Ich sage dir: Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein.
14:56
Josi stand an ihrem Lieblingsplatz, am Kamin. Von hier aus hatte man alles im Blick. Sie hätte sich jetzt nicht zu Marina und Thomas aufs Sofa setzen können. Die Spannung zwischen ihnen konnte man bestimmt messen. Die beiden saßen auch nur in einem Raum, weil die Polizeipsychologin, die jeden Moment kommen konnte, durch Herrn Werner hatte mitteilen lassen, dass Lou im Kreise seiner Familie, also in einem vertrauten Umfeld, sein sollte.
Marina hatte sich Lou auf den Schoß gezogen. Thomas saß ihnen gegenüber, auf dem anderen Sofa. Marina schlang die Arme um Lou.
»Du erdrückst ihn ja fast«, sagte Thomas.
»Quatsch«, fauchte Marina und flüsterte Lou ins Ohr. »Mama hält dich nicht zu fest, nicht wahr, Bärchen?«
»Doch«, sagte Lou. Immer wenn sich seine Eltern stritten, war er auf Thomas' Seite.
Marina lockerte ihren Griff. Lou rutschte von ihrem Schoß und lief zu Josi.
»Ich will in den Garten. Kommst du mit?«
»Nein«, sagte Marina, »jetzt warte mal, bis der Besuch da ist. Setz dich bitte wieder hin.«
Thomas stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging zur Terrassentür. »Du übertreibst, Marina, der Junge muss doch nicht still auf dem Sofa sitzen.«
»Sei du bloß ruhig«, zischte sie.
Dann hämmerte es gegen die Haustür. – Herr Werner – unüberhörbar! Seitdem Thomas die Klingel abgestellt hatte, wusste er sich mit seinen Krücken zu helfen.
»Da sind sie!« Marina öffnete.
15:02
Neben Herrn Werner stand eine ältere Frau in einer weiten, orangefarbenen Leinenhose, Leder-Flip-Flops, einer weißen Bluse und mit einer großen, bunten Kette um den Hals. Sie kamen ins Wohnzimmer. Herr Werner, wie immer in seiner Strickjacke, stellte sie vor: »Frau Bruchhusen – Herr und Frau Herzberg und die Tochter des Hauses, Josefine.«
Josi gab Frau Bruchhusen die Hand. Sie lächelte. Tochter des Hauses, wie hörte sich das denn an?
Herr Werner wandte sich Lou zu: »Wir kennen uns ja schon, Sportsfreund.« – Fehlte nur noch, dass er Lou den Kopf tätschelte, aber er hatte ja keine Hand frei, wegen der Krücken. Er beugte sich zu Lou herab. Josi sah, wie sehr er wieder schwitzte.
»Guck mal, ich habe noch eine gute Freundin mitgebracht. Die Angela«, sagte er in verstelltem, hohem Ton und zeigte mit einer Krücke auf Frau Bruchhusen. Lou blieb hinter Josis Bein und schaute ihn misstrauisch an.
»Sie können ganz normal mit ihm reden«, sagte Josi.
Herr Werner kniff die Lippen zusammen.
»Sollen wir nicht doch lieber rausgehen?«, fragte Thomas.
»Ich lass meinen Sohn doch jetzt nicht allein«, fuhr Marina ihn an.
Thomas schaute sie böse an. Marina schaute böse zurück. Die Kinderpsychologin sagte: »Ach, ist das heute wieder herrliches Wetter, nicht wahr?« Niemand rührte sich.
»Ich will raus«, sagte Lou.
»So? Wo willst du denn hin?«, fragte Frau Bruchhusen.
»In den Garten.«
»Na, dann lass uns doch in den Garten gehen.« Die Frau nickte Marina aufmunternd zu.
»Josi soll mitkommen!«
»Klar kann Josi mitkommen.«
Josi entging nicht, wie die Psychologin Marina und Thomas die ganze Zeit musterte. Wahrscheinlich hatte Herr Werner ihr längst erzählt, dass der Herr Professor seine Frau betrog.
Herr Werner ächzte mit den Krücken bis zum Sofa und ließ sich ins Polster plumpsen. »Ich muss noch kurz ein paar Telefonate erledigen und dann habe ich noch was Wichtiges mit Ihnen zu besprechen, Herr Herzberg.« Es klang wie eine Drohung.
»Ich wüsste nicht, was das sein sollte«, erwiderte Thomas. Der trotzige Unterton entging Josi nicht. Herr Werner erwiderte nichts, lehnte sich genüsslich zurück, als wollte er Thomas ein bisschen zappeln lassen. Echt bescheuert, diese Machtspielchen.
