Mach auf! Ich kann nichts sehen. Es ist so dunkel. Lass mich raus. – Mama? Maaamaaaa!

1:21

»Lou?«

Josi schaltete den DVD-Player aus und guckte unter den Tisch.

»Loulou, wo bist du?«

Sie kniete sich hin und schaute auch unter das Sofa. Seine Transformerautos parkten in einer geraden Linie, weiter hinten lag die Fernsehzeitschrift. Kein Lou.

»Okay, Lou, du hast gewonnen! Ich kann dich nicht finden. Komm raus!« Sie hielt die Luft an, um besser zu lauschen, aber sie hörte nur den Regen. Es pladderte gegen die große Fensterfront.

Max kam die Treppe runter und gähnte. »Na, will der Kleine immer noch nicht ins Bett?«

»Ich kann ihn nicht finden.«

Max half mit suchen. Im Flur und in der Küche war er nicht, auch nicht im Bad. Sie gingen nach oben, in Lous Zimmer.

»Das ist aber aufgeräumt«, sagte Max.

»Ja, Lou ist ein ganz ordentlicher Junge«, sagte Josi und rief dann laut: »Nicht, wahr, Lou?!«

Sie schaute auf sein Regal. Dort standen in einem Fach seine Autos, im nächsten Tiere, daneben die Roboter und die Raumschiffe. In einem anderen Fach hatte er sorgfältig Holzstücke sortiert, Steine, Nägel und Schneckenhäuser. Es gab auch noch gestapelte Streichholzschachteln und die gelben Plastikdinger von den Überraschungseiern. Die Figuren waren hinter einem Lego-Zaun aufbewahrt. Er hatte auch eine ganze Reihe Bilderbücher und Bücher, die er unbedingt lesen wollte, wenn er erwachsen war.

»In meinem Kinderzimmer sah es chaotischer aus«, sagte Max. »Aber so ein Poster vom Sternenhimmel hatte ich auch.« Er rückte an Josi heran und tupfte ihr einen Kuss in den Nacken. Josi ging auf die Knie, guckte unter Lous Bett. Auch hier kein Lou, nur ein Stapel GEOlinos. Dann sah sie, dass die Tür vom Kleiderschrank nur angelehnt war. Aha, da war der Ausreißer also!

»Ich weiß, wo du bist! Achtung, ich komme!«

Sie stand auf, riss die Schranktür auf, schob hastig die Bügel an die Seite. Sie quietschten. Ein roter Ball mit bunten Punkten kam ihr entgegen, rollte durchs Zimmer. Sonst nichts!

Josi ging zur Tür und rief durchs Haus: »Okay, Lou. Es ist jetzt nicht mehr lustig! Komm sofort raus aus deinem Versteck!« Sie schoss den Ball auf die Galerie und ging ins Badezimmer von Thomas und Marina. Auch nichts. Ihr Schlafzimmer war sehr übersichtlich. Dort standen nur ein Futon in der Mitte des riesigen Raums und ein paar weiße Orchideen in einer mannshohen Vase.

»Vielleicht ist er ja irgendwo eingeschlafen«, sagte Max. Seine Stimme klang besänftigend. Josi biss sich auf die Lippen. Einen Moment war es, als stünde sie nicht hier, sondern in der Wohnung in Charlottenburg, in der sie aufgewachsen war, als ihre Eltern noch zusammen und sie eine Familie waren, mit Robert, ihrem Ziehbruder, und als Robert plötzlich verschwunden war. Was hatten sie damals für einen Schreck bekommen, schließlich gehörte Robert ja noch nicht lange zur Familie und sie wussten zu der Zeit nicht, dass er öfter mal verschwand, sich an den unmöglichsten Orten verkroch und dort stundenlang und mucksmäuschenstill ausharrte.

»Lou!«, brüllte Josi so laut, dass Max zusammenzuckte. – Aber nichts rührte sich.

