Dein Wille geschehe!
3:32
Robert setzte seine Wüstenkappe wieder auf. Er sagte etwas, daraufhin gingen die Rollläden hoch, auch nebenan, in seinem Schlafzimmer. Draußen dämmerte es schon. Eine Amsel sang. Es würde wieder ein schöner Sommertag werden.
»Was hast du mit Lou gemacht?«, brach es aus ihr heraus. Sie konnte nichts mehr zurückhalten. »Du hast ihn am Samstag mitgenommen. Du warst am Haus, im Garten! Du warst es! Gib es zu!«, schrie sie. »Du hast es ja selbst gesagt, dass du mich und Max beobachtet hast. Das kann nur am Samstag gewesen sein!« Sie verstummte. Übelkeit stieg wieder in ihr hoch.
Robert kam um die Theke auf sie zu. Sie schrie ihn an, sie trat nach ihm, sie boxte ihm ins Gesicht. Seine Lippe blutete. Und dann ging alles ganz langsam, wie in Zeitlupe. Er verlor sich in einem Singsang-Ton, redete etwas von Strafe und dass er sie jetzt in den Schrank sperren würde, und packte sie mit beiden Händen fest an den Armen.
Sie wusste, dass sie mit Gewalt nicht gegen ihn ankam.
»Robi, ich habe Hunger. Du hast doch gesagt, wir essen jetzt was. Du hast mir versprochen …« – Ihre Stimme, verstellt, viel zu hoch und ganz leise. Sofort ließ er sie los. Riss die Augen auf. Seine Augäpfel waren gerötet. Josi hielt die Luft an. Herzschlag im Ohr.
»Möchtest du Toast mit Maus?« Er tupfte mit dem Handrücken über seine Lippe und sah sie an. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen. Wollte er sie verarschen?
»Ich habe welche mit grünen Augen oder mit roten Augen.« Er guckte wie ein geprügelter Hund, der gestreichelt werden wollte. Sein linker Mundwinkel zuckte.
»Lieber mit Schuh«, entfuhr es ihr und einen Augenblick war ihr, als könnte sie Lou lachen hören, sein frisches, ansteckendes Lachen, das in ein Glucksen und Prusten überging.
Robert war das Grinsen aus dem Gesicht gefallen. Diese Bemerkung hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. So schnell kamen seine Gedanken nicht nach, das konnte sie deutlich sehen. Er schaute auf die Toastscheiben, zwischen denen tatsächlich eine Maus herausguckte, eine Marshmallowmaus mit grünen Zuckeraugen. Das waren also die unförmigen Stullen, die sie im Kühlschrank gesehen hatte. Toast mit Maus hatte er auch Lou angeboten.
Robert sah hilflos aus, klein. Seine Kraft war entwichen. Sein Blick ging hin und her, als suche er jemanden, der ihm aus der Patsche helfen konnte.
»Los, sag schon! Warum sägst du die Absätze von Stöckelschuhen ab?«
Er schaute zu Boden, als schämte er sich. »Ich muss euch doch beschützen«, sagte er schließlich in diesem Kinderton und kam langsam auf sie zu. Seine Lippe war dick geschwollen von ihrem Schlag. Er ist also verwundbar, ging es ihr durch den Kopf. Sie ballte wieder die Fäuste.
Robert wirkte abwesend, war nun ein kleiner Junge, der darauf wartete, dass Barbara sich um ihn kümmerte. Sie musste ihn unbedingt weiter so klein halten, um ihn zu überwältigen. Wenn nur ihr Herz nicht so rasen würde.
»Wovor willst du uns denn beschützen?«
Robert schaute wie in Trance an Josi vorbei.
»Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe«, sagte er laut und deutlich, schloss die Augen und faltete die Hände vor der Brust. »Denn er errettet dich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz.« Er riss die Augen wieder auf und sah genau in Josis, kam noch einen Schritt auf sie zu und flüsterte: »Du bist die Pestilenz.«
Eiskalt rieselte es ihr über den Nacken, den Rücken hinab. »Nein«, sagte sie fest und bestimmt. »Ich bin doch deine Schwester!«
Robert war jetzt wieder da, der »alte Mann« mit der Glatze, der, der sie eingesperrt hielt. Sie sah, wie seine Kraft wieder wuchs, aber sie hatte keine Angst mehr vor ihm.
»Robert, bitte, lass mich gehen.«
»Damit du die Welt verseuchst?«
»Was redest du für einen Quatsch! Ich verseuche doch nicht die Welt!«
»Das habe ich auch gedacht, gehofft und Kerzen angezündet. In der Kirche und bei Thomas im Garten noch viel stärkere Kerzen! Ich habe diese teuflischen Absätze im Rasen versenkt, auf dass sie den Teufel blenden und euch beschützen, dich und Lou und Thomas, denn Thomas' Wille ist schwach, er kann sich schon lange nicht mehr wehren gegen die Pestilenz.«
Roberts Augen weiteten sich. Josi konnte einen Schweißfilm auf seiner Oberlippe erkennen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie musste alles wissen und dann versuchen, durchs Fenster zu entkommen. Allein der Gedanke machte sie mutig.
