Ich tu es auch nie wieder! Lass mich raus ... lass mich raus hier!
21:17
»Marvin und sein kleiner Bruder Nick waren müde und hungrig. Sie saßen jetzt schon seit drei Tagen bei dem fiesen, stinkenden Mann fest. Drei Mal hatten sie versucht zu fliehen, aber jedes Mal hat er sie wieder geschnappt. Der alte Mann war so fies, dass er trotz Holzbein schneller laufen konnte als die Kinder! Aber in der vierten Nacht schlichen sich Marvin und Nick wieder aus dem Haus …«
Lou kniete auf einem Stuhl vor der Küchenanrichte und schlug ein Ei auf die Kante der Schüssel. Dabei presste er die Lippen aufeinander, konnte nicht weitererzählen. Sich darauf zu konzentrieren, dass das Ei sauber in der Schüssel landete, benötigte seine ganze Aufmerksamkeit. »Super!«, sagte Josefine, als er zwei Eier in der Schüssel hatte, und reichte ihm die Zuckertüte. »Und dann? Können sie diesmal entkommen?«
Regen pladderte gegen das Küchenfenster. Endlich kam die ersehnte Erfrischung! Seit Tagen war es unerträglich drückend und schwül gewesen. Es grummelte.
»Nun wart's doch mal ab«, fuhr ihr kleiner Halbbruder sie an und erzählte dann weiter: »Sie folgten einem Fluss, immer geradeaus. Als sie gerade dachten, jetzt sind sie in Sicherheit, da schoss ein Riese aus dem Fluss und packte beide am Kragen. Das war der fiese alte Mann mit dem Holzbein. Der war in echt ein Transformer. Der konnte sich auch in einen Riesen verwandeln oder in ein Auto …« Lou schaute sich um. »… oder in einen Mixer.«
»In einen Mixer?« Josi hatte gerade den Handmixer geholt. »Erzähl mir nicht, dass wir jetzt mit dem fiesen, stinkenden Holzbeinmann den Muffinteig rühren?«
»Doch!«, sagte Lou und strahlte.
Es blitzte und donnerte. Lou zuckte zusammen. In Kreuzberg, bei ihrer Mutter, durfte sie bei Gewitter keine Elektrogeräte benutzen, aber hier, bei ihrem Vater in dem hypermodernen Haus, war alles durch Blitzableiter und Überleitungssteckdosen gesichert.
Es goss jetzt wie aus Eimern. Das Küchenfenster sah aus wie ein Wasserfall. Lou schüttete den Zucker und das Mehl in die Schüssel und kletterte auf die Anrichte. Josi gab Lou den Mixer. Er saß auf Knien und schaltete den Mixer ein, stellte ihn gleich auf die höchste Stufe und hielt ihn wie einen Presslufthammer. Der Teig wurde so glatt wie nie zuvor.
»Willst du nun weiterhören oder nicht?« Lou leckte die Rührstäbe ab.
»Doch, ja. Ich höre.«
Ein Donner ließ beide zusammenfahren. Lou duckte sich.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Josi.
»Hab ich auch nicht!«
»Also, wie geht deine Detektivgeschichte nun weiter?«
»Der Riese hat Marvin und Nick dann in eine Hütte gesperrt, in einem tiefen Wald, wo sie nie wieder allein rauskommen. Das dachte der Riese, aber was er und die beiden Jungs nicht wussten …«, Lou versuchte, sich einen Teigklecks von der Wange zu lecken, »… Herr Rufus hatte schon ihre Spur aufgenommen. Er scannte den Waldboden Zentimeter für Zentimeter ab.«
Josis Handy klingelte. Sie zog es aus der Hosentasche und sah Max auf dem Display. Sein Foto schien einen direkten Draht zu ihrem Herzen zu haben, denn das fing gleich an, wie verrückt zu schlagen. Sie holte tief Luft und ging ran.
»Na, was machst du gerade?« Max' Stimme in ihrem Ohr reduzierte ihre Herzfrequenz nicht gerade.
