Elf
In der zweiten Schulwoche machte Laurel sich mit David auf den Weg zu Marks Bücherregal. Sie gingen Hand in Hand und ihre Arme schwangen locker in der letzten warmen Sommerbrise. Er gab ihr noch einen Kuss, ehe er sich von ihr löste, um in der Apotheke auszuhelfen. Als Laurel die Tür der Buchhandlung öffnete, wurde sie von einem fröhlichen Klangspiel begrüßt.
Maddie schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Laurel«, sagte sie begeistert, wie jedes Mal, wenn sie sich begegneten. Laurel freute sich über diese Konstante in ihrem Leben. Was auch immer mit ihren Eltern geschah, oder mit Orks oder Avalon, auf Maddie war Verlass. Sie würde sie hinter der Verkaufstheke immer mit einem Lächeln und einer Umarmung empfangen.
Laurel lachte, als Maddie sie fest an sich drückte. »Wo ist denn Dad?«, fragte sie und sah sich um.
»Hinten«, antwortete Maddie. »Er prüft den Bestand.«
»Wie immer«, sagte Laurel und ging auf die Schwingtür zu, die in den hinteren Teil des Geschäfts führte.
»Hallo, Dad«, sagte sie lächelnd, als er zu ihr aufblickte. Obwohl sie es selbst nicht für nötig hielt, hatte sie ihn sorgsam beobachtet. Er war erst am nächsten Morgen um acht Uhr aus seinem Armleuchteralgenschlaf erwacht, doch außer einem steifen Nacken hatte er anscheinend keinen Schaden davongetragen. Ihre Mutter hatte geschimpft, weil er zu viel arbeitete und dann auch noch zu lange aufblieb. Zum Glück hatte sie keinen Verdacht geschöpft. Dennoch hielt Laurel sich aus dem Essen ihrer Eltern seitdem raus. Sie ging lieber auf Nummer sicher.
Sie setzte sich auf einen Stuhl neben dem Computer und strich über einen kleinen Bücherstapel.
»Wie war es in der Schule?«, fragte ihr Vater.
»Gut.« Sie grinste. »Einfach.« Nach Avalon kam ihr alles sehr leicht vor. Sieben Stunden Schule am Tag? Kein Problem. Ein oder zwei Stunden für Hausaufgaben? Nicht der Rede wert. Der Ausflug nach Avalon hatte Laurels Einstellung zur Menschenschule deutlich verbessert. Nur schade, dass es nicht mehr Oberlichter gab.
»Soll ich dir vielleicht ein bisschen helfen?«, fragte sie und sah sich im Lager um.
»Musst du nicht«, antwortete ihr Vater, stand auf und streckte sich. »Heute kümmere ich mich um den Papierkram. Da hat sich ganz schön was angesammelt.« Er sah aus dem kleinen Fenster hinter dem Schreibtisch. »Was für ein herrlicher Tag. Anscheinend gehen die Leute lieber raus, als sich in einem langweiligen alten Buchladen was zu lesen zu kaufen.«
»Dein Geschäft ist doch nicht langweilig«, widersprach Laurel lachend. »Glaubst du, Mom könnte meine Hilfe gebrauchen?«, fragte sie nach kurzem Zögern.
Er warf ihr einen Blick zu und fragte beiläufig: »Brauchst du Geld?«
Laurel schüttelte den Kopf. »Nein, ich dachte … ich dachte nur, vielleicht … würde uns das helfen, gegen diese Spannung. Kann ja sein, wir erwarten beide, dass der andere etwas tut«, sagte sie leise.
Ihr Vater hörte auf zu tippen und ließ die Hände über der Tastatur schweben. Dann nahm er die Brille ab, ging um seinen Schreibtisch herum und umarmte sie. »Super, diese Eigeninitiative«, sagte er. »Ich bin stolz auf dich.«
»Danke.« Laurel setzte ihren Rucksack auf und winkte ihm noch mal zu, ehe sie wieder nach vorne ins Geschäft ging. Sie holte tief Luft und verbot sich, noch länger zu trödeln, ehe sie nach nebenan zu Mutter Natur ging. Seit sie aus Avalon zurück war, hatte Laurel ihre Mutter dort erst ein paar Mal besucht, aber jedes Mal war ihr die Liebe zum Detail aufgefallen, mit der ihre Mutter die Ware ausstellte. Als sie die Tür öffnete, wurde sie nicht mit einem Klangspiel begrüßt, sondern die Ecke der Tür berührte ein Silberglöckchen, das leise klimperte. Auf den Fensterbänken standen Blumentöpfe mit Kräutern, und in einer Ecke hatte ihre Mutter einen kleinen Zen-Garten angelegt, in dem ein Zimmerbrunnen plätscherte. Im Fenster hingen sogar funkelnde Kristallprismen, und Laurel hielt kurz inne, um eines von ihnen zu berühren. Sie freute sich, dass ihre Mutter sich diese Dekorationsidee von ihrem Zimmer abgeschaut hatte. Trotz der derzeitigen Spannungen würde Laurel in diesem Laden sogar noch lieber arbeiten als in der Buchhandlung. Und das wollte etwas heißen.
