Ich weiß, du bist da. Ich höre dich! Ich kann nicht mehr warten, bis du wieder allein bist!

7:21

Endlich war die zähe Nacht vorbei. Josi lag noch im Bett und fühlte sich völlig ausgelaugt. Die Nacht war quälend langsam vorbeigegangen und andauernd tauchten Erinnerungen auf, an die sie gar nicht denken wollte und die ihr die letzte Kraft aussaugten, als säßen schwarze Monster um sie herum und schlürften sie mit Strohhalmen aus – das Bild hätte von Lou sein können, nur hätte er sich darüber kaputtgelacht.

Thomas war irgendwann gegen halb sieben in ihr Zimmer gekommen und hatte gefragt, ob sie nicht aufstehen und zur Schule gehen wollte.

»Nein«, hatte sie gemurmelt. Als sie Thomas die Treppe runtergehen hörte, fing sie wieder an zu frieren.

Sie stand auf und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser auf ihrem Kopf – wie ein Platzregen.

Wo war Lou?

Beim Abtrocknen überlegte sie, was sie noch tun könnte. Sämtliche Freunde von Lou hatten sie längst angerufen, auch die Polizei hatte sie alle schon befragt; mittlerweile war auch die ganze Umgebung abgesucht worden.

8:09

Marina war in den Kindergarten gefahren, sie dachte, vielleicht tauchte Lou ja dort auf. So früh am Morgen hatte Josi sie noch nie gesehen. Sie war dezent geschminkt, trug ein knielanges helles Kleid und blaue Peep-Toe-Pumps.

»Vielleicht geht Lou ja von ganz allein in den Kindergarten. Das wollte er in der letzten Zeit doch immer, nicht wahr, Thomas?« Sie schaute Thomas an. Thomas biss sich auf die Lippen und nickte. »Unser Kleiner wird groß und selbstständig«, sagte Marina mehr zu sich selbst. Wie sie da durch die Wohnung irrte und bis sie endlich alles beisammenhatte – Handtasche, Geld, Spiegel, Schlüssel. Plötzlich tat ihr Marina fast leid. Sie hätte gern etwas Nettes zu ihr gesagt, aber da fiel schon die Haustür hinter ihr ins Schloss.

»Gut, dass sie in den Kindergarten geht«, sagte Thomas. »Dann hat sie was zu tun. Hier macht sie ja nur alle nervös.« Seine Stimme klang kalt und abweisend. Warum? Er konnte doch unmöglich noch sauer auf sie sein, weil sie sich auf der Party betrunken hatte, nach all dem Schrecklichen, was passiert war! Bedrückte ihn noch etwas anderes, was nicht mit dem Verschwinden von Lou zu tun hatte, oder bildete sie sich das nur ein? Sie hatte mitbekommen, wie Marina ihn wegen dieser Lilli Sander ausgefragt hatte, weil sie doch eine seiner Studentinnen war. Marina wollte wissen, in welchem Semester.

»Weiß ich doch nicht!«, hatte er sie angeherrscht und dann die Stimme gesenkt: »Lass mich damit bitte in Ruhe.« Er klang total gereizt und war ohne ein weiteres Wort in seinem Büro verschwunden. Mit Arbeit hatte er sich ja schon immer ablenken können.

Josi hätte auch gern was zu tun gehabt, irgendwas, was sie ablenkte, aber es gab nichts, die Zeit war auch am Tag ein dicker, zäher Klumpen und sie steckte mittendrin. Nichts bewegte sich, nicht mal die Zweige vor dem Fenster. Die Straßen waren leer, die Schüler in der Schule, die Kinder im Kindergarten. Das rot-weiße Flatterband am Trampelpfad war auch nicht mehr da. Es war ein Montagmorgen wie letzte Woche auch, nur war Lou da noch da.

Ihre Mutter rief an, aber Josi wollte jetzt nicht mit ihr reden.

»Nein, noch keine Neuigkeiten. – Ja, ich sage dir dann Bescheid.«

Josi ging zurück in ihr Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch und stützte das Kinn auf die Hände. Ihr Kopf war schwer, die Arme auch, wie damals, als Mama sie das letzte Mal getragen hatte. Seit der letzten Nacht hatte sie Mamas vorwurfsvolle Worte wieder ganz klar im Ohr: »Ein Kind spürt so was doch!« Ja, Barbara hatte, auch als Josi noch klein war, immer alles klar und deutlich thematisiert, im Gegensatz zu Thomas, der nie so recht wusste, wann der richtige Augenblick war, um Dinge auszusprechen. Deswegen sagte er lieber gar nichts oder er erklärte stundenlang, als hätte er selbst nichts damit zu tun, wie in einer Vorlesung. Wenn sie nur irgendwas trösten könnte, aber sie war kein kleines Kind mehr, das sich an einem Stofftier ausheulte, wie damals mit ihrer Giraffe Gina. Gina gab es schon lange nicht mehr für sie. Die hatte sie Robert geschenkt, als sie mit Mama nach Kreuzberg zog und er in eine neue Familie kam.

Ihr Handy klingelte. Max erschien auf ihrem Display.

