Siebenundzwanzig
Laurel stand nicht zum ersten Mal am Waldrand, aber noch nie hatte es sich so angefühlt, als stünde sie am Rand einer Klippe. Sie versuchte, ruhig zu atmen, und rang sich dann endlich durch, in den Wald hinter dem Blockhaus zu gehen.
»Tamani?«, rief sie leise. »Tam?«
Sie ging immer weiter, obwohl sie wusste, dass es eigentlich nicht darauf ankam, ob sie ihn nun rief oder nicht. Er wusste, dass sie da war. So war es immer gewesen.
»Tamani?«, rief sie wieder.
»Tamani ist nicht da.«
Laurel hätte beinahe überrascht aufgeschrien. Sie drehte sich zu der tiefen Stimme um.
Da stand Shar.
Er sah sie unverwandt an. Seine Augen waren dunkelgrün, wie Tamanis, aber seine Haare waren dunkelblond und an den Wurzeln grün. Sie umrahmten sein ovales Gesicht und fielen ihm auf die Schultern.
»Wo ist er denn?«, fragte Laurel, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.
Shar zuckte die Achseln. »Du hast gesagt, er soll abhauen, das hat er getan.«
»Was meinst du damit?«
»Tamani steht nicht länger Wache am Tor. Er war vor allem deinetwegen hier und du bist nicht mehr da. Er hat eine neue Aufgabe übernommen.«
»Seit gestern?«, rief Laurel.
»Es kann sehr schnell gehen, wenn es sein muss.«
Laurel nickte. Eigentlich war sie zwar nur gekommen, um Tamani zu sagen, dass sie einander nicht mehr treffen sollten, aber sie wollte es ihm auch erklären. Es war ihr wichtig, dass er ihre Gründe kannte. So sollte es nicht zu Ende gehen. Die letzten Worte, die sie ihm ins Gesicht geschrien hatte, gingen ihr gellend durch den Kopf. Ihr Echo war verstörend deutlich. Ich will nur noch, dass du gehst! Ich meine es ernst! Verschwinde! So ernst hatte sie es nun auch nicht gemeint. Sie war wütend und verängstigt gewesen und David hatte direkt neben ihr gestanden. Laurel holte abgerissen Luft und massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen.
Jetzt war es zu spät.
»Was hast du denn da?«, fragte Shar und unterbrach ihre hektischen Gedanken.
Als er ihre Hand nahm, kam sie gar nicht darauf, sie wegzuziehen. Sie war völlig durcheinander und konnte nur daran denken, wie sehr sie Tamani verletzt haben musste.
Shar untersuchte die Pusteln. Dann sah er sie aus schmalen Augen an. »Das kommt vom Monastuolo-Serum. Hast du es benutzt?«
»Es passiert einfach zu viel auf einmal.« Laurel schüttelte den Kopf.
»Komm mit.« Shar zog an ihrer Hand und Laurel folgte ihm. Sie war zu verstört, um sich zu wehren.
Shar führte sie auf eine Lichtung und griff nach seinem Rucksack, der Tamanis sehr ähnlich sah. Es war schrecklich, ohne ihn hier zu sein. Alles erinnerte sie an ihn. Shar holte ein Fläschchen mit einer dickflüssigen bernsteinfarbenen Flüssigkeit hervor, legte ihre Hand auf seinen Schoß und träufelte sorgsam einen einzigen Tropfen der trüben Arznei darauf.
»Wenig hilft viel«, sagte Shar und verrieb das Wundermittel sanft auf den Pusteln. Sofort trat eine kühlende Wirkung ein, obwohl Shar die empfindlichen Stellen durch seine Berührung gereizt hatte. »Wenn ich fertig bin, halte die Hand unbedeckt möglichst viel in die Sonne.«
Laurel starrte ihn an. »Warum tust du das für mich?«, fragte sie. »Du kannst mich doch nicht ausstehen.«
Seufzend träufelte Shar noch einen Tropfen auf ihre Hand und verrieb ihn auf den restlichen Pusteln. »Das stimmt nicht. Ich kann es nur nicht leiden, wie du Tam behandelst.«
Laurel wandte den Blick ab, als er sie vorwurfsvoll ansah.
»Du bist sein Leben, Laurel, und das ist in diesem Fall keine bloße Redewendung. Er lebt jeden Tag seines Lebens nur für dich. Selbst als du nach Crescent City gezogen bist, hat er den ganzen Tag nichts anderes getan, als über dich zu reden, sich um dich zu sorgen und sich zu fragen, was passieren würde, wenn er dich wiedersähe. Obwohl ich irgendwann sagte, dass ich es nicht mehr hören konnte, wusste ich, dass er Tag und Nacht an dich dachte. Jede Sekunde.«
Laurel betrachtete angelegentlich ihre Pusteln.