Josi und Lou gingen mit Frau Bruchhusen auf die Terrasse. Lou sprang die Stufen zum Rasen herunter und kugelte sich durchs Gras. Thomas rückte die Stühle zurecht.
»Das sieht witzig aus«, rief Frau Bruchhusen Lou zu.
»Guck mal, ich kann auch schon ein Rad.« Sein Rad sah allerdings eher aus wie ein seitlicher Froschhüpfer.
»Toll!«, rief sie noch einmal. Wollte sie sich etwa bei Lou einschleimen, um sein Vertrauen zu gewinnen? Das kam Josi etwas billig vor für eine Polizeipsychologin.
Marina brachte ein Tablett mit einer Karaffe Limettensaft und Gläsern nach draußen. Josi sah Herrn Werner durch die Scheibe, wie er seinen verschlissenen Tabaksbeutel aus der Strickjacke zog und anfing, sich eine Zigarette zu drehen. Armes Schwein, dachte Josi. Warum kaufte er sich eigentlich kein Nikotinpflaster?
Hoffentlich ließ er sie bald in Ruhe.
Thomas stellte sich in die Terrassentür und zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte genüsslich und blies den Rauch in Herrn Werners Richtung. Die beiden benahmen sich echt wie die Kinder. Nein, schlimmer!
Marina schenkte Saft ein, fragte, wer Eiswürfel haben wollte.
»Ich, ganz viele«, rief Lou und kam zum Tisch. Die Psychologin lächelte ihn an wie eine ältere Frau, die selber keine Kinder hat.
»Sind das Edelsteine?«, fragte Lou und zeigte auf ihre bunte Kette.
»Ja«, sagte sie.
»Du hast eine schöne Sammlung«, sagte Lou.
Frau Bruchhusen nahm die Kette ab und legte sie vor ihm auf den Tisch. »Willst du sie dir genauer anschauen?«
Er kam einen Schritt näher und griff nach der Kette.
»Pass auf, dass du sie nicht kaputt machst«, sagte Marina.
Josi trank einen Schluck Limettensaft und beobachtete Lou. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Das gefiel ihm sonst immer, aber jetzt war er nur von der Kette fasziniert. Er schaute sich jeden Stein genau an.
»Hast du die Steine gefunden?«
»Nein, ich habe sie gekauft oder geschenkt bekommen. Ich sammle schon ganz lange Edelsteine«, sagte Frau Bruchhusen. Lou erkannte einen Bernstein und ein Tigerauge.
»Na, du scheinst dich ja mit Edelsteinen gut auszukennen.«
»Nicht nur mit Edelsteinen«, sagte Marina. »Auch mit Autos, Robotern und Schuhen.«
»Wirklich!«
»Ja. Aber ich bin kein Feschitist.«
Die Psychologin lachte. »Was ist das denn?«
»So einer, der lauter Schuhe sammelt.«
Die abgesägten Absätze – ging es Josi durch den Kopf. Sie hatte immer noch keinem davon erzählt. Wenn sie jetzt davon anfing, würde Lou es als Verrat empfinden. Alles, was mit Herrn Rufus' Fällen zu tun hatte, war streng geheim. Sie nahm sich vor, Thomas und Marina die Absätze zu zeigen. Vielleicht kam die Psychologin noch darauf zu sprechen, sie musste doch von denen aus der Aldi-Tüte wissen.
»Was sammelst du denn?«, fragte sie Lou.
Lou antwortete nicht. Frau Bruchhusen zeigte auf einen großen durchsichtigen Stein in der Kette. »Das ist mein Lieblingsstein, ein Bergkristall. Guck mal, wenn man durchschaut, sieht alles aus, als wäre man unter Wasser.«
Lou kniff ein Auge zusammen und guckte mit dem anderen durch den Bergkristall.
»Und welchen Stein hast du am liebsten?«
Lou schaute eine Weile angestrengt auf die Kette. »Den da und den da und den da«, sagte er. »Aber am allerliebsten den Tigerauge.«
»Ja, der sieht wirklich schön aus. Was ist denn deine Lieblingsfarbe?«
»Tigerauge«, sagte Lou. Frau Bruchhusen lachte.
»Tigerauge ist doch keine Farbe«, sagte Marina. Die Psychologin ging nicht darauf ein. Lou auch nicht.
