Sechs

Am nächsten Morgen betrachtete Laurel sich im Spiegel und fragte sich, wie ein »Lehrmädchen« eigentlich auszusehen hatte. Seit dem Fiasko beim ersten Abendessen in Avalon tat sie sich mit der passenden Kleidung schwer, und wenn sie die anderen fragte, erhielt sie selten mehr als ein Lächeln zur Antwort – gefolgt von der Ermunterung, einfach anzuziehen, »worin du dich wohl fühlst«. Prüfend musterte sie ihren Pferdeschwanz, löste das Band und ließ die Haare auf die Schultern fallen. Als sie sie wieder zusammenbinden wollte, klopfte es. Vor der Tür stand Katya und lächelte sie an.

»Ich dachte, ich komme und zeige dir an deinem ersten Tag den Weg zu deiner Klasse.«

»Super«, sagte Laurel erleichtert. Katya trug einen langen wallenden Rock und ein ärmelloses Top mit rundem Ausschnitt. Laurel hatte sich für ein wadenlanges Sommerkleid aus einem leichten Stoff entschieden, der beim Gehen raschelte und von der kleinsten Brise angehoben wurde. Sie fand, dass sie nicht viel anders als Katya aussah und hoffentlich nicht unangenehm auffallen würde.

»Also – bist du fertig?«

»Jep – nur noch meine Tasche.« Sie warf den Rucksack über die Schulter – was ihr einen Seitenblick von Katya eintrug. Mit dem dicken schwarzen Reißverschluss und dem Nylongewebe – ganz zu schweigen von dem »Transformers«-Aufkleber, den ihr David vor einigen Monaten zum Spaß aufgebügelt hatte – bildete er einen ziemlichen Kontrast zu Katyas Leinentasche. Aber Laurel hatte nichts anderes, worin sie ihre Karteikarten verstauen konnte. Außerdem empfand sie es als kleinen Trost, ihren alten, gewohnten Rucksack mitzunehmen.

Von Laurels Zimmer aus erreichten sie nach einigen Abzweigungen einen langen Gang mit Zuckerglasfenstern auf beiden Seiten, die das Sonnenlicht reflektierten und das Spiegelbild der Mädchen an die gegenüberliegende Scheibe warfen. Laurel prüfte darin im Vorbeigehen ihr Erscheinungsbild und verlor für einen Moment die Orientierung, wer von ihnen beiden wer war. Katya war ungefähr so groß wie sie und hatte ebenfalls blonde Haare – nur waren sie kurz geschnitten und kringelten sich niedlich um ihren Kopf herum. Die meisten anderen Elfen färbten sich Haare und Augen, indem sie besondere Sachen aßen. Es gab weitaus mehr rot-, grün-und blauhaarige Elfen in der Klasse als blonde und brünette. Eine interessante Mode, fand Laurel – die sie unter anderen Umständen vielleicht mitgemacht hätte. Doch bisher hatte sie genug damit zu tun, nicht gegen die Feinheiten der inoffiziellen Kleiderordnung zu verstoßen.

Schließlich blieben sie vor einer Reihe von Flügeltüren stehen. Es duftete nach fruchtbarer feuchter Erde. »Heute sind wir hier«, sagte Katya. »Wir treffen uns immer woanders, je nachdem, woran wir arbeiten. Die Hälfte der Zeit verbringen wir hier drin.« Als sie die Tür öffnete, wurden sie von lautem Geschnatter begrüßt.

Der Raum war anders als alle Klassenräume, die Laurel bisher gesehen hatte. Normalerweise hätte sie ihn als Gewächshaus bezeichnet. Blumentöpfe mit den unterschiedlichsten Pflanzenarten standen an den Wänden und die Fenster reichten vom Boden bis zur Decke. In das Spitzdach waren Oberlichter eingelassen und der ganze Raum war tropisch feucht und warm. Laurel war froh über den leichten Stoff ihres Kleides und verstand sofort, warum in ihrem Schrank so viele von der Sorte hingen.

Es gab keine Pulte, aber in der Mitte stand ein langer Tisch voller Gerätschaften. David wäre begeistert gewesen: Messbecher, Phiolen, Pipetten und Objektträger, dazu mehrere Instrumente, die aussahen wie Mikroskope – und Reihen über Reihen von Flaschen mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten.

Aber nicht ein einziger Arbeitstisch. Seltsamerweise war Laurel erleichtert – es erinnerte sie ein bisschen an die Zeit ihres Unterrichts zu Hause.

Die Elfen selbst machten Laurel leicht nervös. Das Stimmengewirr wurde durch die vielen Gewächse nur leicht gedämpft. Rund hundert Elfen wuselten hier herum. Sie hatten sich vor einzelnen Pflanzkästen versammelt oder standen in Grüppchen zusammen und redeten. Aurora hatte ihr erklärt, dass Lehrlinge zwischen fünfzehn und vierzig Jahre alt sein konnten – je nach Talent und Lerneifer. Laurel erkannte so gut wie niemanden wieder – vielleicht das eine oder andere Gesicht aus dem Speisesaal. Damit war sie deutlich im Nachteil, denn sie war sicher, dass die meisten sie von früher kannten – vielmehr jemanden, an den sie selbst sich nicht mehr erinnerte.