»Muffins backen.«
»Ich liebe Muffins!«
»Ich bring dir morgen ein paar mit.«
»Morgen? Warum nicht noch heute?«
»Weil ich heute nicht mehr weggehe. Ich muss Babysitten.«
»Ich weiß, aber vielleicht könnte ich ja bei dir vorbeikommen, für ein Stündchen oder zwei …«
»Max, ich weiß nicht so recht.«
»Ach komm. Ich bin ganz in der Nähe, bei einem Kumpel.«
»Aber es regnet doch so!«
»Na und? Ich würde auch durch den tiefsten Schnee reiten, um bei dir zu sein.«
Sie musste lachen. So war er, ihr Ritter oder Galan – oder ihr galanter Ritter. »Ich habe aber keine Zeit für dich, jedenfalls nicht für dich allein, ich muss …«
»Ich weiß. Bin in zehn, fünfzehn Minuten da, okay?«
Da stand Josi nun, mit dem Telefon in der Hand und einem warmen Kribbeln im Bauch. Lou saß auf der Anrichte, ließ die Beine baumeln und erzählte weiter: »Herr Rufus versteckte sich hinter einem Baumstamm und stellte seinen Detektivkoffer ab. Dann gab er den Code ein und musste mit dem Daumen noch auf eine Sensortaste drücken. Es machte ›Klick‹ und schon sprang der Koffer auf. Er zog eine Tastatur heraus und einen ganz dünnen Bildschirm. Den stellte er auf zwei Beine. Der Computer sah aus wie eine riesige Mücke, aber das war nur Tarnung, in echt war es ein Spurenfinder, ein SPFI, aber Herr Rufus nannte ihn nur ›Die Mücke‹, weil das einfacher zu merken war …«
Josi musste lachen. Lou konnte noch nicht mal schreiben, warf aber schon mit diesen technischen Abkürzungen um sich, als wäre er der Chef von der CIA persönlich.
»Dem SPFI entging überhaupt nichts!«
Es war wirklich verrückt. Ihr kleiner Bruder quatschte sie mit komplizierten Detektivgeschichten voll und ihr neuer Freund hatte sie einfach überrumpelt und würde gleich vor der Tür stehen.
»Lach nicht, Josi«, sagte Lou und hopste von der Anrichte. »Den SPFI gibt's wirklich.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie und schob die Muffins in den Ofen.
Lou wischte sich die Hände an seiner Hose ab und zog Herrn Rufus, einen winzigen roten Plastikroboter, aus der Hosentasche und hielt ihn ihr unter die Nase.
»Los, Herr Rufus, erzähl ihr was über die Mücke. Sie glaubt mir nicht.«
»Doch, Lou, ich glaube dir, aber lass mich jetzt mal. Max kommt gleich vorbei.«
»Wer iss'n das?«
»Ist der nett zu dir?«
Sie stutzte. »Ja, natürlich, warum denn nicht?« Manchmal war Lou so in seine Geschichten vertieft, dass er in jedem einen Spion oder einen Fiesling sah.
»Max ist ein Guter und er hat auch kein Holzbein.«
»Hat er einen Porsche?«
»Nein, ein Fahrrad.«
»Gar kein Auto? Aber letztes Mal bist du doch mit dem Auto gebracht worden.«
»Ja, aber das war nicht mein Freund.«
»Hast du aber gesagt.«
»Das war ein Freund, aber Max ist mein Freund.« Sie hatte es noch nie so deutlich ausgesprochen. Sie waren ja auch erst seit drei Wochen zusammen.
»Bin ich auch dein Freund?«
»Du bist mein Bruder, Lou.«
»Ich will aber auch dein Freund sein!«
Josi wollte sich noch schnell umziehen. Sie nahm zwei Stufen auf einmal, hörte, wie Lou hinter ihr herkam. Sie ging über die Galerie in ihr Zimmer und ließ die Tür offen. Lou kam auch prompt mit rein und schaute ihr beim Umziehen zu, stand da, musterte sie in ihrem altrosa Spitzen-BH und dem passenden Slip, mit Herrn Rufus in der Hand.
»Zieh doch ein Kleid an«, sagte er.
»Nein. Kein Kleid.«
Sie zog eine helle Jeans aus einem Klamottenstapel auf ihrem Stuhl, nahm das hellblaue Top. Hellblau passte gut zu ihren blaugrauen Augen und den langen dunkelbraunen Haaren. Sie stellte sich vor den Spiegel. Die Haare würde sie offen lassen.