»Ich habe gehört, du magst gern Roboter. Hast du auch einen Tigeraugen-Roboter?«
»Nein«, sagte Lou und grinste. »Meine Roboter sind rot, blau, silber oder weiß. Einer ist sogar gelb. Der ist ganz alt, aus Blech. Der läuft ohne Batterie, mit einem Schlüssel im Rücken. Mit dem Schlüssel muss man ihn aufdrehen.«
»Aufziehen«, verbesserte ihn Marina.
»Ich mag, wie er surrt.« Lou machte das Geräusch nach. »Aber er geht nur in eine Richtung. Das ist nicht so toll. R2-D2 ändert von selbst die Richtung, wenn er gegen die Wand läuft oder wenn ich ihm ein Auto vor die Füße lege, macht er einfach einen Weg drumrum.«
»Wer ist denn R2-D2?«, fragte Frau Bruchhusen.
»Das ist doch der Roboter aus Star Wars! Der kleine, der nicht redet und nur lustige Geräusche macht.« Lou machte R2-D2 nach. »Kennst du den nicht?«
»Nein.«
»Soll ich mal holen?« Lou wartete die Antwort gar nicht ab und rannte schon los. Er düste durchs Wohnzimmer, an dem telefonierenden Herrn Werner vorbei und kam mit einem Arm voller Roboter wieder. Er führte sie alle vor. Auf der Terrasse surrte und schnurrte es von Robotern; manche konnten sogar sprechen.
Frau Bruchhusen durfte den gelben Blechroboter mit dem Schlüssel aufziehen.
»Der ist ja echt süß!«, sagte sie. »Woher hast du den?«
»Och, hab ich mal vom Nikolaus gekriegt.«
»Und den neuen Roboter, hast du den auch vom Nikolaus?«
»Nikolaus?« Lou grinste. Josi sah, wie er überlegte. Dann prustete er los. »Doch nicht vom Nikolaus!« Er schüttelte den Kopf. »Mitten im Sommer!« Er amüsierte sich wirklich sehr über diese Frage.
Josi dachte, jetzt stellt die Psychologin die entscheidende Frage, woher er ihn denn hätte, aber Frau Bruchhusen kam gar nicht zu Wort, weil Lou ihr erklärte, dass etwas mit dem neuen Roboter nicht stimmte.
»Dem fehlt eine Schraube und deshalb läuft er immer gegen die Wand.« Er stellte den Roboter an und ließ ihn gegen die Glaswand zum Wohnzimmer laufen. Dann schnappte er ihn wieder und ließ ihn noch mal gegen das Glas laufen.
»Papa, kannst du den reparieren?«
»Was?«, fragte Thomas abwesend. Er stand an der Terrassentür und zündete sich eine neue Zigarette an. Rauch schlängelte sich wieder in Richtung Hauptkommissar. Herr Werner schaute von seinem Smartphone hoch.
»Kannst du den Roboter re-pa-rie-ren?!«
Thomas seufzte. »Ja. Ich schau ihn mir nachher mal an.«
»Warum nicht jetzt?«
»Weil wir jetzt Besuch haben.«
Lou schaute den Besuch an und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ach, ich hab dir ja noch gar nicht Herrn Rufus gezeigt. Mann, bin ich blöd! Mannomann!«
Josi schmunzelte, Marina verzog das Gesicht. Sie konnte es gar nicht leiden, wenn Lou so aufgedreht war und sich so albern benahm.
»Mannomann, echt, bin ich blöd! So blöd!«, wiederholte er und kicherte. Dann hüpfte er ins Wohnzimmer und holte Herrn Rufus unter dem Sofa hervor.
»Da drin sitzt auch ein Roboter«, sagte er und lachte sich kaputt. Er zeigte auf Herrn Werner. Mit seinen blauen Krücken links und rechts von ihm hätte er tatsächlich als besondere Roboter-Spezies durchgehen können.
»Ein Sofa-Roboter.« Lou sprühte Spucke vor Lachen und hatte schon einen ganz roten Kopf.
»Es reicht, Lou!«, ermahnte ihn Marina.
Lou zeigte der Psychologin Herrn Rufus. »Herr Rufus ist ein Detektiv. Er hilft mir, die Bösen zu finden.«
Frau Bruchhusen durfte Herrn Rufus in die Hand nehmen.
»Und was sind das für Böse?«
»Böse Böse«, sagte Lou und verschluckte sich diesmal vor lauter Lachen.
»Lou. Komm mal wieder runter!«, sagte Marina.
»Und was machen die Bösen?«, fragte die Psychologin.
