Er ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

14:14

Marina hatte ja gedacht, Lou würde noch ein bisschen schlafen, bevor die Kinderpsychologin kam, aber er war viel zu aufgedreht. Josi lag mit ihm in seinem Zimmer auf dem Boden. Sie spielten mit Figuren und Robotern. Der neue Roboter – die Polizei hatte ihn Lou nach den kriminaltechnischen Untersuchungen schon wieder zurückgegeben – konnte nur in eine Richtung laufen, und wenn er irgendwo gegenstieß, fiel er um und stand wieder auf. Irgendwas schien kaputt zu sein.

»Robbi ist dumm«, sagte Lou. »Er hat eine Schraube verschluckt. Es ist die Schraube, die er für sein Gehirn braucht.«

»Hat das der alte Mann gesagt?

Lou schaute sie empört an. »Nein!«

»Was hat er denn zu dir gesagt?«

»Ich kann mit Robbi spielen, so viel ich will. – Darf ich ihn auch behalten?«

»Hat er ihn dir nicht geschenkt?«

Lou zuckte die Schultern. »Ich glaube, der ist ein bisschen plemplem.« Er kicherte in sich hinein. Josi wusste, dass er den Ausdruck plemplem liebte.

»Wie meinst du das?«

»Der hatte Augen wie Kaa. Und das Einschlaflied hat er auch gesungen.« Lou fing an zu singen.

Schlafe sanft, süß und fein,

will dein Schutzengel sein!

Sink nur in tiefen Schlummer,

schwebe dahin im Traum.

Aber ich hab nur so getan, als würde ich schon schlafen. Ich hab gewartet, bis er eingeschlafen ist, und dann bin ich gegangen.« Lou grinste sie schelmisch an. »Zuerst wollte ich aus dem Fenster, aber das Fenster war verknotet.«

»Wie meinst du das?«

»Na verknotet!«, sagte Lou ungeduldig.

»Wie sah der alte Mann denn aus? Oder weißt du, wo er wohnt?«

Lou zuckte die Schultern. Josi merkte, dass er keine Lust mehr auf diese Ausfragerei hatte.

»Kanntest du ihn?«

Lou schüttelte den Kopf.

»Du hast ihn noch nie gesehen?«

Lou schüttelte noch mal mit dem Kopf. »Können wir Robbi nicht eine neue Schraube einsetzen?«

»Okay, aber ich weiß nicht, wie man das macht. Sollen wir mal Papa fragen?«

Thomas war aber nicht da. Er war in die Uni gefahren, gleich nachdem sie von der Kinderärztin wiedergekommen waren. Marina hatte ihn behandelt, als sei er Luft. Leider musste Josi mit Lou zu Hause bleiben, sie hätte mehr Lust gehabt, mit ihm zum Wannsee zu gehen oder in den Zoo. Hier fiel ihr langsam die Decke auf den Kopf, aber Marina wollte Lou nicht rauslassen. Sie hatte Angst, dass er sich unterwegs wieder einpullerte. Außerdem sollte ja nachher noch die Psychologin vorbeikommen. Nicht mal auf den Spielplatz durfte Josi mit ihm. Normalerweise hätte sie Marina widersprochen. Das hatte sie so verinnerlicht wie eine automatische Reaktion. Jetzt sagte sie nur: »Ist gut.«

Marina hatte sie dann gefragt, ob sie kurz einkaufen fahren und Lou mit ihr allein lassen könnte.

»Ja, klar.« Marina hatte sie noch nie gefragt. Wenn Josi da war, fuhr sie einfach. Hatte sie jetzt etwa Bedenken? Aber es lag nichts Vorwurfvolles in ihrem Ton. »Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte Josi.

»Danke, Josi!«

Das war heute nun schon das zweite Mal, dass Marina sich bei ihr bedankte.

Nun war sie ganz allein mit Lou und lag auf dem Teppich und starrte diesen Roboter an.

»Sag mal, Lou, der Roboter war doch in der Aldi-Tüte. Und da war noch was drin«, begann Josi, ohne große Hoffnung, etwas Neues zu erfahren.

Umso verwunderte war sie, als er ganz selbstverständlich sagte: »Und Mamas kaputter Schuh.«

»Die rote Riemchensandale?«

»Ja, der Absatz war abgebrochen. Ich wollte das reparieren.« Lou sprang auf. »Komm mal mit, ich zeig dir was.«

Josi ging hinter ihm her. Er nahm ihre Hand und zog sie aus dem Zimmer, weil es ihm plötzlich nicht schnell genug ging, rannte mit ihr nach draußen in den Garten, zum Baumhaus. Da ahnte sie schon, was er holen wollte.

»Du willst deinen Detektivkoffer haben, nicht wahr?«

»Ja!«

»Den habe ich schon mit reingenommen, weil es doch so geregnet hat.«

Lou stand vor ihr und starrte sie ungläubig an.

»Er ist in meinem Zimmer, unter dem Bett. – Wer Erster da ist …« Sie tat so, als liefe sie los, zögerte aber, damit Lou einen Vorsprung hatte. Sie rannten zurück ins Haus, stürmten die Treppe hoch. Oben rief Lou: »Erster!« und war völlig außer Atem.

Er zog den Koffer unter ihrem Bett hervor, öffnete ihn. »Guck mal«, sagte er. »Aber das ist ein Geheimnis. Das darfst du keinem sagen!«

»Nein, tu ich nicht.«

»Schwöre!«

Josi hielt ihm drei Finger vors Gesicht. Lou zog die Absätze aus dem Koffer, die Josi auch schon gefunden hatte.

