Gnade dir Gott!
2:11
Wie ein Hund lief sie hinter ihm her, den Flur entlang, durch den er sie vorhin geschleift hatte, zurück in den anderen Raum mit den Computern und der Küche. Jeder Schritt tat weh und sie konnte an nichts anderes denken, außer dass die Tür nicht abgeschlossen war und sie nicht ein einziges Mal versucht hatte, sie zu öffnen. Nur an der Außentür hatte sie gerüttelt wie verrückt. Wie konnte sie sich nur so von Robert überrumpeln lassen?
Ihr Magen knurrte und tat weh vor Hunger. Sie hatte das letzte Mal was mit Marina gegessen, heute Morgen – gestern Morgen? Es lag eine Ewigkeit zurück.
Im Computerraum roch es besser, frischer. Wahrscheinlich hatte er gelüftet. Wenn er schon frische Luft reinließ, dann würde er sie bestimmt gleich gehen lassen.
»Setz dich da hin«, sagte Robert freundlich und zeigte auf einen der Barhocker. Sie gehorchte.
»Robert, ich muss mit dir reden.«
Er schaute sie neugierig an.
»Dein Vermieter – also, der alte Mann … wo ist er?«
Sein Blick verfinsterte sich sofort. »Du bist also doch scharf auf ihn!« Seine Mundwinkel zuckten.
»Nein, natürlich nicht!« Sie schluckte.
»Lüg nicht!«, schrie er.
»Ich kenn ihn doch gar nicht!«, schrie sie zurück.
Robert riss die Kühlschranktür auf. »Also, wie viele Toasts willst du?« Er zeigte auf einen Stapel belegte Toasts, der den ganzen Platz im Kühlschrank einnahm, bis auf ein paar Flaschen, die im Gemüsefach lagen. »Du kannst drei haben oder sogar vier!«
So viele belegte Toasts hatte sie noch nie gesehen, nicht mal in einer Autobahnraststätte. Aus jeder Stulle lappten Käseränder. Zwischen ein paar Scheiben ganz links lag etwas Dickes, Unförmiges, aber sie konnte nicht erkennen, was.
»Ich … ich nehme einen.« Ihr wurde wieder schwindelig. Sie musste was essen, nicht nur wegen ihres leeren Magens, auch, um eine normale Situation herzustellen. Zusammen essen war eine normale Situation, eine friedliche Angelegenheit.
»Ich bin Vegetarier. Ich esse kein Fleisch«, sagte Robert und behielt sie im Auge. »Ich kann niemandem etwas zuleide tun. All die lieben Kälbchen und Lämmchen … Gottes Geschöpfe. Die darf man nicht essen!«
Er nahm einen Stapel Toasts heraus, legte sie neben den Toaster, den man seitlich aufklappen und die Käsestullen reinlegen konnte. Sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen, wie lange er schon Vegetarier war, obwohl es eine normale Frage wäre. Lieber nichts Falsches sagen, wobei man bei Robert nie wusste, was falsch war. Es lag immer an seiner Stimmung.
Über der Spüle kreisten Fliegen. Sie musste sich sehr beherrschen, Ruhe zu bewahren. Die Tür hatte er gleich hinter ihr wieder abgeschlossen, demonstrativ, und die Schlüssel in seine ausgeleierte Hosentasche gesteckt. Sie konnte das Klimpern bei jedem Schritt hören. Es gab nur einen Ausweg: die Fenster. Allerdings waren die Rollläden immer noch ganz heruntergelassen. Da kam sie so nicht raus, obwohl an dieser Seite vom Haus keine Gitter vor den Fenstern waren, wenn sie sich recht erinnerte. Sie fuhr mit dem Blick die Wände ab, konnte keine Sensoren, keine mechanischen Vorrichtungen entdecken, mit denen man diese verdammten Rollläden hochziehen konnte. Wann sollte sie das auch tun? Oder sollte sie ihn einfach um ein bisschen frische Luft bitten, ganz beiläufig, als würde es ihr gerade erst in den Sinn kommen?