Sie drehte sich um, als ihre Mutter von hinten durch einen Perlenvorhang trat. Sie war ein wenig rot im Gesicht und außer Atem, weil sie einen schweren Karton trug. »Ach, Laurel, du bist es. Gut, dann kann ich mal eine Pause einlegen.« Sie setzte den Karton mitten im Laden auf dem Fußboden ab und wischte sich über die Stirn. »Man könnte wirklich meinen, dass sie das Zeug in kleineren Kartons verschicken würden. Was möchtest du denn haben?« Laurels Mutter bückte sich und schob den Karton weiter über den Boden, statt ihn wieder aufzuheben.
»Ich wollte fragen, ob ich dir irgendwie helfen kann. Nebenan ist nicht viel los«, sagte sie und wünschte sofort, sie hätte das nicht gesagt. Ihre Mutter sollte nicht denken, dass sie nur zweite Wahl war.
»Oh.« Laurels Mutter lächelte so freundlich, dass es zumindest echt aussah. »Das wäre klasse. Ich fülle heute das Lager auf und kann eine helfende Hand gut gebrauchen. « Sie lachte. »Dein Vater hat seine Angestellten, so weit bin ich noch nicht.«
»Schön«, sagte Laurel und setzte den Rucksack ab. Ihre Mutter erklärte ihr, was die neue Lieferung enthielt, und das meiste kam Laurel durch das lange Zusammenleben mit einer Heilpraktikerin bekannt vor. Dann erklärte sie ihr das Etikettensystem, damit Laurel die Flaschen und Dosen richtig einsortieren konnte.
»Ich kümmere mich hinten um die Rechnung und bereite meine Bestellung für die nächste Woche vor, ja? Ruf mich einfach, wenn du Hilfe brauchst.«
»Mache ich«, sagte Laurel lächelnd. Ihre Mutter lächelte zurück. So weit, so gut.
Laurel staunte, wie viele Bestandteile der Kräuterarzneien sie nach ihrem intensiven Studium im Sommer wiedererkannte. Die Karteikarten hatten tatsächlich etwas genützt. Während Laurel die Ware aus den Kartons nahm und ins Regal stellte, ging sie im Kopf noch mal durch, wozu sie gut waren. Beinwell, als Öl gut gegen Entzündungen und Unkrautvernichtung, auch für die Augen bei nachlassender Sehkraft. Winterbohnenkraut für einen klaren Verstand und gegen Schlaflosigkeit. Überdies gut für Koi als Zugabe zum Wasser. Fördert die Sauerstoffbindung. Himbeerblättertee für Setzlinge, die das Essen verweigern. Mit viel Zucker mischen, um den Nährstoffgehalt zu erhöhen. Schenkt Energie, wenn man abends lange aufbleiben muss.
Laurel hatte am meisten Freude daran, die homöopathischen Medikamente einzusortieren, die auch Elfen gefahrlos einnehmen konnten, weil sie normalerweise in Zucker verabreicht wurden. Allerdings bewirkten sie bei Elfen meist das Gegenteil dessen, wofür es Menschen verordnet wurde. Ignatiusbohne nahmen Menschen zum Beispiel gegen Traurigkeit, während es auf Elfen beruhigend wirkte. Bryonia alba wurde Menschen als Mittel zur Fiebersenkung verschrieben, nützte den Elfen jedoch vor allem gegen extremes Frieren. Tamani hatte ihr erzählt, dass die Wachtposten, die das Tor in Japan beschützten, in den Wintermonaten täglich kalten Bryonia-Tee tranken, denn im Gebirge konnte es zu dieser Jahreszeit empfindlich kalt werden.
Der Gedanke an Tamani lenkte Laurel eine Weile ab. Dabei hielt sie noch immer ein Fläschchen mit Natrium muriaticum umklammert, als ihre Mutter in den Verkaufsraum schlenderte und sie aus ihren Gedanken riss.
