Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.
9:14
Lou war im Kindergarten begrüßt worden, als wäre er nie weg gewesen. Es waren ja auch nur zwei Tage. Zwei Tage, die Josi jedoch wie eine Ewigkeit vorgekommen waren und alles verändert hatten.
Sie fuhr mit Marina zurück und schaute hinaus. Die Häuser waren zwar dieselben, aber sie wirkten anders, als lauerte etwas Unheimliches, Grausames hinter den Fassaden. Die Angst, die sie um Lou gehabt hatte, ließ sich nicht einfach vergessen, sie steckte ihr tief in den Knochen. Und dann noch die Leiche und die Verhaftung ihres Vaters! Von heute auf morgen war nichts mehr, wie es war, und würde auch nie mehr so unbefangen sein.
»Komm«, unterbrach Marina ihre düsteren Gedanken. »Lass uns in ein Café gehen. Ich kann das leere Haus jetzt nicht ertragen.«
Sie fuhren ins Café Kirsch, am Nikolassee, und setzten sich in den Garten, unter eine Kastanie.
»Warst du dabei, als sie ihn … verhaftet haben?«
»Ja«, sagte Josi.
»Ist er in Handschellen abgeführt worden?«
»Nein.«
»Und was hat er gesagt?«
»Dass alles ein Missverständnis sei.«
»Glaubst du das auch?« Marina sah Josi in die Augen, als hoffte sie, dort die Wahrheit zu entdecken.
Die Bedienung kam, eine schlanke Frau in rosa Clogs und weißer Schürze. Marina bestellte einen doppelten Espresso und Josi einen Milchkaffee. »Und zweimal Frühstück!«, rief Marina der Bedienung noch hinterher. Josi wollte sagen, sie habe keinen Hunger, aber Marina ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Wir müssen was essen. Wir müssen stark bleiben. Ohne uns ist er verloren.«
»Ich bringe die Karte«, rief die Bedienung.
Josis Magen knurrte. Marina hatte recht. Sie mussten stark sein! Thomas konnte jetzt keine hungernden »Weiber« gebrauchen. Allein bei dem Gedanken an ein knuspriges Brötchen lief ihr das Wasser schon im Mund zusammen.
Marina sah Josi fordernd an. Sie wartete auf eine Antwort. Was sollte Josi schon sagen? Natürlich musste es ein Missverständnis sein. Aber was, wenn es das nicht war?
»Weißt du …«, fing Marina wieder an. »Es ist verdammt nicht einfach, mit deinem Vater zusammenzuleben. Alles geht immer nach ihm, nach seinen Arbeitszeiten, nach seinen Plänen. Ich muss mich voll und ganz nach ihm richten, wen wir einladen, auf welche Partys wir gehen und wohin wir in den Urlaub fahren. Ich will nicht immer nach Florenz oder New York. Ich will auch mal ganz faul in Mallorca am Strand abhängen oder in Florida.«
Über seinen Egoismus hatte sich Barbara früher auch immer beschwert. Das wollte Josi nicht mehr hören und erst recht nicht von Marina.
»Er ist mein Vater!«, sagte Josi. Das ließ Marina sofort verstummen.
»Ja. Ich weiß. Du hast es gut!«
»Gut? Wieso habe ich es gut?«
»Weil du seine über alles geliebte Tochter bist.«
Der Kaffee kam und die Speisekarten. Josi blätterte darin herum. War sie wirklich die über alles geliebte Tochter? Hatte Thomas diesbezüglich Marina gegenüber etwa Andeutungen gemacht? Warum sagte er ihr das dann nicht selbst?
Josi entschied sich für ein Früchtefrühstück. Marina sagte: »Für mich auch.«
»Kannst du nicht was anderes nehmen?«, platzte Josi heraus. Die Bedienung und Marina stutzten. Dann lächelte die Frau und empfahl Marina das süße Frühstück oder das Fitness-Frühstück oder das französische mit frischem Croissant. Marina bestellte das vegetarische Frühstück.
