Der Herr denkt an uns und segnet uns.
12:32
Max' Foto erschien auf dem Display. Josi ging aus der Küche.
»Hey Max!« Sie sah, dass er es schon öfter versucht hatte.
Auf dem Flur stieß sie gegen die Ecke des kleinen Schubladentischchens. Der Zettelkasten fiel herunter. Barbara bewahrte dort alle möglichen Postkarten auf. Nun lagen sie verstreut auf dem Boden. Josi rieb sich das Bein. Das würde bestimmt einen blauen Fleck geben.
»Wie geht es dir?«, fragte Max. »Ich konnte dich nicht erreichen. Hab mir schon Sorgen gemacht.«
»Ich bin okay. Aber sie haben meinen Vater verhaftet. Heute Morgen.«
»Kann doch nicht sein! Wieso das denn?«
»Die anderen beiden Zigarettenkippen, die sie an der Bushaltestelle gefunden haben, stammen von ihm.«
»Na und? Das heißt doch nichts. Dieser Holzkopf von Wagner wollte mich ja schon mit meiner Kippe festnageln. Das reicht nicht als Beweis.«
»Werner«, sagte Josi und sammelte nebenbei die Postkarten vom Boden auf. Es war auch eine DVD mit heruntergefallen. »Max, bitte, ich möchte jetzt nicht darüber reden. Ich habe Kopfschmerzen.«
»Soll ich vorbeikommen? Ich könnte dir eine Kopfmassage geben, so richtig schön zum Entspannen, ich …«
»Nein, ich glaub, ich leg mich jetzt erst mal hin.« Auf der DVD stand handgeschrieben: »Eat me, Version eins.«
»Josefine, ich vermisse dich!« Wie schön es klang, wenn er ihren Namen aussprach!
»Ich vermisse dich auch, Max!« Ach, könnte er doch jetzt, in diesem Moment, bei ihr sein!
»Dann lass mich doch vorbeikommen!«
»Nein, lieber nicht.« Dabei sehnte sie sich so sehr nach ihm, aber das konnte sie ihm jetzt nicht sagen, nicht, wo ihr Vater verhaftet war. Das stand ihr nicht zu!
»Heute Abend?«
»Ich brauche dringend einen ruhigen Abend.« Sie musste einen klaren Kopf behalten!
»Wir können es uns doch schön ruhig machen und gemütlich. Ach komm, Josi, das tut uns gut.«
Sie merkte, wie sie schon wieder schwach wurde. Max' Stimme im Ohr, die Vorstellung, in seinen Armen zu liegen, ihn zu küssen, zu streicheln … So hatte alles angefangen. Sie musste stark bleiben!
»Max, nicht heute Abend!« Sie konnte spüren, wie heftig die Worte gegen ihn prallten.
»Okay«, sagte er leise und dann sagte er gar nichts mehr.
Eat me, las sie noch mal auf der DVD. – Wo hatte sie das schon mal gehört?
»Max? – Es tut mir leid. Ich … «
»Schon gut. Ich verstehe ja, dass das alles ganz furchtbar für dich ist, und ich wollte dich ja auch nur ein bisschen ablenken von allem. Dich nicht drängen.«
»Ja. Das ist ja auch gut, aber …«
»Wann kann ich dich denn sehen?«
»Morgen, nach der Schule. Würdest du nach Kreuzberg kommen?«
»Ich würde überall hinkommen. Ich liebe dich, Josi.«
»Ich dich auch, Max.«
»Ruh dich aus, meine Schöne. Dann bis morgen. Aber telefonieren können wir heute noch, ja?«
»Ja, okay, später. Jetzt lege ich mich erst mal hin.« Sie steckte ihr Handy ein und bückte sich nach einer Postkarte, die unter das Tischchen gesegelt war. Eine Kirche war darauf zu sehen, darunter stand in geschwungenen weißen Lettern »St. Pauli Kirche Hamburg«. Witzig, St. Pauli war doch die sogenannte Sündenmeile von Hamburg. Die würde sie jetzt nicht gerade mit einer Kirche in Verbindung bringen. Josi drehte die Karte um und erkannte die kindlich krummen Buchstaben sofort. Die Wörter fingen groß an und wurden zum Zeilenende hin immer kleiner und gedrungener. Orthografie und Grammatik waren auf dem Stand einer Drittklässlerin. Kein Zweifel, es war eine Karte von Eva, der Mutter von Robert.
Diesmal schrieb sie: Hab mir heute die Haare braun gefärpt. Blond stet mir nämlich nich. Und paß ma auf daß Robert seine Müze aufseßt und nich so ville von die weißen Pralienen ißt!