»Alles in Ordnung, Laurel?«
»Was? Oh ja«, murmelte sie und blickte zu ihrer Mutter auf, ehe sie sich wieder bückte, um weitere Fläschchen aus einem kleinen Karton zu nehmen. »Ich war nur in Gedanken.«
»Okay«, sagte ihre Mutter und sah sie ein wenig seltsam an. Sie drehte sich um, blieb dann aber wieder stehen. »Danke, dass du mir hilfst«, sagte sie. »Das ist wirklich nett von dir.« Sie legte Laurel einen Arm um die Schultern und drückte sie von der Seite an sich. Es war eine sonderbare Umarmung, wie wenn man jemandem lieber die Hand schütteln würde. Eine Art Verpflichtung.
Als das Telefon klingelte, beobachtete Laurel mit einer hohlen Sehnsucht, wie ihre Mutter zur Kasse ging. Es ist nicht schön, jemanden zu vermissen, der direkt vor einem steht. Doch genauso ging es ihr. Laurel vermisste ihre Mutter.
»Entschuldigung«, sagte jemand hinter ihr.
Als Laurel sich umdrehte, stand sie vor einer älteren Frau, die sie nur vom Sehen kannte. »Ja?«
»Können Sie mir helfen?«
Laurel sah zu ihrer Mutter, die noch immer telefonierte. Dann wandte sie sich wieder der Kundin zu. »Ich will es gerne versuchen«, sagte sie lächelnd.
»Ich brauche etwas gegen Kopfschmerzen. Bisher habe ich immer Aspirin genommen, aber das hilft nicht mehr so gut. Ich glaube, mein Körper hat sich daran gewöhnt.«
»Das kann passieren.« Laurel nickte mitfühlend.
»Deshalb hätte ich gerne etwas Natürlicheres. Aber es muss auch helfen«, fügte sie hinzu.
Laurel versuchte, sich an etwas Bestimmtes zu erinnern, was sie eben ins Regal geräumt hatte. Sie hatte das Fläschchen kurz in der Hand gehalten, weil sie überlegt hatte, etwas davon zu nehmen. In den letzten anstrengenden Monaten hatte Laurel selbst oft Kopfschmerzen gehabt. Sie ging an ein anderes Regal und fand das passende Medikament. »Hier, bitte«, sagte sie zu der Frau. »Es ist zwar ein bisschen teurer«, sie zeigte auf das Preisschild, »aber es lohnt sich. Ich werde es wahrscheinlich selbst gleich nehmen. Jedenfalls ist es sehr viel besser als Aspirin.«
Die Kundin lächelte. »Danke. Ein Versuch kann sicher nicht schaden.«
Während sie zur Kasse ging, sortierte Laurel weiter die homöopathischen Medikamente. Kurz darauf führte Laurels Mutter die Frau zu Laurels Auslage und griff nach einem bösen Blick zu Laurel nach einem grünen Fläschchen. »Das wird Ihnen sehr viel besser helfen«, sagte sie. »Es enthält Cyclamen, also Alpenveilchen, und ich habe es meinem Mann über Jahre gegen seine Migräne gegeben. Es wirkt einfach traumhaft.« Auf dem Weg zur Kasse erklärte sie der Kundin, wie sie die homöopathischen Kügelchen einnehmen sollte.
Als die Kundin das Geschäft verlassen hatte, winkte Laurels Mutter ihr noch kurz nach, ehe sie zu Laurel ging. »Laurel«, sagte sie, und Laurel konnte genau hören, wie ihre Mutter sich bemühte, ihren Zorn im Zaum zu halten. »Wenn du nicht weißt, was du den Kunden empfehlen sollst, frag mich bitte. Es hat keinen Sinn, einfach irgendwas aus dem Regal zu nehmen. Ich wünschte, du hättest gewartet, bis ich zu Ende telefoniert hatte. Diese Menschen suchen Rat und all diese Kräuter haben eine unterschiedliche Wirkung.«
Laurel fühlte sich wie ein Kind, das von einem Erwachsenen gescholten wurde, der ihre kindlichen Gefühle nicht verletzen wollte. »Ich hole nicht einfach irgendwas aus dem Regal«, protestierte sie. »Das Zeug hilft wirklich gegen Kopfschmerzen. Ich habe es ihr mit Absicht gegeben.«
»Ach ja?«, fragte ihre Mutter pikiert. »Komischerweise glaube ich nicht, dass es sich um solche Kopfschmerzen handelt.«
»Was?«
»Pausinystalia johimbe? Weißt du überhaupt, wofür Pausinystalia johimbe verkauft wird? Das ist ein Potenzmittel für Männer.«
»Iih, wie eklig!«, rief Laurel, angewidert von der Vorstellung, dass sie das Mittel beinahe selbst genommen hätte. Sie wusste, dass die meisten Kräuter auf Elfen anders wirkten, aber das hier war einfach völlig verkehrt.