»Du siehst schön aus«, sagte Lou und lächelte. »Das findet Herr Rufus auch.« Er war schon ein kleiner Charmeur, ihr Bruder.
21:59
Es klingelte an der Tür.
»Ich mach auf!« Lou stürmte aus ihrem Zimmer, über die Galerie, die Treppe runter, durch den Flur zur Haustür, riss sie auf.
Max' Haare waren nass. Sein Gesicht glänzte vom Regen. Er strahlte sie schon an, als sie noch auf der Treppe war.
»Hey!« Er nahm sie gleich in die Arme und gab ihr einen Begrüßungskuss auf den Mund. Seine Lippen schmeckten regenfrisch. Er roch nach Zigarettenrauch. Dann sah er Lou an.
»Und wer bist du?«, fragte Max.
»Lou«, sagte Lou und grinste ihn an.
»Regnet es noch?«, fragte Josi.
»Gerade nicht, jedenfalls nicht mehr so doll«, sagte Max und wuschelte sich durch die nassen Haare. »Soll ich die Schuhe ausziehen?«
»Kannst du anlassen«, sagte Josi und schloss die Haustür hinter ihm. Es grummelte in der Ferne.
Lou ging neben Josi, die Hände in den Hosentaschen und den Kopf im Nacken. Er begutachtete Max kritisch.
»Warum hast du denn kein Auto?«
»ôh, ich habe ein Fahrrad.«
»Nö.«
»Nö sagt man nicht«, sagte Lou. »Das heißt ›nein‹.«
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Max.
»Fünf«, sagte Lou. Er streckte fünf Finger aus. »Und du?«
»Neunzehn. Das ist zweimal beide Hände, minus eins.« Max streckte seine zehn Finger aus und versteckte einen Daumen.
»Ich weiß, wie alt das ist«, sagte Lou. »Ich kann schon bis Fünfzig zählen.«
22:03
Sie gingen ins Wohnzimmer. Max hatte sein cooles, grünes T-Shirt an, das mit dem ATARI-Logo. Lou hopste auf den Polstern herum und zählte bis Fünfzig. Max schaute sich um. Er war noch nie hier gewesen. Josi sah, dass ihm das große Wohnzimmer gefiel, mit der cremefarbenen Sofalandschaft, dem dunklen Granitboden, dem Kamin und der Glaswand zur Terrasse. Sie hatte die champagnerfarbenen Vorhänge extra nicht zugezogen, damit er noch in den Garten gucken konnte. Es war noch nicht ganz dunkel. Der Garten reichte bis an den Grunewald und ging im hinteren Teil selbst in Wald über, mit großen Linden, Eichen und Buchen.
»Wahnsinn«, sagte Max. »Wir haben nur einen kleinen Balkon.«
»Hab ich bei meiner Mutter nicht mal«, sagte Josi.
»Warum ziehst du dann nicht nach Zehlendorf?«
»Wegen dem Garten?« Sie sah, dass er spürte, dass ihre Familienkonstellation ein heikles Terrain war, und er hakte nicht weiter nach. Dafür mochte sie ihn auch, wegen seiner Feinfühligkeit. Max war endlich mal ein Junge, dem wenigstens auffiel, wenn er in ein Fettnäpfchen trat, und darauf nicht nur mit einem blöden Scherz reagierte. Das hatte sie gleich zu Anfang schon gemerkt.
Er stand ganz dicht neben ihr und schaute hinaus, wie es wieder in seichten Fäden regnete. Pfützen hatten sich vor dem Geräteschuppen gebildet. Hinten, am Wald, hing Dunst zwischen den Bäumen wie ein Schleier. Josi war, als hätte sich da gerade etwas bewegt, aber sie konnte nichts erkennen.
»Lou, machst du bitte mal die Vorhänge zu?«
Er nickte, war beim Zählen durch das Herumhopsen von 43 auf 35 zurückgefallen. Im Nu rannte er zur Wand und drückte einen Knopf. Leise surrten die Vorhänge aufeinander zu.