Sie durchkämmten gemeinsam das Ankleidezimmer von Thomas und Marina. Zwei metallene Kleiderstangen standen an einer Wand, voll mit Blusen, Kleidern und Anzügen. Der Rest der Klamotten war auf Metallregalen sortiert, wie in einer Nobelboutique. Einmal um das ganze Zimmer herum lief ein Schuhregal, was Thomas genau mit sieben Paar Schuhen bestückte und von dem Marina den Rest ausfüllte. Die mit ihrem Schuhtick! Josi kannte niemanden, der so viele Schuhe hatte – ob Peep-Toe-Pumps oder Ankle Boots. Lou kannte sämtliche beim Namen, wie Automarken: Dolly Do, Miss L Fire, Moma Slipper, Love Moschino, Studio Pollini, Pura Lopez oder Jimmy Choo. Lou liebte es, mit diesen Markennamen zu jonglieren, wobei er viele gar nicht richtig aussprechen konnte. Zu Marinas Armanis sagte er »Ammannis« und die Miss L Fire nannte er »Mrs. Doubtfire«, weil er den Film kannte.

Neunzig Prozent von Marinas Schuhpark bestand aus High Heels, irre hohe Stocherdinger, manche mit 15-Zentimeter-Absätzen. Thomas hatte ja schon immer Frauen mit hohen Schuhen geliebt. Hatte sich ihr Vater vielleicht von ihrer Mutter getrennt, weil sie High Heels höchstens zu besonderen Anlässen trug?

»Die Garage!«, sagte Josi zu Max, der ratlos neben ihr stand und auf all die Schuhe starrte. Sie huschte an ihm vorbei, nach unten. Thomas und Marina waren zu Fuß zu Professor Schaunmanns Geburtstag gegangen, einem Arbeitskollegen ihres Vaters. Die Autos standen also in der Garage. Josi wusste, dass Lou gern in den Autos spielte. Bestimmt würde er mit Herrn Rufus in einem der Autos sitzen und die Kinder vor dem Fiesling mit dem Holzbein retten. Ob Thomas' silbergrauer BMW oder Marinas roter Audi R8 Spyder, Lou durfte in beiden spielen, natürlich nie mit Zündschlüssel.

Warum war sie nicht früher auf die Idee gekommen!

Aber die Tür zur Garage war abgeschlossen und der Schlüssel hing oben im Schlüsselkasten. Mist!

Wo war Lou, verdammt noch mal?

1:34

Josi ging auf Zehenspitzen durch den Flur, in die Küche, tapste mit nackten Füßen über die kalten Fliesen.

»Okay, Lou, wenn du jetzt sofort kommst, koch ich dir Milchreis, aber nur, wenn du da bist, bevor ich bis drei gezählt habe, sonst …«

»Für Milchreis könntest du mich aus keiner Ecke hervorlocken«, sagte Max.

»Aber Lou.« Josi hielt sich die Augen zu. Sie zählte laut bis drei, lauschte. Nichts. Dann sah sie, dass sich der Vorhang im Wohnzimmer bewegte. Sie ging auf die Stelle zu und riss ihn mit einem Ruck zur Seite. Die Terrassentür stand einen Spalt offen. Josi rannte nach draußen. »Louuuuuuuuuuuuuuuu!«

Auf der Terrasse hatten sich Pfützen gebildet, der Regen schlug ihr voll ins Gesicht. Es goss in Strömen. Im Nu klebten ihr Top und Jeans am Körper. Sie fing an zu zittern, dabei war es gar nicht kalt. Max stand hinter ihr, unter dem Vordach, im Trockenen.

»Komm wieder rein, Josi. Bei dem Wetter wird er kaum draußen sein.« Er ging zu ihr und legte einen Arm um ihre Schulter.

»Aber die Tür war offen«, sagte Josi.

1:38

Das Wohnzimmer kam ihr groß und leer vor. Kalt. Max holte ihr ein Handtuch aus der Küche. Sie drückte den Knopf, um die Vorhänge ganz aufzuziehen. Vielleicht konnte Lou sie ja sehen. Was für ein absurder Gedanke. Wenn er sie sehen könnte, würde er doch kommen! Ihre Zähne schlugen aufeinander.

»Vielleicht ist er in seinem Baumhaus.«

Sie rannte wieder raus, barfuß über den schmalen, gepflasterten Weg, am Schuppen vorbei, dann über den Rasen. Der hatte sich wie ein Schwamm mit Wasser vollgesogen, jeder Schritt schmatzte. Sie sah Max' Silhouette in der Tür, das hell erleuchtete Wohnzimmer. Max hielt noch das Handtuch in der Hand, rief ihr was zu, aber der Regen prasselte so laut auf ihren Kopf. Sie hörte ihn nicht, verstand von seinen Gesten her, dass er die Vorderseite vom Haus checken wollte.