»Genau. Ich habe es nur vorrätig, weil mich letzte Woche jemand gebeten hat, es zu bestellen. Das wollte ich über meinen siebenundsechzig Jahre alten Bankberater gar nicht wissen«, sagte ihre Mutter.
»Es tut mir leid«, sagte Laurel aufrichtig. »Das wusste ich nicht.«
»Das habe ich auch gar nicht erwartet. Das ist schließlich meine Aufgabe. Ich freue mich wirklich, dass du mir helfen willst, Laurel, aber es nutzt gar nichts, wenn du Sexpillen gegen Kopfschmerzen verkaufst. Du musst mich um Rat fragen, wenn du unsicher bist. Man kann Menschen mit den falschen Kräutern sogar töten, je nach Gesundheitszustand. Bitte denk beim nächsten Mal ein bisschen nach.«
»Ich habe nachgedacht«, erwiderte Laurel, verärgert über den Vortrag ihrer Mutter. »Ich vergesse manchmal, dass Kräuter auf Menschen nicht genauso wirken wie auf das Elfenvolk. Das war doch nur ein kleines Missgeschick.«
»Nicht jetzt, bitte, Laurel.« Ihre Mutter wollte wieder nach hinten gehen.
»Und warum nicht jetzt?« Laurel schlug die Hände auf die Verkaufstheke. »Wann denn dann? Zu Hause? Da willst du doch auch nicht darüber reden, dass ich eine Elfe bin.«
»Nicht in diesem Ton, Laurel«, sagte ihre Mutter streng – ein klares Anzeichen dafür, dass sie sich bremsen sollte.
»Ich will doch nur reden, Mom. Das ist alles. Ich weiß auch, dass dies nicht der beste Ort dafür ist, aber ich halte es langsam nicht mehr aus. Früher waren wir Freundinnen. Und jetzt willst du mit meinem Leben als Elfe nichts zu tun haben. Du siehst mich nicht einmal mehr an! Dein Blick geht immer haarscharf an mir vorbei. Und das schon seit Monaten!« Ihr kamen die Tränen. »Wann gewöhnst du dich endlich an mich?«
»Das ist lächerlich, Laurel«, antwortete ihre Mutter und sah ihr wie zum Beweis des Gegenteils in die Augen.
»Ach ja?«
Als ihre Mutter ihrem Blick einige Sekunden standhielt, meinte Laurel, eine Veränderung wahrzunehmen. Einen kurzen Augenblick lang glaubte sie, ihre Mutter würde ernsthaft mit ihr reden. Doch dann blinzelte sie, räusperte sich und es war vorbei. Ihre Mutter senkte den Blick und sortierte die Quittungen an der Kasse. »Ich kann die restlichen homöopathischen Mittel auch später einräumen«, sagte sie leise. »Du kannst gehen.«
Laurel hatte das Gefühl, eine Ohrfeige bekommen zu haben. Sie blieb still stehen, wie betäubt. Ihre Mutter schickte sie weg. Nach einigen hastigen Atemzügen drehte sie sich um und öffnete die Tür. Wie zum Hohn klimperte fröhlich das Silberglöckchen.
Als sie draußen stand, schlug ihr starker Wind entgegen, aber Laurel wusste nicht, wohin mit sich. David arbeitete, Chelsea war beim Cross-Country-Training. Am liebsten hätte sie sich ihrem Vater anvertraut, und sie hatte auch schon nebenan die Hand auf die Klinke gelegt, als sie zögerte. Es war nicht fair, ihre Eltern gegeneinander auszuspielen und sich bei dem einen über den anderen auszuheulen. Sie trat einen Schritt beiseite hinter ein großes Poster mit der Ankündigung des neuesten Nora-Roberts-Romans und beobachtete, wie ihr Vater und Maddie einem Kunden mit einem gewaltigen Bücherstapel behilflich waren. Der Mann sagte etwas, das Laurel nicht verstand, und ihr Vater legte den Kopf in den Nacken und lachte, während er die Bücher einpackte. Maddie stand lächelnd daneben.
Nach einem letzten Blick auf ihren Vater wandte Laurel sich ab und ging zurück in ihr leeres Haus.