So kommt auch die Ehrlichkeit nur zu denen, die mit ihr leben wollen.

16:11

Herr Werner war geblieben und nahm sich jetzt Thomas vor. Sie waren beide auf der Terrasse, Herr Werner saß in einem der Rattan-Gartenstühle und Thomas stand vor dem Tisch und rauchte. Marina hatte Frau Bruchhusen zur Tür gebracht und ließ sich aufs Sofa fallen. Sie sah erschöpft aus. Josi legte einen Finger auf den Mund. Herr Werner hatte sie gerade ausdrücklich gebeten, in ihr Zimmer zu gehen, da die folgende Unterredung sicher nichts für ihre Ohren sei. Sie hatte einen Einwand von Papa erwartet, aber der guckte nur trotzig und schwieg. Sie dachte gar nicht daran, sich von dem schwitzenden Strickjackenbeamten aufs Zimmer schicken zu lassen!

Sie huschte in die Küche, öffnete das Fenster. Von hier aus konnte sie die Männer auf der Terrasse hören und Marina sehen. Sie hatte ebenfalls die Ohren gespitzt. – Herr Werner hatte sie zwar nicht auf ihr Zimmer geschickt, aber es war trotzdem klar, dass er mit Thomas unter vier Augen reden wollte.

Josi hörte, wie Herr Werner Thomas gerade unter die Nase rieb, was er im Computer von Lilli Sander gefunden hatte, nämlich ihr Tagebuch, und er stellte Fragen, die Josi sonderbar vorkamen: wie oft Thomas und Lilli Sex gehabt hätten, wo und wann. Warum wollte Herr Werner diese Details wissen? Etwa, um sich daran aufzugeilen? So, wie er aussah, erlebte er selbst bestimmt nichts in dieser Richtung. Josi bekam plötzlich Hunger. Sie hatte heute auch noch nichts Richtiges zu sich genommen. Sie hatte Lust auf was Deftiges wie ein englisches Frühstück. Schon allein der Gedanke daran ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie fand Speck im Kühlschrank, haute sich zwei Eier in die Pfanne, öffnete eine Dose Baked Beans. Der Speck brutzelte und verströmte einen würzigen Geruch. Durch das Brutzeln hindurch hörte sie Thomas von draußen.

»Willst du auch was essen?« Josi machte Marina entsprechende Zeichen.

Marina schüttelte den Kopf und legte den Finger an den Mund. Lächelte kurz. Josi lud sich den Teller voll, nahm einen Toast und schob sich einen Küchenhocker heran, setzte sich darauf und lehnte sich an den Kühlschrank. Herr Werner laberte und laberte. Er hatte seine Stimme gesenkt, sie konnte nicht verstehen, was er gesagt hatte. Marina anscheinend schon.

Jetzt wurde Thomas laut: »Also, ich muss schon sagen, Herr Werner, ich finde Sie sehr aufdringlich, ja geradezu belästigend! Ich habe dieser Frau nichts getan und Sie benutzen die Ermittlungen bezüglich des Verschwinden meines Sohnes, um mich in diesen Mordfall zu ziehen. Das ist nicht legitim, Herr Werner! Lassen Sie sich endlich krankschreiben und mich in Ruhe!«

»Reichen Sie mir bitte mal die Mappe rüber«, sagte Herr Werner. Es entstand eine Pause. Wahrscheinlich reichte Thomas sie ihm nicht. Sie sah Herrn Werner förmlich vor sich, wie er sich nun selber abmühen musste. Sie hörte, wie seine Krücken umfielen. Marina fing an zu kichern und schüttelte den Kopf.

»Meine Güte …«, sagte sie so laut, dass Herr Werner es draußen hören musste, »… die deutsche Polizei, wie sie leibt und lebt. In CSI: Miami stellen sie sich ein bisschen geschickter an.«

Herr Werner bellte sofort zurück: »CSI: Miami ist ja auch eine amerikanische Krimisendung, Frau Herzberg. Wir sind hier allerdings weder in Amerika noch in einem Krimi, Frau Herzberg – nicht mal in einem Tatort, sondern wir befinden uns in der Re-a-li-tät, Frau Herzberg. Ich habe hier …«

Josi trat ins Wohnzimmer und wagte einen Blick. Sah Herrn Werner, in dem bequemen Gartenstuhl, wie er versuchte, mit seinem verletzten Fuß Unterlagen vom Boden näher an sich heranzuschieben und sie aufzuheben.

»… das Tagebuch von Frau Sander«, sagte er, noch in lautem Bellton. Josi huschte wieder in die Küche.

»Schauen Sie mal, Herr Herzberg, was Lilli Sander dort über Sie geschrieben hat.«

»Lesen Sie es vor, ich möchte es auch hören«, rief Marina ihm zu.