»Nein, Max, er ist noch nicht wieder da.«

»Gehst du nicht in die Schule?«

»Nein.«

»Ich muss erst zur Zweiten hin und habe nur vier Stunden, könnte gegen eins bei dir sein. Wenn du willst, auch schon früher. Ich muss da nicht mehr hin.«

»Ja.«

»Ja was?«

»Eins ist okay.«

»Ich freu mich auf dich, Josi.«

»Und ich mich auch auf dich, Max.«

8:39

Josi holte den Detektivkoffer unter dem Bett hervor. Sie wollte sich diese Stöckel noch mal näher angucken. Sie öffnete das Köfferchen, ja, kein Zweifel, es waren tatsächlich Absätze von High Heels, sieben Stück – verschieden lang, verschieden dick, verschiedene Farben, aber an jedem Absatz hatte Erde geklebt, als wäre jemand mit Stöckelschuhen über einen Acker gestiefelt. Wo hatte Lou sie nur her? Waren es etwa Absätze von alten High Heels seiner Mutter? Lou spielte manchmal mit Marinas Schuhen, benutzte sie für seine Transformer als Absprungrampe oder verwandelte sie selber in Transformer und raste mit ihnen über den Teppich.

Alle Absätze waren sauber abgetrennt, wahrscheinlich abgesägt. Hatte er sie etwa abgesägt, mit seiner kleinen Laubsäge, weil er sie für irgendwas brauchte? Hatte er nicht von Stöckchen geredet, die ausgelegt wurden, damit die Kinder wieder nach Hause finden?

Wann war das gewesen? Gehörte das zur Geschichte mit dem fiesen Mann und dem Holzbein? Oder zu der Piratengeschichte? Nein – die Piraten hatten sie am Samstagnachmittag noch gemeinsam erledigt. Abends fing er dann mit dieser Detektivgeschichte an, von den beiden Brüdern, Marvin und Nick, die von dem fiesen, alten Mann entführt worden waren und einfach nicht entkommen konnten. Aber dann war Herr Rufus ihnen mit der Mücke auf der Spur. So weit, so gut. Dann war Max gekommen. Und dann hatte Lou mit Max und den Transformern gespielt, aber hatte er nicht auch noch was gesagt, dass Herr Rufus die Jungs gerettet hatte und irgendwelche Stöckchen ausgelegt hatte, damit er aus dem tiefen Wald wieder herausfand?

Nicht so doof wie bei Hänsel und Gretel, die nur Brotstückchen ausgelegt hatten. Die Stöckel konnten die Vögel nicht fressen.

Sie hielt die Luft an. Hatte Lou wirklich »Stöckel« gesagt?

Die Stöckel waren auf jeden Fall in Lous Detektivkoffer, den auch Herr Rufus benutzte. Woher hatte er sie? Vielleicht von einem Schuster? Sie sollte Marina fragen.

Sie fuhr mit dem Finger über die Stellen, wo die Absätze abgetrennt worden waren. Konnte man mit einer Laubsäge überhaupt so sauber arbeiten?

8:54

In der Schule hätten sie jetzt Mathe. Thomas fuhr auch nicht in die Uni. Sie war allein mit ihm zu Hause, in seinem Zuhause. Josi kam sich in Zehlendorf manchmal nur wie Besuch vor, als ob sie gar nicht zur Familie dazugehörte. Ob es Robert damals auch so ergangen war, als er zu ihnen kam? Er hatte Thomas vergöttert, gleichzeitig sein Wort gefürchtet; und von Barbara hatte er sich von vorne bis hinten betuddeln lassen. Mama tat das Kind unendlich leid, das nicht mal von seiner leiblichen Mutter geliebt worden war. Völlig verwahrlost und unterernährt war er erst im Krankenhaus und dann in einem katholischen Kinderheim gewesen, bevor Barbara ihn dort herausholte.

Josi wollte jetzt wirklich nicht über Robert grübeln, sonst bekam sie wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie nie Lust hatte, ihn zu besuchen.

Ob sie mit Thomas reden sollte, über Herrn Rufus und seinen ungelösten Fall?

Josi klopfte an seine Bürotür, wartete keine Antwort ab und ging rein.

Thomas saß hinter seinem Schreibtisch und rieb sich die Augen.

»Ich muss dir was zeigen.« Sie schwang den Detektivkoffer auf den Tisch, öffnete ihn.

»Bitte, Josi, nicht jetzt. Ich kann das Spielzeug jetzt nicht ertragen.«

Sie holte ein paar Stöckel heraus und hielt sie ihm unter die Nase.

»Was soll das denn?«

»Das sind Absätze.«

Thomas seufzte. »Wo hat Lou die denn her?«

»Das wollte ich dich fragen.«

»Woher soll ich das wissen, Josi. Woher hat er seine Schneckenhäuser und die Baumrindenstückchen und was weiß ich, was er sonst noch alles sammelt?«

»Aber die Absätze kann er nicht allein absägen.«

»Ich habe sie ihm nicht abgesägt.« Thomas rieb sich wieder die Augen. »Vielleicht hat er sie aus dem Kindergarten oder von seiner Freundin Carla. Die hat ihm ja letztens sogar ein Eichhörnchenskelett mitgebracht!« Thomas hatte dunkle Ringe unter den Augen. Wahrscheinlich hatte er gar nicht geschlafen. »Frag Marina«, sagte er leise. »Ich habe jetzt keinen Nerv dafür. Entschuldige, Josi, lass mich bitte allein.«

Sie packte die Absätze wieder in den Koffer und verließ sein Büro.