Lass sie nicht mehr rein! Und wenn sie klopfen, dann halt dir einfach die Ohren zu!

11:10

Josi musste hier raus! Mit Flip-Flops konnte sie einigermaßen laufen, und gut, wenn jeder Schritt brannte, sie hatte es verdient! Wie konnte sie auch nur so egoistisch sein und an nichts anderes denken als an ihre Lust! Ja, leiden sollte sie, wenigstens das! Außerdem lenkte der Schmerz sie von dem Druck ab, der sich in ihr aufgestaut hatte.

Sie ging am Haus vorbei, auf dem Bürgersteig, entlang des Gartens, sah auf den Trampelpfad. Wie die Leute hier gestern noch gestanden und gegafft haben, sogar mit Kindern auf dem Arm waren sie stehen geblieben und hatten auf das Gestrüpp und die Brennnesseln gezeigt, wo die Leiche gelegen hatte. Schwer, sich vorzustellen, dass da tatsächlich eine gelegen hatte.

An der Bushaltestelle, keine zwei Meter neben dem Fundort, standen zwei alte Frauen und tuschelten. Der 184er kam, hielt. Die beiden Frauen stiegen ein, ein Mann mit einem kleinen Jungen an der Hand stieg aus. Der Mann machte viel zu große Schritte; der Kleine musste schon fast rennen, um mitzukommen. Er war jünger als Lou. Josi konnte nicht mitansehen, wie der Kleine neben dem Mann herstolperte. Merkte der denn nicht, dass er viel zu schnell war?

»Entschuldigung!«, sagte Josi. Der Mann blieb stehen. Der Junge hatte noch einen Schnuller im Mund. Einen Moment glaubte sie, Robert in dem Kleinen zu erkennen, aber Robert hatte sie in dem Alter noch gar nicht gekannt, er war sechs, als er zu ihnen kam, allerdings hatte er mit sechs auch noch einen Schnuller gehabt. Daran konnte sich Josi noch gut erinnern. Ein großer Bruder mit Schnuller. Barbara hatte ihn immer verteidigt, wenn er ausgelacht wurde, und Josi später erklärt, dass seine Mama ihm schlimme Dinge angetan hatte.

»Was denn für schlimme Sachen?«

»Sie hat ihn schon als ganz kleines Kind im Kleiderschrank eingesperrt.«

»Warum?«

»Weil sie krank war.«

Das war immer die Entschuldigung gewesen: Roberts Mutter war krank – Robert war krank. Und weil Robert krank war, musste Barbara sich besonders um ihn kümmern und Josi musste Rücksicht nehmen. »Das verstehst du doch, mein Schatz.« – Ein Standardsatz von Barbara, den sie hasste.

»Haben Sie vielleicht einen Jungen gesehen, etwas größer als Ihrer?« Josi sah den Mann an und zeigte auf den Kleinen. Der guckte Josi mit großen Augen an. Dabei fiel ihm der Schnuller aus dem Mund, aber er hing an einer Schnullerkette aus bunten Holzperlen und baumelte nun an seinem Pulli.

»Pardon?«, sagte der Mann und lächelte freundlich. Er entschuldigte sich, dass er nicht verstand, was sie sagte, er sei Franzose und nur zu Besuch. Sie sprach kaum Französisch, hatte Spanisch in der Schule. Er wünschte ihr einen schönen Tag. Dann ging er weiter, genauso schnell wie vorhin. Der Junge schaute sich noch zu ihr um. Wenigstens hatte er eine kurze Pause zum Verschnaufen gehabt.

Sie wusste nicht, wo sie hin sollte. Noch mal zu Herrn Dittfurth, ihn fragen, woher er Herrn Rufus hatte?

Diesmal ging sie gleich zur Haustür und klingelte. Es dauerte keine Minute, da war Herr Dittfurth an der Tür. Er war sonnengebräunt und trug eine Schiebermütze, ein weißes Hemd und eine braune Hose. Er legte viel Wert auf sein Äußeres. Josi konnte sein Rasierwasser riechen – oder war es sogar Parfüm?