Hinten im Garten, bei den Bäumen, wurde es immer dunkler. Die Straßenbeleuchtung reichte nicht bis hierher. Der Garten grenzte direkt an den Grunewald, aber das Grundstück war umzäunt. Lou würde niemals in den Wald laufen, er hatte Angst im Dunkeln.

»Lou!«, rief sie eine Linde hinauf, in der sein Baumhaus war. Es hatte zwar nur ein Brett in einer Verzweigung, das man über eine Strickleiter erreichte, aber für Lou war es sein Detektivstützpunkt oder eine Forscherplattform oder das Deck eines geenterten Piratenschiffes. Aber jetzt saß er nicht dort oben, auch nirgendwo sonst in den Ästen. Der untere Teil der Strickleiter bewegte sich im Wind.

Josi fühlte sich schwer, als hätte sie sich selbst mit Wasser vollgesogen, sie fing an zu weinen, ging am Komposthaufen vorbei und jetzt sah sie es: Die Holzpforte stand offen. Lou konnte sie nicht allein öffnen. Thomas hatte extra einen Eisenriegel konstruiert, den Lou nicht zur Seite schieben konnte. Sie selbst brauchte dazu schon ihre ganze Kraft. Und niemand würde das Tor offen lassen.

Gleich dahinter war ein Trampelpfad, der durch Gestrüpp zur Straße führte. Sie ging durch die Pforte. Der Regen hatte jetzt etwas nachgelassen, sie hörte Knacken und Rascheln aus dem Wald und hielt die Luft an. Wahrscheinlich ein Wildschwein. Hier wimmelte es von Wildschweinen. Sie hatten schon alle Nachbargärten durchwühlt, aber ihr Zaun hatte bislang noch jedes Tier abgehalten. Josis Herz raste. Sie wollte auf keinen Fall einem Wildschwein begegnen! Sie lief den Trampelpfad entlang. Die Brennnesseln waren schon wieder gewachsen, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, sie waren fast hüfthoch. Kleine Steinchen drückten sich in ihre nackten Füße, aber es tat nicht weh. Als sie den Bürgersteig erreichte, sah sie Thomas und Marina unter einem Regenschirm nach Hause kommen. Von Weitem sahen sie immer aus wie zwei Filmstars aus vergangenen Zeiten – er meistens im Anzug, sie immer im Kleid –, aber je näher man kam, desto deutlicher wurde, dass es sich um einen Mann mit einer halb so alten Frau handelte.

Sie rannte ihnen über den Bürgersteig entgegen.

Ihr Vater blieb stehen. »Josi?!«

»Papa! Lou ist weg!« Sie bekam keine Luft mehr. Marina trug ein megakurzes eisblaues Kleid und ihre grauen, superhohen Peep-Toe-Pumps. Mit ihren langen, dünnen Beinen sah sie aus wie ein Storch.

»Was soll das heißen?«, fragte er.

»Ich weiß auch nicht, aber Lou ist weg.«

Thomas guckte an ihr herunter. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, dass sie klatschnass und außerdem barfuß war. »Und wie siehst du überhaupt aus?« Er selbst sah blass aus, genervt. Wahrscheinlich war der Abend nicht so toll gewesen, sonst wären sie ja nicht schon wieder hier. Er schüttelte Marina ab, sie watete zur Hauswand und stützte sich dort ab. Sie war eindeutig betrunken. Nichts Neues. Trotzdem sah sie gut aus. Sie sah immer gut aus, das war ja das Schlimme. Wahrscheinlich war er genervt, weil Marina so betrunken war.

»W's iss'n p'ssiert?«, lallte sie.

Ein Auto fuhr vorbei. Thomas guckte sich um, grüßte. »Lasst uns doch erst mal ins Haus gehen«, brummte er. Josi wusste, dass es ihm peinlich war, wenn Marina so blau war.

1:51

An der Haustür trafen sie Max. Er war von der anderen Seite gekommen. Marina bekam große Augen. »Oh, wer iss'n dieser charmante junge Mann?«, posaunte sie.

»Max«, sagte Josi. »Mein Freund.« Er hatte immer noch das Handtuch in der Hand.