»Du hast Lou mitgenommen! Warum?« Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu reden.
»Ich will nicht in den Schrank, bitte, Mama, ich bin auch ganz leise«, wimmerte Robert, wischte sich mit den Händen über das Gesicht und wimmerte weiter: »Robi ist unter dem Bett und die Schuhe machen klack-klack-klack – gehen hin und zurück: klack-klack-klack. Mama, du fällst da runter, komm zu mir, nimm mich in den Arm, nicht den Mann. Er stinkt und tut dir weh, Mama!«
Es war, als würde Robert schlecht träumen. Josi erkannte wieder den kleinen Jungen in ihm, stand auf und streichelte über seinen Arm.
»Und dann?«
»Und dann hat Mama mich in den Schrank gesperrt, bis der Mann weg war. Und dann kam ein neuer Mann und noch einer und noch einer …« Robert guckte, als würde er all die Männer vor sich sehen, wegen denen er eingesperrt wurde. »Mach auf!«, wimmerte er. »Es ist so dunkel hier. Ich will hier raus. Mama! Mama!«
Sie konnte das nicht mitanhören, diese Stimme ging ihr durch Mark und Bein. Sie wollte ihn schütteln, wecken, aber da rieb er sich die Augen und war wieder erwachsen.
»Marina hat alles kaputt gemacht, sie und die anderen Schlangen vor ihr, die Thomas verführt haben. Sie sind alle wie Eva, die Adam verführte, wie meine Mama. Das Übel in der Welt, teuflisch, sie zerstören die Familien! Der arme kleine Lou! Ich konnte ihn doch nicht alleinlassen! Du warst gerade dabei, Max zu verführen, du Schlange. Schande über dich, über euch teuflischen Weiber!«
»Du hast ja echt einen Knall!«
»Glaub ja nicht, ich bin verrückt, du Schlampe! Ich wollte Marina nicht töten, aber sie hat es verdient!« Sein ganzes Gesicht war nun schweißbedeckt. Es glänzte. Josi ballte die Fäuste. Wieso redete er von Marina? Hatte er Lilli etwa mit Marina verwechselt? Das wäre kein Wunder, sie trug ja Marinas Regenmantel. Dann war sie ihm also begegnet, nachdem Josi wieder zurück zu Max gegangen war.
»Es war nicht Marina«, sagte Josi. »Es war eine Studentin von Thomas.«
Jetzt sah er sie an, als wollte er ihr im nächsten Moment die Luft abdrücken. Josi sprang einen Schritt zurück, ging langsam rückwärts. Robert stand wie angewurzelt, weiß im Gesicht, mit offenem Mund. Sie konnte ihn denken sehen.
»Nein, es war Marina. Sie war plötzlich da. Es regnete. Ich habe dich schon die ganze Zeit beobachtet. Du hast mir so wehgetan, Josi. Meine kleine Schwester. Du warst immer wie eine Heilige für mich, wie Barbara, sie ist eine Heilige. Aber du wurdest zur Hure. Ich hätte mir sparen können, für dich Kerzen anzuzünden. Du kannst das Licht nicht mehr empfangen. Aber für Lou habe ich es noch getan, in eurem Garten, um ihn zu beschützen. Du bist auch nicht besser als all die anderen da draußen, die nur darauf lauern, den Männern den Kopf zu verdrehen. Und dafür hast du Lou einfach alleingelassen, weil du deine teuflische Lust nicht zügeln konntest.« Robert rannen jetzt Schweißperlen an der Glatze herab. Sein Gesicht war verzerrt, er hörte nicht auf zu reden.
»Der arme Lou! Meine Mama hat mich auch immer alleingelassen. Weißt du, wie weh das tut?« Seine Stimme wurde wieder weinerlich. »Und dann hat sie die Freier bedient, wie du!«
»Max ist kein Freier! Max ist mein Freund. Du bist ja krank, Robert!«
Er holte tief Luft. »Ich wollte Lou da rausholen. Ich hatte meinen kleinen Roboter dabei, Robbi, und wollte ihn Lou vor die Tür stellen und schenken, denn Lou liebt Roboter, so wie ich, denn er versteht mich.«
»Woher weißt du, dass er Roboter liebt?«
»Weil ich ihn schon lange kenne. Ich war fast jeden Tag im Garten und habe ihm zugesehen, wie er spielt, wie glücklich er in seiner Familie war. Auch Samstag. Aber du hast sein Glück zerstört, ich konnte es nicht mehr mit ansehen, was du mit deinem Maxi treibst, und Lou war ganz allein in dem großen Raum. Die Vorhänge waren nicht ganz zu. Ich konnte ihn durch einen Spalt sehen. Der arme Kleine …« Roberts Gesicht verzog sich, er fing an zu wimmern. Sie konnte ihn kaum verstehen.