»Soll ich weitererzählen, wie Herr Rufus und die Mücke …«
»Vielleicht nicht jetzt, Lou. Komm, wir schauen mal, ob die Muffins schon fertig sind.«
Josi holte die Muffins aus dem Ofen und stellte das Blech auf ein Glastischchen im Wohnzimmer.
»Lou, willst du nicht ein bisschen mit deinen Autos spielen, bis die Muffins abgekühlt sind? Und dann geht's auch bald ins Bett!« Josefine zeigte auf den Fuhrpark auf dem Teppich. Sie wusste, dass er nicht einfach nur mit Autos spielte und die meisten seiner Autos auch keine gewöhnlichen Autos waren, sondern Transformer, die sich jederzeit in Roboter verwandeln konnten.
Sie bot Max ein Bier an. Trank selbst auch ein Bier, obwohl sie Bier gar nicht mochte, jedenfalls nicht ohne Limo. Aber sie wollte jetzt nicht noch mal zum Kühlschrank gehen und was zum Mischen holen. Lou hatte Max im Handumdrehen auf dem Teppich. Er erzählte ihm von dem fiesen alten Mann und dass Herr Rufus schon unterwegs war, mit seiner Mücke, und irgendwas auslegte, zur Sicherheit, um den Weg zurückzufinden. Sie schmunzelte. Ob Max früher auch so ein kleiner Detektiv gewesen war?
»… nicht so doof wie Hänsel und Gretel, die nur Brotstückchen ausgestreut haben. Die Stöckel konnten die Vögel nicht fressen«, hörte sie Lou und hatte jetzt den Anschluss verpasst. Sie wollte auch nicht nachfragen, sonst erklärte er ihr alles noch mal haarklein.
Max sollte nun mithelfen, die Autos in die Garage zu fahren. Die Garage war unter dem Sofa. Aber erst mussten sie noch ein paar Runden um den Teppich rasen und sich mindestens einmal verwandeln, vorher konnten sie nicht in die Garage. »Weil sie dann noch nicht müde sind«, erklärte Lou.
»Roboter und Autos werden nie müde«, sagte Max. Er kniete auf dem Teppich. Sein Hintern sah echt knackig aus. Vorgestern, bei ihm zu Hause, hatten sie so heftig rumgeknutscht, dass es fast kein Zurück mehr gegeben hätte. Sie wollten auch kein Zurück mehr, aber Max konnte keine Kondome finden. Sie hatte auch keine dabei. Wirklich unmöglich! Seit sie 14 war, hatte sie sonst immer welche in der Handtasche, wie alle ihre Freundinnen. Mit 15 hatte sie ja dann auch das erste Mal einen benutzt, mit Jan. Mannomann, war das eine peinliche Fummelei gewesen.
»Natürlich werden Roboter und Autos müde«, sagte Josefine und zwinkerte Max zu. »Genauso, wie große Jungs müde werden!«
»Ich aber nicht«, sagte Lou.
Josefine merkte schon, dass sie Max nicht so einfach von Lou wegkriegen würde. Sie fand zwar total süß, wie er da auf dem Boden herumkroch und mit Lou spielte, aber es war inzwischen schon halb elf – eigentlich schon viel zu spät für Lou, aber sie hatte ihm versprochen, dass er heute so lange aufbleiben dürfte, wie er wollte. Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie schön es wäre, jetzt mit Max ganz allein zu sein, hier auf der Sofalandschaft, wo man hervorragend Musik hören und dabei ja ein bisschen kuscheln konnte. Aber so aufgedreht, wie Lou war, würde er noch stundenlang spielen wollen und sich sicher nicht ins Bett bringen lassen. Ein Film wäre die Rettung! Dann könnte er im Wohnzimmer gucken und sie könnte mit Max in ihr Zimmer gehen. Ihr Zimmer hier hatte er schließlich auch noch nicht gesehen.
Eigentlich war um diese Uhrzeit für Lou auch kein Film mehr angesagt, aber man konnte wohl mal eine Ausnahme machen.
»Hör mal, Lou, es ist schon fast Mitternacht«, sagte Josi.
»Echt, wie spät ist es denn?«
Max zeigte ihm seine Uhr. »Kannst du die schon lesen?«
»Klar!«, sagte Lou und zog Max' Arm näher heran, guckte auf das Zifferblatt und überlegte. Dabei atmete er sehr laut. »Halb elf.« Er strahlte, sah Josi an. »Dann ist es aber noch lange nicht Mitternacht!«
»Fehlt aber nicht mehr viel«, sagte Josi.
