arme nehmen. Jetzt.«

Sie schloss die Augen, sehnte sich nach seinem Körper, aber schüttelte das Verlangen ab wie Wassertropfen. Sie musste unbedingt einen klaren Kopf behalten.

»Der Kommissar … Stell dir vor, er ist vorhin vom Baum gefallen. Er ist im Krankenhaus.«

»Was macht denn der Kommissar auf einem Baum?«

»Er wollte sich Lous Baumhaus ansehen.« Sie erzählte ihm, was passiert war.

»So was Blödes gibt es auch nur bei der Polizei«, sagte Max.

Sie versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten.

»Josi, ich liebe dich. Und es tut mir so leid!«

Seine Worte gingen ihr unter die Haut, ins Blut und in die Knochen, ins Herz. Aber sie kriegte keinen Ton raus. Hatte er nicht eben gesagt: »Du warst so schön?« Das hörte sich so an, als hätte er sie betrachtet, während sie geschlafen hatte. Aber er hatte doch selbst geschlafen!

10:19

Josi lehnte im offenen Fenster und konnte nichts tun. Wenn sie sich setzte, wollte sie aufstehen, wenn sie stand, wollte sie sich setzen. Schatten tanzten vor ihren Augen, Blätter flirrten. Papa und sie unter einer Birke. Mama lacht, reicht ihr ein Überraschungsei. Sie sitzen zu dritt auf einer Decke. Picknick. Brötchen, Nudelsalat, Himbeersaft. Vögel zwitschern. Sie nimmt das Überraschungsei und lehnt sich an Papas Hüfte, schmiegt sich mit dem Rücken an ihn. Er legt seine Hand auf ihre Schulter, streicht über ihren Arm.

»Willst du das Ei nicht aufmachen?«, fragt Mama.

»Mama?« Ihr Handy rauschte. Es war, als würde ihre Mutter irgendwo im Sturm stehen. Barbara fragte, ob sie sie abholen sollte oder mit ihr spazieren gehen wolle. Barbara sagte noch was durch die rauschende Leitung, aber Josi hörte nicht mehr zu. Spazieren gehen – so ein Schwachsinn! Sie konnte doch jetzt nicht spazieren gehen!

Sie legte sich ins Bett. Es war noch zerwühlt, aber nicht mehr warm. Sie zog die Decke bis ans Gesicht und steckte ihre Nase ins Kissen. Es roch nicht mehr nach Max. Es roch nach gar nichts. Sie versuchte sich zu erinnern, was damals, beim Picknick, in dem Überraschungsei gewesen war. Es fiel ihr nicht ein, weil sie noch nie etwas Gescheites darin gefunden hatte. Nicht wie Lou, mit seinem kleinen Herrn Rufus.