Wie hartnäckig Eva das ß verwendete, gefiel Josi an den Karten. Ansonsten tat ihr die Frau leid, die ihr Leben durch Drogen verpfuscht hatte und kaum ein Wort richtig schreiben konnte.
Josi legte die Karte auf das Tischchen zurück. – Weiße Pralinen – damit meinte sie diese runden Dinger, mit Cremefüllung und Kokosraspeln, auf die Robert als Kind immer so scharf gewesen war. Josi erinnerte sich noch genau an diesen Abend, wo er vor dem Fernseher eine ganze Schachtel in Windeseile verputzt hatte. Sie hatten eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa gesessen und Josi hatte es gar nicht bemerkt, weil der Film so spannend gewesen war: Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Später hatte Robert dann das ganze Sofa vollgekotzt.
Weiße Schokolade mit Kokosflocken – das war doch genau das, was Lou auch erbrochen und Herr Werner von ihrer Schulter gekratzt hatte, um es im Labor analysieren zu lassen. Und Lou hatte ihr von dem alten Mann erzählt, der ihm weiße Pralinen gegeben hatte. Eat me – ging es ihr wieder durch den Kopf. Und hatte Barbara nicht ganz stolz gesagt, dass Robert nun mit ein paar Leuten Videospiele entwickelte? Die DVD war also eins von den Spielen, die er Barbara geschenkt hatte. Auf dem Cover waren kleine rote Monster mit langen Zähnen abgebildet. Eat me! Lou hatte dieses Spiel gespielt: Itmi hatte er es ausgesprochen und von kleinen roten Knöpfen gesprochen, mit langen Zähnen, die alles auffressen, was ihnen in die Quere kommt. – Ob Robert den alten Mann kannte? Sie sollte ihn danach fragen, ihn endlich mal besuchen, worauf Barbara ja schon so lange drängte. »Du weißt doch, wie anhänglich er ist. Und Lou würde er auch gern mal kennenlernen.« Und er würde dort bei einem älteren Herrn wohnen.
Einem älteren Herrn?
Es stach in ihrem Magen. Josi krümmte sich. – Ein älterer Mann konnte in Lous Augen auch ein alter Mann sein! Mit einer Hand stützte sie sich an der Wand ab. In dem Moment kam ihre Mutter um die Ecke.
»Nichts.« Sie richtete sich auf, aber ihr Magen rebellierte noch. Sie musste zu Robert. Vielleicht war Robert auch in Gefahr? Sie musste sofort los, um das zu klären, damit Papa so schnell wie möglich freikam! Denn vielleicht war das ja auch der Mörder von Lilli Sander.
Barbara fasste sie am Arm. »Mein Gott, du bist leichenblass.«
»Geht schon wieder. War wohl nur der Kreislauf. Ich habe wenig geschlafen.« Sie konnte nicht reden. Die Gedanken schleuderten wild in ihrem Kopf herum – und im Magen.
»Ich denke, du solltest was essen.«
»Nein, nein. Geht wirklich schon wieder.«
»Leg dich doch ein bisschen hin.«
»Ja, das ist eine gute Idee.«
Sie ging in ihr Zimmer und machte ihr die Tür vor der Nase zu. »Bitte, Mama, ich muss ein bisschen allein sein.«
Wenn sie »Mama« sagte, kamen meistens keine weiteren Fragen.
Sie lief vor ihrem Schreibtisch auf und ab. Wo kriegte sie jetzt Roberts Adresse her? Mama hatte nur gesagt, dass er in der Nähe vom Schlachtensee wohnte, also in Zehlendorf. Das passte doch alles, schließlich war Lou zu Fuß entkommen und am Mexikoplatz aufgegriffen worden.
Sie ging auf den Flur zum kleinen Schränkchen und lauschte. Stimmen aus der Küche. Gut. Sie öffnete die Schublade und blätterte das Adressbuch durch und fand gleich, was sie suchte, nahm einen Zettel, einen Stift und schrieb sich die Adresse auf. Dann ging sie in die Küche. Barbara und Estefan saßen am Tisch und guckten sie beide erwartungsvoll an.
»Ven niña, siéntate con nosotros para comer algo«, sagte Estefan.
»Nein, danke«, sagte sie, nicht in der Stimmung, mit Estefan Spanisch zu reden. »Ich habe gut gefrühstückt. Und ich bin auch zu aufgedreht, um zu schlafen. Ich fahr zu Miriam. Sie will endlich mal wissen, was passiert ist. Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich bin okay. Mal horchen, was wir in der Schule die letzten Tage so gemacht haben.«
»Gehst du morgen wieder in die Schule?«
»Ja, klar.«
»Ich dachte, du machst noch einen Tag Pause, nach allem, was passiert ist …«
»Nein, ich will so schnell wie möglich mein normales Leben wieder aufnehmen.« Josi staunte selbst, wie vernünftig sie klang. Dann sagte sie: »Bis später«, drehte sich um und verschwand aus der Haustür, bevor noch einer von den beiden weitere Fragen stellen konnte.