»Doch! Eine ganze und eine halbe Stunde«, sagte Lou.
»Hey, du bist ziemlich schlau, was?«
Lou nickte. »Du nicht?«
Max musste schmunzeln. Josi fand ihn total süß, wenn er so schmunzelte.
Sie probierten die Muffins.
»Echt lecker!«, sagte Max mit vollem Mund.
»Überlecker!«, sagte Lou und schnappte sich gleich noch einen. Dann brachte sie die restlichen Muffins in die Küche. Es waren nur noch vier übrig.
»Pass auf, Lou«, sagte Josi. »Wir machen einen Kompromiss. Du darfst ausnahmsweise jetzt noch einen Film sehen, aber danach geht es rucki, zucki ins Bett, ja?«
Lou zog seine Unterlippe vor. »Ich will aber jetzt gar keinen Film sehen.«
»Auch nicht Dschungelbuch?«
»Doch!«, rief er und hopste auf der Stelle herum. Dschungelbuch war einer seiner Lieblingsfilme. Von Max anscheinend auch. Er bekam große Augen.
»Oh, ihr habt Das Dschungelbuch?«
»Guckst du den Film mit mir?«, fragte Lou ihn.
»Nein«, sagte Josi schnell. »Das geht nicht. Wir müssen noch was lernen, für die Schule, Max erklärt mir Mathe.« Sie merkte, wie sie rot wurde. Sie schaute Max an und sah, wie er schon wieder so niedlich schmunzelte.
»Ihr wollt ja nur küssen«, sagte Lou. Er verzog das Gesicht. »Iiiiihh, Küssen! Bääh!« Er rannte weg. Josefine hinter ihm her.
»Wenn ich dich erwische, küsse ich dich.«
»Nein, Hilfe!«, rief Lou und flitzte um den Sessel, konnte vor lauter Lachen kaum noch laufen.
»Gleich hab ich dich und küss ich dich!«, sagte Josi und packte ihn. Er zappelte wie wild und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Sie küsste ihn auf die Wange, in die Halsgrube, in den Nacken.
Er grunzte und quiekte, und als sie ihn losließ, holte er tief Luft und sagte: »Noch mal!«
22:40
Endlich saß er vor dem Bildschirm und guckte Das Dschungelbuch. Den Anfang schauten sie noch zu dritt, dann hielt Josi es nicht mehr aus, Max so nah zu sein und ihn doch nicht berühren zu können. Was war nur los mit ihr? So ein starkes Verlangen nach ihm hatte sie noch nie gehabt. Lou war schon völlig in dem Film versunken. Er hatte Dschungelbuch bereits zigmal gesehen und konnte alle Lieder auswendig. Sie standen auf, um in ihr Zimmer zu gehen.
»Er schläft bestimmt auf dem Sofa ein«, flüsterte Max in ihr Ohr und sie bekam eine Gänsehaut von seiner weichen Stimme.
»Auch okay. Dann trage ich ihn nachher ins Bett.«
»Und was ist dann mit Zähneputzen?«
Josi verdrehte die Augen. »Mit dem Spruch bin ich aufgewachsen. Mein Bruder Robert und ich haben abends liebend gern noch Smarties im Bett gegessen. Aber da haben wir immer Ärger gekriegt, wegen Zähneputzen.«
»Ist ja auch richtig so.«
»Willst du mal Zahnarzt werden, oder was?« Sie knuffte ihn in die Seite. Er hielt ihre Hand fest und so gingen sie die Treppe hoch.
»Ich wusste gar nicht, dass du noch einen Bruder hast.«
»Robert war eigentlich nur mein Ziehbruder.«
»Was ist das denn?«
»Ein Bruder, an dem man zieht.« Sie lachte und zog ihn die letzten Stufen hoch.
»He, ich bin aber nicht dein Bruder.«
Sie drehte sich um, hatte Max' Gesicht nun genau vor ihrem. »Zum Glück.« Sie küsste ihn auf den Mund, ging rückwärts weiter, über die Galerie. Max küsste sie zurück.