»Und was machst du!« Shar wurde lauter. »Du merkst es noch nicht mal! Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass dir seine Existenz nur bewusst ist, wenn du zufällig mit ihm zusammen bist. Als würde sonst nichts zählen in seinem Leben, außer wenn er sich mit dir trifft.« Er hob den Blick und legte ihre Hand zurück in ihren eigenen Schoß. »Wusstest du, dass er im letzten Frühling seinen Vater verloren hat?«
»Ja.« Laurel nickte mitfühlend. Sie wollte das alles nicht so auf sich sitzen lassen. »Das hat er mir erzählt. Ich …«
»Da war es wirklich am schlimmsten«, fuhr Shar fort, ohne sie zu beachten. »So schlimm war es noch nie. Er war völlig am Ende. Aber er dachte, alles würde wieder gut werden, wenn du kommst. ›Im Mai‹, hat er immer wieder gesagt. ›Sie kommt im Mai.‹«
Laurel hatte ein dumpfes, leeres Gefühl in der Brust.
»Aber du bist nicht im Mai gekommen. Er hat jeden Tag auf dich gewartet, Laurel. Und als du Ende Juni endlich aufgetaucht bist, hat er dir schon in der Sekunde, in der er dich gesehen hat, verziehen – in diesem ersten Augenblick. Aber jedes Mal wenn du kommst und dann wieder gehst – zu deinem Menschenjungen –, erschütterst du ihn von Neuem.« Shar lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Ehrlich gesagt glaube ich, dass es dir egal ist.«
»Nein.« Laurels Stimme bebte im Überschwang der Gefühle. »Es ist mir überhaupt nicht egal.«
»Doch«, widersprach Shar. Er war immer noch ruhig und ausgeglichen. »Kann sein, dass du glaubst, er würde dir etwas bedeuten, aber wenn das wirklich so wäre, würdest du dich nicht so verhalten. Dann würdest du aufhören, ihn wie ein Spielzeug zu behandeln.«
Laurel schwieg. Dann stand sie ruckartig auf und ging.
»Wahrscheinlich wolltest du ihn um Verzeihung bitten und ihm richtig schön Hoffnung machen, bevor du zu deinem kleinen Menschenjungen zurückgehst«, rief Shar ihr nach, ehe sie außer Sichtweite war.
»Wenn du es genau wissen willst«, sagte Laurel, die langsam wütend wurde, »bin ich gekommen, um ihm zu sagen, dass ich dieses Leben zwischen zwei Welten beenden will. Ich wollte ihm sagen, dass ich in der Menschenwelt und er in der Elfenwelt bleiben muss.« Sie versuchte, ruhig zu atmen und ihren Zorn im Zaum zu halten. »Aber du hast recht«, sagte sie ruhiger. »Es ist nicht fair, immer in sein Leben hinein und wieder hinaus zu schweben. Also … muss das aufhören.«
Shar starrte sie schweigend an, aber dann entdeckte sie den Anflug eines Lächelns. »Laurel, das ist die beste Entscheidung, die du je getroffen hast.« Er beugte sich ein wenig vor. »Und wer sollte das besser wissen als ich, der ich dich kenne, seit du sooo klein warst?«
Laurel verzog das Gesicht. Na, herzlichen Dank, großer Bruder.
»Jetzt aber zu den Pusteln! Wo hast du die her?« Shar stand auf und verschränkte streng die Arme.
Laurel verdrehte die Augen und wandte sich wieder zum Gehen.
»Das ist kein Spiel, Laurel.« Shar packte unsanft ihr Handgelenk. »Es gibt nur einen Grund, das Monastuolo-Serum anzuwenden, und bestimmt nicht zum Spaß.«
Laurel funkelte ihn an. »Ich hatte gewisse Schwierigkeiten«, erklärte sie kurz angebunden. »Die ich auf meine Weise geregelt habe.«
»Geregelt?«
»Ja, ich bin schließlich nicht ganz wehrlos, wie du vielleicht weißt.«
»Wirst du mir jetzt erzählen, was passiert ist, oder nicht?«
»Das Problem hat sich erledigt, fertig, aus.« Sie wollte sich losreißen.
»Hast du mich nicht verstanden, Laurel? Das ist kein Spiel, habe ich gesagt. Oder glaubst du das?« Shar warf ihr einen harten, wütenden Blick zu. »Hältst du das Ganze für eine Art Wettbewerb zwischen dir und den Orks? Ich hege nämlich den Verdacht, dass es sich bei deinem kleinen ›Problem‹ um denselben Ork handelt, der im letzten Jahr hinter dir her war. Derselbe, der weiß, dass sich das Tor auf diesem Grundstück befindet. Jener Ork, der dich und alle Elfen im Reich umbringen würde, ohne mit der Wimper zu zucken, nur um nach Avalon zu gelangen. Dein kleines Problem, Laurel, bedroht unser aller Leben!«
Sie riss sich los und verschränkte schweigend die Arme.