»Hallo?«, sagte er freundlich und bat Josi herein. »Ist dein Bruder wieder da?«

»Nein.« Herr Dittfurth führte sie in die Küche. »Es tut mir ja so leid, was bei euch passiert ist! Ich wollte auch schon längst rübergekommen sein, aber die Polizei hat es mir verboten, weil ich doch das Spielzeug gefunden habe, dieses eckige rote Männchen.«

»Wo haben Sie es denn gefunden?«

»Auf der anderen Straßenseite, in der Nähe von eurem Gartentor. Ich habe es Sonntag früh gefunden und bei mir auf den Pfeiler gestellt, damit man es gut sieht. Ich habe mir schon gedacht, dass es dem kleinen Lou gehört, aber ich war mir nicht sicher, sonst hätte ich es zurückgebracht.«

»Die Polizei sagt, sie hätten es bei Ihnen in der Einfahrt gefunden.«

»Ja, es muss dann wohl runtergefallen sein. Mein Gott, dieser Kommissar ist ja so was von dämlich! Er hat meine Fingerabdrücke nehmen lassen und sie mit denen auf der Figur verglichen. Natürlich sind meine auch darauf. Ich habe sie doch aufgehoben! Aber jetzt glaubt dieser …«

»Herr Werner?«

»… ja, genau der. Der glaubt jetzt, ich hätte was mit dem Verschwinden des Jungen zu tun.« Herr Dittfurth seufzte. »Und mein Alibi ist nicht so einfach nachzuprüfen. Ich mache mir wirklich langsam Sorgen. Ich darf vorläufig die Stadt nicht verlassen, muss immer erreichbar sein … Aber setz dich doch, Liebes, ich will dir auch nichts vorjammern. Mein Leid, verglichen mit euerm Leid, ist ja gering! Wie kann ich nur helfen?«

»Haben Sie denn Samstagnacht etwas bemerkt?« Josi ging zum Fenster. »Ihre Küche geht ja zur Straße raus.«

»Ich war gar nicht da, am Samstagabend.«

»Wann sind Sie denn wiedergekommen?« Josi kam sich schon selbst vor wie eine Kommissarin.

»Gar nicht, Herzchen, gar nicht. Anschließend war ich noch in einer Bar und habe einen alten Freund wiedergetroffen, ja und dann …«

Josi wurde rot. Anscheinend hatten alle Menschen nur Sex im Kopf – und zwar in jedem Alter.

»… habe ich bei ihm übernachtet.«

»Dann haben Sie doch ein Alibi.«

»Leider nicht für die gesamte Tatzeit. Alfred habe ich erst gegen Mitternacht getroffen. Mein Alibi – ein befreundetes Ehepaar, mit dem ich nach Verlassen des Konzerts noch einen Aperol Sprizz getrunken habe, ist leider gerade nicht erreichbar.«

Josi schaute auf Herrn Dittfurths Kappe. »Sie wollten bestimmt gerade los, oder?«

»Ja, ich wollte zu Alfred. Alfred war mal Anwalt. Er wird mir ein paar Tipps geben, wie ich mich verhalten soll. Man darf sich ja nicht alles gefallen lassen!«

Sie gingen zusammen zur Haustür. Herr Dittfurth gab ihr die Hand, hielt ihre Hand fest und schaute ihr in die Augen. »Und bitte, Liebes, sag mir sofort Bescheid, wenn der Kleine wieder auftaucht, ja? Ich kann ja sonst nicht in Ruhe schlafen. Bestimmt ist ihm nichts passiert. Das ist so ein cleveres Bürschchen, ich sage dir, der ist wohlauf.«

Josi schluckte. Sie wusste, dass die Worte gut gemeint waren.

Sie ging die Straße runter, schaute sich noch einmal um und sah, wie Herr Dittfurth mit seinem Oldtimer rückwärts aus der Einfahrt fuhr.