»Bitte, nur zu«, hörte sie Thomas. »Lesen Sie ruhig. Ich habe nichts zu verbergen. Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht, auf den ich nicht sonderlich stolz bin, aber ich stehe dafür gerade. Ich bin ein aufrichtiger Mann und ich liebe meine Frau. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.«

Josi schaute zu Marina. Die presste die Lippen aufeinander und schluckte. Das war ja gerade eine fette Liebeserklärung von Thomas – mit der er Herrn Werner wohl gleichzeitig den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Marina schaute sehnsüchtig nach draußen, wahrscheinlich zu Thomas. Josi hielt sich an der Gabel fest. Ihr war, als würde sie gleich irgendwas entladen.

Herr Werner raschelte mit Blättern und sagte völlig ungerührt: »Na gut«, als könnte er es gar nicht abwarten, endlich schlüpfrige Details vorzulesen.

Josi spürte, wie er Papa damit unter Druck setzte. Aber nun gab es kein Entkommen mehr, Thomas hatte sich selbst in diese Situation gebracht. Josi stach in das Eigelb und beobachtete, wie es langsam über die Bohnen und den Schinken floss.

»Ihr Name erscheint in ihrem Tagebuch sehr häufig.« Herr Werners Stimme klang äußerst schulmeisterlich. »Und wir sind uns ja inzwischen einig, dass mit ›Thomas‹ Sie gemeint sind, nicht wahr, Herr Herzberg?«

Thomas antwortete nicht.

»Sie werden als attraktiver Mann beschrieben, der Wert auf sein Äußeres legt«, fuhr Herr Werner fort. »Ich zitiere: ›Heute trug Thomas einen dunkelblauen Schal. Der passte wunderbar zu seinen Augen …‹«

»Wirklich sehr interessant«, platzte Thomas heraus. »Vielleicht hat sie auch geschrieben, dass sie Apfelshampoo benutzt und welchen Joghurt sie bei Edeka kauft.«

Herr Werner las weiter, jedes Wort betonend: »Thomas ist so sexy, ich kann mich gar nicht auf die Inhalte seiner Vorlesung konzentrieren.«

»Ich bin nicht für die Fantasien meiner Studentinnen verantwortlich«, sagte Thomas.

Josi stopfte sich den Mund voll, kaute, schluckte, starrte auf ihren Teller. Blätterrascheln, dann fuhr Herr Werner fort: »Heute waren wir an der Bergmannstraße, in Kreuzberg, weit weg vom Radius seiner Frau. Er hat mir dort wunderschöne rote Jimmy Choo-Sandalen gekauft, mit Endlos-Absatz. Ich habe sie gleich angezogen und konnte ganz gut darauf laufen. Dann haben wir Passfotos gemacht, in so einem uralten Automaten, in Schwarz-Weiß. Er war sehr, sehr frech in der Kabine. Er hat …«

Josi wurde es eng im Hals.

»Die Fotos haben Sie ja bereits gesehen«, fiel Thomas ihm ins Wort. Josi hörte, wie Thomas sich eine neue Zigarette anzündete. »Weitere Details dürfen Sie mir also ersparen.«

Herr Werner ignorierte ihn einfach und fuhr mit dieser unerträglichen schnarrenden Stimme fort: »Wir hatten so einen Spaß! Er lud mich dann bei einem Nobel-Italiener zu einem Candlelight-Dinner ein. Natürlich bestellte er Champagner. Es war so romantisch!«

Herr Werner betonte Candlelight-Dinner und Champagner. Es hörte sich sehr spöttisch an. Warum ließ sich Papa das gefallen? Er war doch sonst so souverän und nie um ein Wort verlegen! Warum stoppte Papa ihn nicht?

Herr Werner kostete die Situation voll aus. Josi konnte das nicht mehr mitanhören! Sie stellte ihren Teller in die Spüle, nahm sich ein Glas Wasser aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer, an Marina vorbei, die auf den Boden starrte und an ihrem Ehering herumfummelte, als würde er ihr Kraft geben, all das auszuhalten, was Thomas so leichthin als »Ausrutscher« oder als »Fehler« abtat. Josi hätte nie gedacht, dass sie Marina einmal bedauern würde, weil sie an so einen Mann geraten war wie an ihren Vater.

Sie hustete laut, damit Herr Werner sie bemerkte und endlich aufhörte, weiter vorzulesen, aber er schien nichts mitzukriegen.

»… und dann sagte er, dass er in seinem Leben noch nie so glücklich war wie mit mir! Er will seine Frau verlassen!«

Herr Werner machte eine dramatische Pause. Jetzt drehte er seinen Kopf und erblickte sie. Josi stand mitten im Wohnzimmer und konnte keinen Schritt weitergehen, ihre Beine waren wie gelähmt. Papa wollte Marina also wegen dieser Studentin verlassen? Sie traute sich nicht, ihn anzusehen. Dann hörte sie ihren Namen.

»Josefine!«

Herr Werner hatte sie gerufen.