Der Gestank, der aus dem Toaster kam, drehte ihr fast den Magen um: alter, verbrannter Käse. Sie würde nichts runterkriegen.
Wie spät es wohl war? Nirgendwo eine Uhr, nicht mal auf den Monitoren. Diese psychedelischen Bildschirmschoner machten sie verrückt, ganz zu schweigen von den Kreuzen an der Wand. Das mit dem gemarterten Jesus war am schlimmsten. Sie kam sich selbst vor, wie ans Kreuz genagelt. Noch kannst du Buße tun und wieder auf den rechten Weg kommen. Dafür musst du allerdings ein paar Lektionen lernen!
Wofür sollte sie büßen?
Was für Lektionen sollte sie lernen?
War Robert »nur« fanatisch religiös wie seine letzte Pflegefamilie oder war er wirklich krank, geisteskrank?
»Willst du Mayo oder Ketchup?« Er rückte sich die Kappe zurecht, dass der Schirm zur Seite stand wie ein verrenkter Schnabel. Jetzt konnte sie seine Augen sehen. Hellblau, ungetrübt, rein.
»Mayo, bitte«, sagte sie. Ihre Stimme klang ihr selber fremd. Robert drehte sich um und nahm eine riesige gelbe Plastikflasche von der Spüle und stellte sie vor sie auf die Küchentheke. Ein dunkelbrauner Toast, aus dem geschmolzener Käse tropfte, stand auch schon vor ihr. Allein vom Anblick wurde ihr kotzübel.
»Weißt du noch, wie wir uns früher immer Nudeln gekocht haben?«, fragte er. »Nudeln mit Tomatensoße. Und dann haben wir uns noch Mayo draufgetan.«
Sie nickte. Er hatte noch diese langen, dunklen Wimpern. Unter den Augen war die Haut faltig, rot, auch aufgedunsen von seiner Schuppenflechte. Robert biss gierig in seinen Toast. »Und dann haben wir Vater, Mutter, Kind gespielt. Die Giraffe war das Kind.«
Josi schluckte.
»Ich war ein guter Vater«, sagte Robert mit vollem Mund. »Ich habe für die Familie gearbeitet. Ich habe die Familie beschützt. Ich habe mich um mein Kind gekümmert!« Plötzlich warf er den letzten Bissen weg, sprang auf, ging zu einem Stapel Kartons an der Wand, stellte den obersten auf den Boden, durchwühlte den zweiten, zog etwas heraus und pfefferte es auf die Küchentheke. Die Mayonnaise-Flasche fiel um. Vor Josi lag Gina, ihre Giraffe. Ein Ohr fehlte, das Fell war abgeschabt, man konnte kaum noch die Musterung sehen. Das eine Vorderbein hatte einen Zickzackknick und der Schwanz war abgerissen. Josi starrte Gina an, als wäre sie eine dicke, behaarte Spinne. Robert kam zu ihr, setzte sich neben sie, rückte näher und berührte sie mit dem Ellenbogen.
»Na, erkennst du sie nicht mehr?«
»Doch.«
»Guten Tag.«
»Etwas netter, bitte!« Seine Stimme bohrte sich wie ein Korkenzieher in ihr Ohr.
»Guten Tag!«
»Kannst du sie nicht mit Namen ansprechen?«
»Guten Tag, Gina. – Und jetzt hör auf mit dem Scheiß, Robert!« Josi war aufgestanden. Ihre Fäuste waren geballt. Wenn er sich jetzt regte, würde sie ihm voll eine in die Fresse donnern!
Er fing an zu weinen. Wie auf Knopfdruck liefen Tränen aus seinen Augen. Er jammerte in hohem Ton, schluchzte wieder wie ein kleines Kind. Josi war wie gelähmt, die Fäuste immer noch geballt. Jetzt ganz ruhig bleiben, ihn bloß nicht reizen. Sie musste ihn klein halten.