»Die reißen Köpfe ab und werfen sie in den Müll. In die Biotonne.« Lou lachte sich kaputt.
»Lou!« Marina verdrehte die Augen. »Ich weiß auch nicht, woher er diesen Quatsch immer hat. Wir achten sehr darauf, dass er keine schädlichen Videospiele spielt.«
Josi merkte, dass es der Psychologin gar nicht gefiel, dass sich Marina andauernd einmischte, aber sie ignorierte sie einfach und wandte sich wieder an Lou: »Sag mal, ist Herr Rufus denn vom Nikolaus?«
»Nein«, sagte Lou. »Der ist aus einem Überraschungsei.«
»Ist der neue Roboter auch aus einem Überraschungsei?«
»Nein, der passt doch nicht in ein Ei! Der alte Mann hat ihn mir gegeben. Er wollte ihn nicht mehr.« Na, das hatte Josi ja schneller rausgekriegt.
»Welcher alte Mann, Lou?«, fragte Marina dazwischen. Lou schaute sie an, als wäre er aus einem Traum aufgewacht. Er lachte auch nicht mehr, sah zu Josi und gähnte. Dann kletterte er zu ihr auf den Stuhl und setzte sich auf ihren Schoß. Josi nahm ihn in die Arme. Die Psychologin versuchte, noch weitere Einzelheiten aus ihm herauszubekommen, aber Lou wirkte abwesend und sagte nur noch: »Weiß ich nicht.«
»Josi, spielst du mit mir?« Lou legte seinen Kopf an ihre Schulter. Er war blass und wirkte völlig ausgepowert. Das kam wohl noch von diesen Tabletten, die er bekommen hatte.
»Was wollen wir denn spielen?«
»Irgendwas in deinem Zimmer«, flüsterte Lou ihr ins Ohr. Dann gähnte er wieder.
15:55
Es dauerte keine Viertelstunde und Lou war auf ihrem Bett eingeschlafen. Josi legte ihm Herrn Rufus neben das Kissen und ging wieder nach unten. Frau Bruchhusen verabschiedete sich gerade. Als sie Josi sah, fragte sie sie, ob sie wisse, wer »der alte Mann« sein könnte. Josi sagte ihr, dass sie keine Ahnung habe und auch nicht mehr wisse. Frau Bruchhusen fragte Herrn Werner, was denn mit dem älteren Herrn aus der Straße wäre.
»Herr Dittfurth? Sein Alibi überprüfen wir noch. Er will in der Philharmonie gewesen sein. Wir haben aber weder eine Online-Buchung noch eine Eintrittskarte bei ihm finden können, geschweige jemanden, der ihn gesehen hat. Er will ein befreundetes Ehepaar getroffen haben, aber besagte Leute sind gerade in Hamburg und wir haben sie noch nicht erreichen können.«
»Was für ein Motiv hätte dieser Mann denn?«, fragte Frau Bruchhausen.
Herr Werner räusperte sich. »Das, werte Kollegin, besprechen wir wohl lieber auf der Dienststelle, unter vier Augen.«
»Ich glaube, unser Hauptkommissar leidet unter Homophobie«, mischte sich Thomas ein und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Josi entging das leichte Schmunzeln von Frau Bruchhusen nicht, auch nicht, dass Herr Werner guckte, als würde er Thomas am liebsten eins mit der Krücke überziehen.
Marina brachte Frau Bruchhusen zur Tür und wollte noch wissen, wie sie Lou jetzt behandeln sollte, wonach sie ihn fragen und ob sie ihn beobachten und die Beobachtungen aufschreiben sollte.
»Verhalten Sie sich einfach ganz normal«, sagte Frau Bruchhusen. »Je normaler sein Umfeld, umso schneller wird er etwas erzählen. Er braucht noch ein Weilchen. Er ist auch sehr erschöpft. Bestimmt noch Nachwirkungen des Sedativums. Lassen Sie ihn einfach schlafen und in Ruhe. Und bleiben Sie in seiner Nähe. Ich schätze ihn als cleveres kleines Bürschchen ein, dem zum Glück kein Leid widerfahren ist. Das meinte seine Kinderärztin übrigens auch. Aber ich komme morgen noch mal wieder.«
»Ganz normal bleiben«, brummte Marina, als sie zurück ins Wohnzimmer stöckelte. »Die hat gut reden. Hier ist ja nichts mehr normal!« Sie sah Thomas an, dann Herrn Werner. Wenn Blicke töten könnten … dachte Josi, dann gäbe es hier gleich noch eine männliche Leiche. Oder zwei.