»Wenn du schon hier bist, hätte ich da noch eine Frage an dich. Dazu muss ich dir was zeigen. Komm doch bitte auf die Terrasse, du bist ja beweglicher als ich.«

Sie ging wie ein aufgezogener Spielzeugroboter an Marina vorbei, von der eine eisige Kälte ausstrahlte, obwohl das gar nicht möglich war, physikalisch jedenfalls nicht, aber Josi war, als bekäme sie Schüttelfrost.

Thomas stand da, mit einer Zigarette zwischen den Fingern, ohne daran zu ziehen, völlig versteinert. Als sie auf die Terrasse kam, regte er sich, warf die halb gerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Was für ein Geschwätz!«, sagte er überraschend ruhig.

Herr Werner war inzwischen aufgestanden, stützte sich mit einer Hand auf beide Krücken, wühlte mit der anderen Hand in seiner Mappe und zog ein Foto heraus.

»Josefine, erkennst du die Frau darauf?«

Auf dem Foto war eine lachende, posierende Frau zu sehen, mit tief ausgeschnittenem Top. Ihre Brüste waren zusammengedrückt und zu zwei Dritteln sichtbar, mindestens so groß wie Marinas. Die blonden Haare waren schulterlang und offen. In der Art, wie stolz sie ihre körperlichen Reize präsentierte, hatte sie durchaus Ähnlichkeit mit Marina – auch mit den blonden Haaren.

»Ist das nun die junge Frau, der du Samstag den Regenmantel geliehen hast, oder nicht?«

»Ja«, sagte Josi sofort. »Das ist sie.«

»Keine Zweifel mehr?«

Sie schüttelte den Kopf, schaute Thomas an. Er kniff die Augen zusammen, konnte ihrem Blick nicht standhalten. Hatte sie ihn jetzt verraten?

Herr Werner blätterte in seinen Unterlagen und sagte, dass er gern noch einen Absatz vorlesen würde, Frau Sanders letzte Eintragung, die sie am Samstagnachmittag geschrieben hatte. Er wandte den Kopf zu Josi. Sie sah ihm schon an, was er wollte: »Du kannst jetzt wieder gehen«, sagte er.

»Kommandieren Sie meine Tochter nicht so herum. Wir sind hier nicht bei der Volkspolizei!«, pfiff Thomas ihn an. Ein autoritärer Ton machte ihn immer wütend. Aber es war noch was anderes im Spiel. Angst. Josi merkte, dass er nicht wollte, dass Herr Werner den letzten Absatz vorlas, und hoffte, das vermeiden zu können, indem Josi blieb.

Aber die Lust, den erfolgreichen Professor bloßzustellen, war wohl größer als seine Prinzipien. Herr Werner sah Thomas triumphierend in die Augen und las die letzte Eintragung aus Lilli Sanders Tagebuch vor: »Ich fass es nicht! Thomas hat mir eine SMS geschickt. Er will seine Frau nun doch nicht verlassen! Er will mich nicht mehr wiedersehen! Dieses feige Arschloch! Aber so leicht kommt er mir nicht davon. Mir nicht! Ich werde ihn zur Rede stellen, und zwar bei ihm zu Hause, vor seiner Frau.«

Herr Werner schob die Blätter in seine Mappe zurück, steckte die Fotos wieder ein und fragte: »Nun, Herr Herzberg, was haben Sie dazu zu sagen?«

»Nichts!«, brüllte Thomas ihn an.

Herr Werner zuckte zusammen, klemmte sich die Mappe unter die Achsel und sagte ganz ruhig: »Unsere Experten sind noch dabei, Frau Sanders Handy auszulesen. Es hat leider in einer Pfütze gelegen und war vollkommen durchnässt. Es wird sich aber nur noch um Minuten handeln, bis wir die bereits erwähnte SMS haben.« Er legte den Kopf schräg. »Ich nehme an, Sie haben alles, was von Ihrem Handy an Frau Sander herausgegangen ist, gelöscht?«

Thomas sagte nichts.

»Wir hätten trotzdem gern Ihr Handy, Herr Herzberg. Und dass ich Sie jetzt nicht sofort festnehme, wegen dringendem Tatverdacht, liegt nur daran, dass uns noch ein Detail fehlt. Also: Sie verlassen bitte weiterhin nicht die Stadt und stellen sich nach Bedarf jederzeit zur Verfügung!«

Herr Werner verzog keine Miene, als er Thomas' Handy entgegennahm und es in seine ausgeleierte Strickjacke steckte. Dann machte er sich auf den Weg. Als er an Marina vorbeihinkte, rutschte ihm die Mappe aus der Achsel. Die Blätter und Fotos schlitterten über den Fußboden. Marina stand auf, zog ihr Kleid zurecht, stieg über die Blätter hinweg und stöckelte in den Flur. Josi hörte, wie sie sich ihre Handtasche schnappte, den Autoschlüssel vom Haken nahm, und dann knallte sie die Haustür zu, dass die Wände wackelten.