Ihre Tür stand offen.
»Schönes Zimmer«, sagte er.
»Danke«, sagte sie und küsste ihn wieder.
»Ganz anders als bei deiner Mutter, aber auch total schön.«
Das fand sie auch. Sie fühlte sich in beiden Zimmern wohl, hier, bei ihrem Vater, mit den weißen Wänden, ohne Poster, ohne Bilder, mit dem Moormann-Designer-Schreibtisch und dem großen französischen Bett auf dem wolkenfarbenen Mexx-Teppich. Bei Mama in Kreuzberg hatte sie krumme Möbel aus Holz und abgezogene Dielen. Allerdings war sie nicht so gern bei ihrem Vater wie bei ihrer Mutter. Er hatte kaum Zeit für sie, wenn sie da war, für Lou eigentlich auch nicht. Entweder war er am Arbeiten oder flirtete mit Marina rum, zu der Barbara, ihre Mutter, nur »Tussi hoch zehn« sagte. Josi hatte sich schon lange angewöhnt, ihre Eltern mit Vornamen anzusprechen, aber wenn Marina dabei war, nannte sie Thomas gern auch »Papa«, um sich von ihr abzugrenzen und um ihr zu zeigen, dass sie eine eigene Beziehung zu Thomas hatte, in der Marina nichts zu suchen hatte. Was Marina betraf, war sie nämlich der gleichen Meinung wie ihre Mutter.
22:48
Josi schlang ihre Arme um Max' Hals und küsste ihn wieder. Hm, was roch und schmeckte er gut und wie zärtlich er ihr über den Rücken streichelte und über den Po … Ihr Herz schlug bis ans Kinn. Mit zittrigen Fingern zog sie ihm das Shirt aus, fuhr ihm langsam über den Hals, die Brust, den Bauch. Max hielt ganz still. Sie sah, wie eine Gänsehaut über seinen Körper lief, alle Härchen stellten sich auf. Sie schaute auf sein Sixpack. Nicht ohne! Aber auch nicht so ausgeprägt wie bei all den Angebern. Einfach wunderschön. Sie standen noch eine Weile da und spiegelten sich dabei in den bodentiefen Fenstern wider. Was für ein schönes Paar, dachte Josi. Dann ließen sie sich in die vielen Kissen, aufs Bett, fallen. Max streichelte ihr Gesicht, ihren Hals. Sie küsste ihn.
Plötzlich klingelte es an der Haustür. Josi fuhr hoch. Kurz vor elf – wer konnte das um diese Zeit noch sein? Sie strich sich durch die Haare, lief die Treppe runter, sah Lou – er schaute nicht mal zu ihr, dabei war er sonst immer der Erste an der Tür. Aber die Elefanten marschierten gerade über den Bildschirm und Mowgli versuchte, sich in die Rüsselkompanie einzureihen – eine von Lous Lieblingsszenen. Links, zwo, drei, vier …
Als Josi die Haustür öffnete, fing es gerade wieder an zu schütten. Eine junge Frau stand vor ihr – nicht viel älter als sie, aber unglaublich zurechtgemacht. Sie fragte nach Josis Vater. Josi sah auf ihre hauchdünnen, hochhackigen Sandalen. Nicht gerade das passende Schuhwerk für dieses Wetter.
Es donnerte und blitzte.
»Mein Vater und seine Frau sind auf einer Party«, sagte Josi. Sie wollte diese aufgetakelte Tante so schnell wie möglich loswerden und wieder zurück, zu Max.
»Bei Professor Schaunmann?«, fragte das Mädchen.
Josi nickte.
»Ah!« Die junge Frau nickte ebenfalls.
Wollte sie Thomas und Marina abholen und mit ihnen zusammen zu der Party gehen oder war sie enttäuscht, weil sie schon weg waren? Sie stammelte herum. Josi hörte gar nicht richtig hin. Sie überlegte krampfhaft, wie sie diese Trulla zum Gehen animieren konnte. Dann hatte sie endlich die rettende Idee. Sie bot ihr einen Schirm an und Marinas schicke Gummistiefel, mit Absatz! Aber es war gar kein Schirm mehr da und die Gummistiefel wollte sie nicht. Schließlich nahm sie dann Marinas Regenmantel und zog ab. Endlich!