»Und dann … dann ist alles so nass und kalt. Es regnet ganz doll. Das ist Seine gerechte Strafe. ER will uns wegschwemmen. Wir haben es verdient. Eine neue Sintflut. Aber Robert weiß jetzt, wie er den kleinen Lou rettet. Nur einen Moment überlegen, unter dem Dach vom Geräteschuppen. Da kommt Marina um die Ecke. Sie weint und schaut sich um, sieht den Schuppen und stellt sich unter. Aber da steht doch schon Robert! Sie sieht ihn an und schreit, schreit! Sie soll nicht so schreien! Das tut Robi weh. Robi muss ihr den Mund zuhalten. Die blöde Kuh haut Robi, boxt … Dabei wollte Robert nur, dass sie nicht schreit! Ich kann dieses Weibergeschrei nicht hören!« Robert hielt sich die Ohren zu. »Und dann … dann war sie … still. Robi wollte sie nicht töten!« Robert fing an zu weinen und schüttelte den Kopf. »Nein, nein!«
Josi ging langsam rückwärts, lief um den langen Tisch herum. Robert hörte auf zu weinen. Er kam auf sie zu. Josi war nun hinter dem Tisch. Robert ging weiter. An seinem Schritt konnte sie sehen, dass er wieder sehr stark war – der Robert, der Lilli Sander erstickt hatte, weil er seine Kraft nicht kontrollieren konnte, weil er sich nicht kontrollieren konnte. Josi fühlte ihr Herz in den Schläfen hämmern. Sie ging weiter um den Tisch herum. Robert folgte ihr.
»Natürlich war es Marina!«, brüllte er.
»Nein, es war eine Studentin von Thomas! Sie hieß Lilli Sander!«
»Es war Marina! Sie hatte diese teuflischen Schuhe an und ihren schwarzen Regenmantel.«
»Ich habe Lilli Marinas Mantel geliehen.«
»Du lügst! Du falsche Schlange, du Hure du!« Robert kam nun schneller auf sie zu. Sie hatten den Tisch bereits einmal umrundet.
Josi hatte keine Kraft mehr zum Reden. Sie fing an zu laufen. Robert versuchte, sie zu täuschen, wie beim Fangenspielen, sprang in die andere Richtung. Josi wich ihm aus.
»Dann war es eine andere Hure!«, murmelte Robert mit zusammengebissenen Zähnen. »Das muss ich beichten, denn Er wird mir vergeben.« Er zeigte auf das Kruzifix. »Er wird mich mit seinen Fittichen decken, und meine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln, denn seine Wahrheit ist Schirm und Schild. Nur er wird uns vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittage verderbt, bewahren.« Er stand still und starrte sie an.
»Robert. Bitte, lass mich gehen. Robert! Ich habe dir doch nichts getan.«
»Du hast Lou alleingelassen. Du bist die Schlange, die Pestilenz …«
Sie musste hier so schnell wie möglich raus! Zur Polizei! Zu Papa! Weg von diesem kranken Pflegekind. Er war anscheinend in dieser religiösen Familie völlig verrückt geworden. Musste da irgendwas falsch verstanden haben, mit dem Guten und dem Bösen auf der Welt und der Pestilenz.
3:54
Sie hatte schon als Kind nie gern Fangen gespielt. Dieses sich gegenseitig Jagen machte ihr Angst. Jetzt jagte Robert sie und sie mochte sich gar nicht ausdenken, was mit ihr passierte, wenn er sie erwischte. Nur der Tisch war zwischen ihnen. Genau wie in der Szene, wo Huckleberry Finn seinem Vater entkommen will. Der war mitten im Schlaf aufgesprungen und hatte seinen eigenen Sohn mit dem Messer bedroht, wollte ihn im Delirium erstechen. Diese Szene hatte sie damals mit Robert gesehen, im Fernsehen, und sie hatte sich ganz eng an ihn geschmiegt, weil sie solche Angst hatte. Nun jagte er sie selbst um einen Tisch, und als würde er auch gerade an diese Szene denken, schnappte er sich das Rasiermesser, dessen Klinge von der Mayonnaise noch fettig glänzte. Sein Blick war irre und bei jedem Schritt zischelte er irgendwas zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Josi wich ihm nach rechts aus – dann nach links. Plötzlich ließ er sich auf den Boden fallen und hechtete unter den Tisch. Josi schrie auf, sprang zurück, damit er sie nicht an den Beinen packen konnte, und dann rannte sie ins Schlafzimmer und knallte die Tür zu.