»Ich w'sste ga'nich, d'ss du ein'n neu'n Freund hast.«

Josi wischte sich den Regen aus dem Gesicht und sah ihren Vater an. »Was sollen wir denn jetzt machen?«

»Wo iss'n Lou?«, fragte Marina. Ihre Wimperntusche war verschmiert, aber es passte gut zu ihren Smokey Eyes. Josi entging nicht, wie Max' Blick an Marinas Dekolleté hängen blieb. Marina trug Körbchengröße D und füllte die mehr als aus. Wahrscheinlich waren ihre Brüste nicht mal echt. Max wandte zum Glück seinen Blick von ihr ab.

Josi ließ die Arme fallen. »Ich weiß doch auch nicht. Er ist weg!«

»Wie, weg?«, fragte Marina. Thomas schob sie ins Haus. Im Flur blieb sie stehen, stand breitbeinig auf ihren Stöckelschuhen und versuchte, nicht zu schwanken. Josi sah, wie sie sich anstrengte, klar zu denken.

»Mein Sssohn, Lou, weg?« Sie schaute Thomas an wie ein kleines Kind. »Wieso d'ss denn?«

Thomas nahm Max das Handtuch aus der Hand und gab es Josi. Sie nahm es, hielt sich daran fest.

Marina spitzte den Mund und flötete: »Lou, Sch'tzchen, komm ma her. Du kleiner Schl'ngel, du!« Dann, als hätte sie erst jetzt begriffen, was los war, schaute sie Josi böse an.

Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Thomas sie an: »Mach du jetzt bitte keinen Stress!«

Ihr Vater musste ja arg genervt sein, wenn er so mit ihr redete. Normalerweise lag er ihr zu Füßen.

»Ich mach doch kein' Stress!« Marina drehte sich so schnell herum, dass sie umknickte und fast hinfiel. Thomas packte sie am Arm. »Aua!«, rief sie. »Du tust mir weh!«

2:00

Sie gingen in die Küche und Josi musste alles der Reihe nach erzählen. Thomas holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, trank einen großen Schluck, reichte die Flasche an Marina weiter. Die verzog nur den Mund und stützte ihren Kopf auf die Hände. Man konnte sehen, wie schwer er ihr war.

Josi war gerade an der Stelle angekommen, als sie mit Max in ihr Zimmer gegangen war. Sie sah, wie sich Thomas auf die Lippen biss. Er hatte noch nie einen Freund von ihr näher kennengelernt. Bislang waren alle nur nach Kreuzberg gekommen. Er hatte bestimmt keine Ahnung davon, dass sie schon längst keine Jungfrau mehr war. Wahrscheinlich war das aber sowieso kein Thema zwischen Vater und Tochter. Aber warum kaute er jetzt so verbissen auf seiner Unterlippe herum? Er sagte nichts, sah sie mit kalten Augen an, bis Marina sagte: »Was soll'n der Scheiß hier eigen'lich? Der Kleine iss in mein'm Bett un' schläft.«

Es war einen Moment still, einen Moment dachte Josi, das wäre die Lösung und alles wäre wieder gut. Sie stand auf und wollte nachsehen, aber Thomas war schneller. Er stürmte die Treppe hoch, lief ins Schlafzimmer, dann rief er runter: »Nein, da ist er nicht!«

Josi war, als wäre keine Luft zum Atmen mehr da. Max streichelte ihr über den Arm. »Was ich dir noch sagen wollte … als ich zur Toilette war …«, hörte sie seine Stimme, »… da habe ich Lou schon nicht mehr gesehen.«

»Was soll das heißen?«, fuhr Josi ihn an. »Ich hab dich doch gefragt, ob unten alles okay ist.«

»War es ja auch. Das Dschungelbuch lief … nur war Lou nicht auf dem Sofa. Ich dachte, er ist vielleicht gerade in der Küche und holt sich noch einen Muffin. Ehrlich, ich habe mir nichts dabei gedacht. Es tut mir so leid!«

Josi starrte ihn an und konnte nicht mehr denken. Jemand hatte eine Tür in ihrem Gehirn zugemacht.

»Warum hast du das denn nicht gesagt?«

»Wann war das?«, fragte Thomas.

Max zuckte die Schultern.

»Zwanzig nach elf«, sagte Josi wie aus der Pistole geschossen.

Thomas guckte auf die Uhr. »Jetzt ist es kurz nach zwei.«

»Ruf die Bull'n!«, fuhr Marina ihn an. »Na los, mach schon!«