»Ich habe eine Tochter, hast du das gewusst? Ein kleines, zweijähriges Mädchen, kaum mehr als ein Setzling. Ich würde ihr gern noch weitere hundert Jahre als Vater beistehen, wenn du nichts dagegen hast. Aber die Chancen sinken dramatisch, weil du dir diese blöde tierische Flause in den Kopf gesetzt hast, alles allein regeln zu wollen. Und jetzt frage ich dich zum letzten Mal, Laurel: Was ist passiert?«
Er hatte seine Stimme nicht erhoben, aber in Laurels Ohren dröhnten seine Worte, als hätte er sie angebrüllt. Sie konnte es nicht mehr ertragen und schlug die Hände vors Gesicht. Doch sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie hatte alles vermasselt. Sie hatte alle enttäuscht, die ihr etwas bedeuteten. Sogar Shar.
Als Shar mit scharfer Stimme etwas flüsterte, das sie nicht verstand, hob sie ängstlich den Kopf und sah forschend in den Wald. Er hatte offenbar nicht mit ihr gesprochen. Doch sie konnte niemanden entdecken und Shar konzentrierte sich wieder auf sie.
Laurel nickte wie betäubt. »In Ordnung«, sagte sie leise. »Ich erzähle es dir.«
Shar sah Laurel nach, als sie von der Lichtung zu ihrem Auto ging
und davonfuhr, nachdem sie ihm ihre neuerliche Begegnung mit Barnes
geschildert hatte. Sie hatte all seine Fragen beantwortet.
Jedenfalls die, auf die sie eine Antwort hatte.
Shar wartete still an den Baum gelehnt, bis ihr Wagen, der entnervend grell blinkte, um die Ecke gebogen war.
»Du kannst jetzt rauskommen, Tam«, sagte er schließlich.
Tamani trat hinter einem Baum hervor und verfolgte wie gebannt Laurels Wagen.
»Danke, dass du dich nicht gezeigt hast – obwohl du es ja beinahe doch getan hättest«, sagte Shar trocken.
Tamani zuckte nur die Achseln.
»Wenn du dabei gewesen wärst, hätte sie mir nicht so viel erzählt. Es war wichtig, dass sie dachte, du wärst weg. Jetzt hat sie endlich richtig ausgepackt.«
»Du hast ihr ja auch keine andere Wahl gelassen«, sagte Tamani ausdruckslos. »So wie du sie verhört hast.« Er schwieg einen Augenblick. »Du bist ganz schön hart mit ihr umgesprungen, Shar.«
»Also, wirklich, Tam. Du hast schon des Öfteren miterlebt, wie ich hart zu jemandem war. So schlimm war es wirklich nicht.«
»Ja, aber …«
»Ich musste es ihr sagen, Tamani«, sagte Shar in scharfem Ton. »Sie mag in deine Zuständigkeit fallen, aber für das Tor bin ich verantwortlich. Sie muss wissen, wie ernst die Lage ist.«
Tamani biss die Zähne zusammen, sagte aber nichts.
»Es tut mir leid, dass ich sie zum Weinen gebracht habe«, gestand Shar.
»Wir sind uns also weiterhin einig, was als Nächstes getan werden muss?«
Shar nickte.
Tamani lächelte.
»Das wird Monate dauern, Tamani. Du hast eine große Aufgabe vor dir.«
»Ich weiß.«
»Und sie ist gekommen, um von dir Abschied zu nehmen.«
»Ich weiß«, wiederholte er leise. Er drehte sich um und sah Shar an. »Aber du wirst auf sie aufpassen, nicht wahr? Du sorgst für ihre Sicherheit?«
»Das verspreche ich dir.« Shar machte eine Pause. »Ich werde noch mehr Wachtposten zu ihrem Haus beordern. Wenn Barnes gestern Nacht eine ganze Truppe dort weglocken konnte, dann sind es nicht genug. Ich werde dafür sorgen, dass beim nächsten Mal genügend Wachen da sind.«
»Du bist sicher, dass es ein nächstes Mal geben wird?«
Shar nickte. »Ganz sicher. Barnes war nur ein Zweig, möglicherweise ein Ast, aber Unkraut wie er wächst von den Wurzeln hoch. Es macht mich nicht gerade stolz, wenn ich mir vorstelle, was wir alles nicht mitkriegen.« Er warf Tamani einen flüchtigen Blick zu. »Wenn ich mir nicht so sicher wäre, würde ich dir das Ganze gar nicht erlauben.«
Sie sahen auf den Weg, der zu dem verlassenen Blockhaus mit dem überwucherten Garten und dem verfallenden Mauerwerk führte.
»Bist du bereit?«, fragte Shar.
»Oh ja.« Tamani grinste über beide Ohren. »Und wie!«