»Wieso willst du denn nicht, dass ich das Gleiche nehme wie du?«, fragte sie, als die Bedienung wieder weg war.
»Weil wir nicht gleich sind«, sagte Josi. »Du bist die Frau meines Vaters. Ich bin die Tochter. Und lass dir eins gesagt sein: Ich habe es auch nicht leicht mit Thomas. Noch nie gehabt!«
Im Nu schnellte Marinas Hand auf ihre Hand. Josi schluckte Tränen runter. Sie wollte auf keinen Fall vor Marina weinen. Sie wollte überhaupt nicht mehr weinen.
»Es tut mir leid«, sagte Marina leise. »Alles tut mir so leid. Ich habe mich dir gegenüber manchmal echt doof benommen. Besonders am letzten Samstag. Aber ich war so sauer auf Thomas. Er war so abweisend auf der Party, ging ständig raus zum Rauchen und Telefonieren. Ich habe dann zu viel getrunken …«
Josi zog ihre Hand weg.
»Ich fand dich immer toll, Josi«, sagte Marina leise. »Du hast so eine klare Linie Thomas gegenüber. Kommst und gehst, wann es dir passt, und bist die Einzige, nach deren Pfeife er tanzt. Weißt du, ich war manchmal ganz schön eifersüchtig auf dich, weil du Thomas so um den kleinen Finger wickeln kannst. Die wunderbare Tochter, der er keinen Wunsch verwehrt.«
»Stimmt ja gar nicht! Thomas ist immer in seine eigenen Sachen versunken. Manchmal denke ich, er nimmt mich gar nicht wahr. Ja, nicht mal Lou! Nur dich, mit deinen Stöckelschuhen.«
Marina wurde knallrot. Die Bedienung kam und stellte das Früchtefrühstück vor Josi hin.
»So, hier haben wir einmal Früchte – für Sie. Und einmal Französisch – für Sie. Guten Appetit!«
Marinas Augen schwammen, Josi sah, dass sie nicht mal Kraft hatte, das Frühstück zu reklamieren, denn sie hatte doch Vegetarisch bestellt. Marina tat so, als hätte sie sich gerade verschluckt, hielt sich die Serviette vor den Mund.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
»Zwei«, sagte Josi und wartete, bis die Frau weg war.
»Entschuldige, Marina, das habe ich nicht so gemeint. Es ist nur … mein Vater, also Thomas, stand immer schon auf High Heels.«
»Ich weiß«, sagte Marina. »High Heels, lange Haare, großer Busen. – Wie Lilli Sander.« Marina schnäuzte sich in die Serviette. »Weißt du, dass ich mir meinen Busen habe operieren lassen? Ich habe ihn um zwei Körbchennummern vergrößert!«
Also doch! Josi hatte es ja schon immer geahnt! Erstaunlich, dass Marina ihr das einfach so erzählte.
Marina löffelte sich Zucker in den Espresso. Ihre Finger zitterten. Sie trank den Kaffee mit einem Schluck, verzog das Gesicht und sah Josi an. »Man ist ja so bescheuert, wenn man verliebt ist. Aber soll ich dir mal was sagen? Ich liebe Thomas. Trotz allem. Und er liebt mich.«
»Und was machst du jetzt?« Josi wollte auf keinen Fall Details über ihren vergrößerten Busen hören. Thomas' sexuelle Vorlieben gingen sie nichts an. Allein die Stöckelschuhe sehen zu müssen, war schon schlimm genug. Dass Marina Thomas wirklich liebte, hätte sie jedoch nicht gedacht. Sie war fest davon überzeugt, sie hätte sich Thomas nur deswegen geangelt, weil er so ein attraktiver und erfolgreicher Professor war und dazu noch Kohle hatte! So sah Barbara das ja auch, obwohl sie nicht immer recht hatte, wenn es um Thomas ging. Sie betonte zwar immer, dass Josi sich selbst ein Bild von ihrem Vater machen sollte, aber das war nicht so einfach, wenn man schon vorher die Meinung der Mutter aufgedrückt bekam. Manchmal wünschte Josi sich, schon so erwachsen zu sein, dass sie völlig unabhängig von ihren Eltern sein könnte.