13:29
Auf der Oranienstraße war der Gehsteig blockiert von Touristen. Irgendein Bus musste sie ausgespuckt haben und jetzt standen sie da, in beigen Hosen, und ließen keinen vorbei. Sie versuchte, die Straße zu überqueren, aber die Autos hatten so dicht geparkt, da hätte sie über die Stoßstangen steigen müssen. Endlich fand sie eine Lücke und ging auf der Straße weiter. Ein Auto hupte sie an. »Blödmann!«, schimpfte sie. Beinahe wäre sie auf eine leere Beck's-Flasche getreten. Sie rollte in den Rinnstein.
Robert – Robi – ging es ihr durch den Kopf. Bestimmt würde er ihr weiterhelfen, ihr und Thomas, sie spürte es, obwohl sie nicht wusste, warum. – Ausgerechnet Robert. Robert Makowiak, ihr Exziehbruder. Bestimmt würde er sich wundern, dass sie ihn besuchte, nach all den Jahren. Sie würde ihm schöne Grüße von Barbara bestellen, ihm sagen, dass sie gehört habe, er wohne jetzt zur Untermiete in Zehlendorf, und sie sei auf dem Weg zu ihrem Vater und da wollte sie mal vorbeischauen, wie es ihm ging, wo er ja jetzt praktisch um die Ecke wohne. Sie musste ihm ja nicht unter die Nase reiben, dass sie extra aus Kreuzberg gekommen war. Und dann würde sie ihn nach den Computerspielen fragen und nach seinem Vermieter.
Aus dem Dönerladen an der Ecke roch es nach fettigem Fleisch. Vor dem Laden saßen Männer und rauchten Shisha. Daneben ein asiatischer Nudel-Shop. Ein Moped knatterte vorbei. All die Gerüche drehten ihr fast den Magen um. Im Zeitungsladen nebenan kaufte sie sich eine Flasche Wasser. Ohne Kohlensäure. Trank in kleinen Schlucken, ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Warum war sie nur so angespannt?
Robert – würde sie ihn überhaupt erkennen? Barbara hatte ihr vor Kurzem ein Foto gezeigt, aus der Zeit, als er aus dieser Pflegefamilie in eine betreute Jugend-WG zog. Da war er 15 und sie 13. Er hatte auf dem Foto ausgesehen wie jemand aus den 60ern, die dunklen, kurzen Haare sauber gescheitelt, in zugeknöpftem Hemd und Jackett. Er schaute sehr ernst und hatte ausgesehen, wie sie sich einen »guten Christen« vorstellte. Es hatte nur noch die Bibel in seiner Hand gefehlt. An das Foto konnte sie sich gut erinnern. So sah er auch aus, als sie ihn das letzte Mal auf der Straße getroffen hatte, nur waren seine Haare da ein bisschen länger gewesen.
Kottbusser Tor. Da standen sie, die Drogenabhängigen und die anderen Gestrandeten, vor Kaiser's. Manche waren so stoned, dass sie ihren Rausch mitten auf dem Bürgersteig ausschliefen, ihre großen Hunde neben sich. Hier gab es keine Bustouristen.
Josi ging die Treppe hoch, zur U1. Überall Taubenkacke und Typen, die ihr einen Fahrschein verkaufen wollten. In der U-Bahn roch es nach Urin.
Prinzenstraße – Hallesches Tor – Möckernbrücke.
Aussteigen links – Einsteigen bitte – Zurückbleiben bitte!
Robert – Robi. Lous neuer Roboter hieß Robbi.
Gleisdreieck – Aussteigen links – Einsteigen bitte – Zurückbleiben bitte!
Jetzt tauchten sie in den Untergrund. Kurfürstenstraße – ehemaliger Babystrich, kannte Josi nur aus dem Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Schullektüre aus der achten Klasse. Jetzt waren an der Kurfürstenstraße Prostituierte aus osteuropäischen Ländern. Die Prostituierten hatte sie selbst oft genug vom 109er-Bus aus gesehen. Sie standen bis zur Bülowstraße, in Stringtangas und Overknee-Stiefeln. Josi musste dann immer an Eva denken, die damals auch dort gestanden hatte, auf dem Babystrich und mit 15 mit Robert schwanger war, von irgendeinem Freier. Jetzt arbeitete sie nicht mehr auf der Straße, sondern in irgendeinem Etablissement auf St. Pauli. Widerlich, dass es genügend Männer gab, die sich von diesen kaputten Frauen noch einen runterholen ließen.
Wittenbergplatz. Sie stieg um in die U3, Richtung Krumme Lanke.