Robert legte den Kopf in den Nacken, verschränkte die Arme vor seinem Gesicht und wimmerte: »Ich habe es getan; ich will euch heben und tragen und erretten.«
Dabei fiel im die Mütze vom Kopf. Josi erschrak. Er hatte kaum Haare! Nur ein feiner, schwarzer Schatten, wie von seinem Dreitagebart. – Dreitagebart, ging es ihr durch den Kopf. Vielleicht war der auch schon vier Tage alt? – Mittwoch – Dienstag – Montag – Sonntag, rechnete sie zurück. Oder auch schon fünf? – Samstag. Dann hätte er am Samstag eine Glatze gehabt. Wie schnell wuchsen Haare nach?
Robert fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf, als müsste er sich schützen.
»Ich muss mich rasieren«, sagte er. »Ich muss mich rasieren!«
Er drehte sich um und suchte etwas auf dem Tisch, wischte mit einer Handbewegung Blätter zur Seite und griff nach etwas. Josi nutzte die Sekunde und nahm den Teller weg. Der Toast flog auf den Boden. Sie hielt den Teller mit beiden Händen, bereit, ihn Robert auf den Kopf zu knallen, jetzt, wo er mit dem Rücken zu ihr stand, aber da richtete er sich auf und fuhr herum. Er hielt etwas in der Hand – ein Messer.
Sie umklammerte den Teller, als wollte sie sich daran festhalten. Ihr Körper stand unter Strom. Sie sah, dass es sich bei dem Messer um ein Rasiermesser handelte, so ein altes, mit aufklappbarer Klinge, wie sie es noch aus Schwarz-Weiß-Filmen kannte. Und aus Gruselfilmen. Robert sah sie an. Sein linker Mundwinkel zuckte. Er hielt den Holzgriff des Messers umklammert. Die Klinge stand schräg ab. Josi stellte den Teller ab. Sie wollte etwas sagen, ihm sagen, dass er das Messer weglegen soll, aber ihr Mund war so trocken, die Zunge klebte fest. Sie kriegte keinen Ton raus.
Robert ging in die Knie, ohne den Blick von ihr zu lassen.
»Du sollst nicht mit dem Essen spielen«, sagte er mit verstellter Stimme. Diesmal war sein Ton scharf und drohend. »Wie oft habe ich dir das gesagt? Zur Strafe kriegst du keinen neuen Toast.«
Er hob mit einer Hand den Toast auf, ging um die Küchentheke, stand Josi gegenüber, hob das Messer und fuhr sich damit über den Kopf. Wie die Klinge über seine Kopfhaut schabte, ließ Josi erschauern. Er schnappte sich die Mayonnaiseflasche und drückte sich einen dicken Klecks auf den Kopf. Mit der freien Hand verrieb er die Mayonnaise. Sie sah aus wie Rasiercreme, nur gelber und ohne Schaum. Er setzte das Rasiermesser an und schabte Streifen um Streifen von seinem Kopf, streifte das Messer an einem schmutzigen Küchenhandtuch ab. Josi war wie hypnotisiert von seinen Bewegungen, unfähig, sich zu rühren. Hatte sie eben noch Angst vor dem Messer gehabt, hatte sie nun Angst vor dem »alten« Mann, der vor ihr stand und seine Glatze mit dem zusammengeknüllten Handtuch trocken rieb.
Es roch säuerlich, nach Mayonnaise. Seine Glatze glänzte fettig. Er klappte das Messer zu, steckte es in die Hosentasche und strich sich mit einer Hand über den Kopf.
»Ich liebe es, meinen Kopf zu streicheln, wenn er glatt rasiert ist«, flüsterte er. »Er ist dann wie Babyhaut, zart und weich und unschuldig.« Dabei lächelte er, weich und unschuldig, wie der kleine Junge, der er mal gewesen war.
Es war wie ein Erwachen: Robert steckte nicht mit dem alten Mann unter einer Decke, er war der »alte« Mann.
Mit seiner schuppigen Haut unter den Augen, den rötlichen Falten und der Glatze sah er tatsächlich aus wie ein alter Mann – der Mann, bei dem Lou gewesen war!