Lou war immer noch in den Film vertieft. Josi sprach ihn gar nicht erst an und stürmte die Treppe hoch, zu Max. Sie alberten ein bisschen herum, dann zog er ihr das Top aus. Sie küssten sich wieder. Wahnsinn, wie man beim Knutschen verschwinden konnte – einfach weg, raus aus der Welt –, das war ihr ja so noch nie passiert!
23:18
»Sorry«, sagte Max. »Ich müsste mal aufs Klo.« Seine Haare waren verwuschelt.
»Rechts über die Galerie, zweite Tür«, sagte sie. »Aber geh leise an der Treppe vorbei, damit Lou dich nicht sieht.«
Von der Treppe konnte man nämlich genau auf die Sitzlandschaft unten im Wohnzimmer schauen. Sie warf einen Blick auf die Uhr, zwanzig nach elf. Der Film ging noch fast eine Dreiviertelstunde. Gut. Davon würde Lou schon keinen Schaden nehmen, es war ja wirklich eine absolute Ausnahme, dass er noch so spät gucken durfte. Max hatte die Tür einen Spalt offen gelassen, daher hörte sie von unten das Hypnoselied der Schlange Kaa:
Schlafe sanft, süß und fein,
will dein Schutzengel sein!
Sink nur in tiefen Schlummer,
schwebe dahin im Traum.
Langsam umgibt dich
Vergessen,
doch das spürst du kaum!
Josi liebte es, mit Lou, eng aneinandergekuschelt, den Film zu gucken und dann den ganzen Tag die Lieder im Ohr zu haben.
Aber jetzt wollte sie nichts anderes, als dass Max schnell zurückkam. Sie konnte es nicht mehr abwarten, an nichts anderes mehr denken, als ihn endlich ganz zu spüren. Sie zog ihre Jeans aus, den BH und ließ den Slip an. Der war einfach zu schön, um ihn auszuziehen. Sie schlüpfte ins Bett. Sie überlegte, ob sie die Vorhänge zuziehen sollte, aber ihr Fenster ging zum Garten raus.
»Und?«, sagte sie, als Max zurück ins Zimmer kam. Er hatte knallrote Wangen. »Ist mit Lou alles okay?«
»Ja, ja«, sagte er, sah, dass sie »oben ohne« im Bett lag. Er stand dort einen Moment wie benommen und rührte sich nicht.
»Komm«, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus. Er zog sich hastig die Jeans aus. Seine Boxershorts stand ab wie ein Zelt. Sie kicherte, er auch. Sie zeigte auf die Kondome, die sie eben auf den Nachttisch gelegt hatte.
»Heute habe ich auch welche dabei«, sagte er und schmunzelte. Dann schlüpfte er zu ihr unter die Decke.
Hinterher fühlte sie sich tatsächlich so, als läge sie mit Max auf einer Wolke, eng aneinandergeschmiegt, schwerelos dahinschwebend, seinen Herzschlag im Ohr, ruhig und regelmäßig, nach dem großen Sturm im Körper. Mein Gott, war das schön! Sie hatte es ja geahnt, dass es mit Max so schön werden könnte. Schon beim ersten Knutschen an der Krumme Lanke hatte sie es geahnt!
Er fuhr mit den Fingerspitzen über ihren Rücken. Der Druck war genau richtig, nicht zu stark und nicht so leicht, dass es kitzelte. Er war so zärtlich! Josi holte tief Luft und schluckte. Dann musste sie wohl eingenickt sein. Max lag neben ihr und schlief tief und fest. Sie lauschte – es regnete schon wieder –, sah auf die Uhr, Viertel nach eins. Der Film war längst zu Ende! Sie stand auf, zog sich an, küsste Max auf die Augen. Er wurde wach, blinzelte sie an, lächelte selig. Roch er nach Rauch?
»Ich geh runter«, sagte sie.
»Komme gleich nach«, sagte er.
Als sie oben an der Treppe war, hatte sie schon so ein komisches Gefühl. Sie sah Lou nicht. Bestimmt hatte er sich auf den Teppich gelegt. Sie konnte nicht über die Sofalehne schauen, lief die Treppe runter, aber auf dem Teppich war er nicht.