Marina hatte sich wieder gefangen. Sie biss vom Croissant ab und bestellte sich noch einen Espresso.
»Und was machst du jetzt?«, fragte Josi.
»Ich hole ihn da raus und dann fangen wir noch mal ganz neu an.«
Die Bestimmtheit, mit der sie das sagte, ließ keinen Zweifel aufkommen, obwohl es für Josi etwas kitschig klang. »Lass uns neu anfangen« – das sagten die Paare in den Fernseh-Soaps auch.
»Ich lass mich auf jeden Fall nicht scheiden, obwohl mir meine Eltern dringendst dazu raten.« Sie tippte sich mit dem Messer gegen die Stirn. »Die denken, ich sei nur wegen des Geldes und seinem Ansehen mit Thomas zusammen. Meine Mutter hat mich gedrängt, dass ich mich schnell scheiden lassen und eine möglichst hohe Unterhaltszahlung herausklagen soll. Am besten noch das Haus übernehmen. Sich mit Anwälten herumzuschlagen, das wäre der richtige Sport für sie. Aber nicht für mich! Meine Eltern denken gar nicht an mich, sie denken nur ans Geld. Sie waren schon immer so.« Marina war jetzt richtig in Fahrt. »Gestern haben sie ihn noch angehimmelt, den Herrn Professor, und heute lassen sie ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Nur weil die Polizei ihn mitgenommen hat, ist er für sie schon der Mörder.«
»Für dich nicht?«
Marina guckte sie groß an und warf das Croissant auf den Teller.
»Nein! – Für dich etwa?«
»Nein, natürlich nicht. Aber warum hat man seine Zigaretten in der Nähe der Toten gefunden und was hat es mit diesem Anruf auf sich?«
Marina wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Also, nach dem, was ich jetzt alles gehört habe, ist Folgendes passiert: Lilli Sander ist am Samstag zu uns gekommen, um Thomas eine Szene zu machen, aber wir waren gar nicht da. Du warst da. Du hast sie gesehen.«
Josi nickte wieder.
»Ja, und dann hat sie Thomas angerufen und gesagt, sie würde jetzt zur Party kommen und ihm dort eine Szene machen, woraufhin Thomas versucht hat, sie zu beruhigen. Sie wollte unbedingt mit ihm reden. Er sollte zur Bushaltestelle kommen, was er auch tat. Und dort hat er auf sie gewartet und dabei zwei Zigaretten geraucht. – Das waren die Kippen, die die Polizei gefunden hat.«
Und die eine von Max, dachte Josi, der sie kurz vorher in die Bushaltestelle geschnippt hatte.
»Aber Lilli Sander kam nicht.«
»Weil sie schon tot war.«
»Ja. Wahrscheinlich. Das wissen sie noch nicht so genau. Aber ich weiß, dass Thomas kein Mörder ist.«
Josi nickte. Sie konnte jetzt doch nichts mehr essen. »Natürlich nicht«, sagte sie und sagte es gleich noch einmal: »Natürlich nicht!«
Marina nahm Josis Hand. Sie fühlte sich gut an. All die Jahre war Marina ihr fremd geblieben und dann, plötzlich, bei einem gemeinsamen Frühstück, brach der Bann. Warum sind wir nicht schon früher mal frühstücken gegangen, dachte sie. Warum muss immer erst was passieren?
Am Auto verabschiedeten sie sich. »Wir telefonieren, sobald wir etwas Neues erfahren haben, ja?«, fragte Marina.
Josi nickte, umarmte sie. »Ja«, sagte sie. Dann ging sie zur S-Bahn.