»Wo hast du die her?«

»Aus dem Garten.«

»Wie, aus dem Garten?«

»Die steckten im Rasen, vorne, bei der Terrasse. Ich habe sie rausgezogen.«

»Und die aus der Aldi-Tüte, wo hast du die her?«

»Na aus dem Karton.« Lou guckte sie an, als würde er sich über so eine blöde Frage wundern.

»Was für ein Karton?«

»Da war so einer, mit noch mehr Stöckchen.«

»Wo denn?«

»In dem Zimmer.«

»In welchem Zimmer? Das mit den verknoteten Fenstern?«

»Nein, in dem anderen.« Er seufzte.

Josi sah, dass er schon wieder genug hatte von ihrer Fragerei. Er nahm ihr die Absätze aus der Hand und legte sie wieder in den Koffer, fragte: »Wo ist Mamas Schuh?«

»Wieso Mamas Schuh?«

Er verdrehte die Augen. »Josi, Mamas Schuh ist doch in der Tüte! Den habe ich mitgenommen, weil ich ihn heile machen kann. Mit Papas Sekundenkleber. Damit hat er mir auch die Griffe an dem Detektivkoffer angeklebt. Und damit will ich Mamas Absatz wieder ankleben. Guck, mal, hier ist ein roter … und hier ist ein weißer. Mama hat ihre roten Jimmys sehr lieb.«

»Jimmys?«

»Das ist ein Jimmy-Schuh-Schuh.«

Lou fing an zu kichern und wiederholte es noch einmal. Jetzt begriff Josi – er meinte die Marke Jimmy Choo. Und sprach Choo aus wie »Schuh«.

»Bist du denn sicher, dass das Mamas Schuh ist?«

»Nein, Jimmys Schuh.« Lou platzte jetzt los vor Lachen. Über solche Wortspiele konnte er sich rasend amüsieren. Er blödelte noch ein bisschen herum, Josi ließ ihn.

Dann sagte sie: »Komm. Das überprüfen wir jetzt mal.« Josi stand auf. Sie ging mit Lou in Thomas' und Marinas Ankleidezimmer. Sie musste einfach wissen, ob das wirklich Marinas Schuh war. Und wenn ja, wieso er bei dem alten Mann gelandet war. Irgendwo hatte Josi diese roten Schuhe auch schon mal gesehen.

»Hat der Mann die Absätze abgesägt?«

»Der alte Mann?«

»Ja.«

»Ja, mit so einer elektrischen Säge.«

»Warum sägt er denn Absätze ab?«

»Er zündet damit Kerzen an.«

»Wie bitte? Wie geht das denn?«

»Na Kerzen. Kennst du keine Kerzen, Josi? Die bringen das Licht.« Mehr war leider nicht aus ihm rauszuholen. Lou war jetzt mit den Schuhen beschäftigt, er ging die ganze Reihe durch, schaute sich die vielen Modelle an, die sorgfältig im Regal standen. Er entdeckte die roten Jimmy-Choo-Sandalen zuerst. Josis Nackenhärchen richteten sich auf. Sie bekam eine Gänsehaut. Jetzt wusste sie, wo sie die Schuhe schon mal gesehen hatte: Das waren genau solche Riemchensandalen mit Bleistiftabsatz, wie Lilli Sander sie am Samstag getragen hatte!

»Komisch«, sagte Lou und zog die Sandalen aus dem Regal. »Da sind ja Mamas Schuhe.« Josi sah, dass er enttäuscht war, auch verwirrt. Er nahm einen Schuh, fühlte am Absatz, ob er auch festsaß, nahm den anderen und prüfte den. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Gut«, sagte er. »Dann muss ich den gar nicht mehr reparieren. Dann kann ich die Absätze zu den anderen tun und sammeln.« Er stellte die Sandalen zurück ins Regal.

Josi war noch ganz benommen. Lilli Sander hatte also die gleichen Schuhe getragen wie Marina? Aber hatte Herr Werner nicht gesagt, dass die Tote barfuß war? Josi war sich sicher, dass Lilli nicht barfuß war, als sie an der Tür stand. Jemand musste ihr die Schuhe also weggenommen und die Absätze abgesägt haben. – Der alte Mann! Wer war er? Der Mörder von Lilli Sander?

14:51

Marina war gerade wiedergekommen. Sie stand in der Tür und schmunzelte. »Na, mein kleiner Schuhfetischist«, sagte sie. Sie schnappte sich Lou und wollte ihn hochheben, aber er stemmte sich dagegen. Marina sah Josi an.

»Was ist los, du bist ja ganz blass. Ist dir nicht gut?«

»Ich weiß auch nicht.« Sie wollte gerade mit Marina reden, ihr erzählen, was sie entdeckt hatte, dass Lilli Sander die gleichen Schuhe wie sie getragen hatte, aber sie wollte vor Lou nicht über die Studentin reden. Bestimmt würde Lou sofort wissen wollen, wer das war, der die gleichen Schuhe trug wie seine Mama. Besser, sie warteten erst mal die Psychologin ab. Vielleicht brachte die ja mehr Licht in die ganze Angelegenheit.

Lou zeigte auf die Sandalen. »Mama, deine Jimmys sind ja gar nicht kaputt.«

»Nein, warum?«

»Du bist doch in so ein komisches Gitter getreten und da ist der Absatz abgebrochen.«

»Das waren die roten Hilfiger«, sagte Marina. »Die sind noch beim Schuster. – Soll ich die Jimmys heute anziehen, Bärchen?«

»Nein!«, rief Josi.

Marina und Lou guckten Josi erstaunt an.

»Ich glaube, wir gehen jetzt runter«, sagte Marina. »Gleich kommt der Besuch.«