Als Laurel wie angewurzelt mit nackten Füßen auf dem klammen Steinfußboden stehen blieb, winkte Katya einer Elfengruppe zu, die sich um eine Art Granatapfelbaum versammelt hatte. »Es wird noch ein paar Minuten dauern, bis die Lehrer kommen«, sagte sie. »Wenn du nichts dagegen hast, will ich vorher noch kurz nach meinem Birnbaum schauen.«

Laurel schüttelte den Kopf. Was sollte ich dagegen haben? Ich wüsste nicht, was ich hier sonst tun könnte.

Katya ging zu einem Pflanzkasten mit einem Laubbäumchen darin und zog ein Notizbuch aus der Tasche.

Birne, wiederholte Laurel automatisch, Heilpflanze, neutralisiert die meisten Gifte. Der Saft ihrer Blüten schützt vor Austrocknung. »Was machst du damit?«, fragte sie.

»Ich versuche, ihn schneller wachsen zu lassen.« Katya drückte verschiedene Punkte auf dem Stamm des jungen Schösslings. »Der Trank gehört zur Grundausbildung, aber ich habe den Bogen noch nicht ganz raus.« Sie griff nach einer Phiole mit einer dunkelgrünen Flüssigkeit und hielt sie gegen die Sonne. »Wenn du etwas gegen kleine Wehwehchen brauchst, bin ich die Mixerin.«

Laurel blinzelte verwirrt, als Katya das so freimütig dahersagte. Tamani hatte ihr erklärt, nur Frühlingselfen benutzten diesen Spitznamen – außerdem war er wohl nicht sehr nett. Katya dachte offenbar anders darüber. »Aber bereits vorhandene Vorgänge etwas zu beschleunigen, bereitet mir Kopfzerbrechen«, sagte sie noch, ohne Laurels Reaktion zu bemerken.

Laurel schaute sich um. Einige Elfen begegneten ihrem Blick, manche wendeten sich ab, andere lächelten ihr zu – und nur wenige starrten sie unverwandt an, bis Laurel ihrerseits den Blick weiterwandern ließ. Als sie die violetten Augen einer großen Elfe mit glattem dunklem Pony streifte, fühlte sie sich von ihren wütenden Blicken regelrecht aufgespießt. Die Elfe warf stolz ihre langen Haare über die Schulter und drehte Laurel betont den Rücken zu, statt einfach nur wegzusehen.

»Hey, Katya«, flüsterte Laurel. »Wer ist das?«

»Wer?«

»Da drüben. Lange dunkle Haare. Violette Augen und Haarwurzeln.«

Katya schaute auf die andere Seite des Raums. »Ach so – das ist Mara. Hat sie dich merkwürdig angeguckt? Ignoriere sie einfach. Sie hat was gegen dich.«

»Gegen mich?« Laurel schrie fast. »Sie kennt mich nicht mal!«

Katya biss sich auf die Lippe und zögerte einen Moment. »Hör zu«, sagte sie dann ruhig. »Niemand hier möchte darüber reden, wie viel du vergessen hast. Wir üben alle Erinnerungszauber«, fügte sie schnell hinzu, bevor Laurel sie unterbrechen konnte. »Das lernen wir schon als Anfänger. Meinen ersten habe ich mit zehn gemacht. Aber die sind nur für Menschen und Orks – also für Tiere. Bei Elfen wirkt er anders.«

»Ist das so ähnlich wie mit den Lockungen, gegen die wir immun sind?«

»So kann man das nicht sagen. Wenn Elfen immun gegen Herbstzauber wären, könnten wir ihn nicht zu unserem eigenen Wohl nutzen. Aber Mischungen, die für Tiere gedacht sind, wirken auf Pflanzen anders – und niemand, der sie noch alle beisammenhat, würde einen Zaubertrank herstellen, um das Gedächtnis einer anderen Elfe auszulöschen, oder? Natürlich haben Herbstelfen früher auch Elfenzauber studiert – lange bevor ich gekeimt bin. Aber da gab es eine, die … «, Katya flüsterte jetzt beinahe, »… die zu weit gegangen ist. Deshalb wird heute strengstens davon abgeraten. Du brauchst eine Sondergenehmigung, um auch nur Bücher darüber lesen zu dürfen. Außerdem bist du ein besonderer Fall. Sie wollten nicht, dass du irgendetwas an die Menschen verraten konntest – auch nicht aus Versehen. Aber jetzt, als Elfe, die sich an nichts erinnert – beziehungsweise offen gesagt, die einem Zauber unterliegt, den wir gar nicht mehr lernen dürfen –, bist du quasi ein wandelndes Tabu. Das soll aber keine Beleidigung sein.« Mit dem Kopf zeigte sie in Maras Richtung. »Mara arbeitet sich am meisten daran ab. Vor ein paar Jahren hat sie sich darum beworben, Elfengifte studieren zu dürfen. Sie wurde abgelehnt, obwohl sie die Beste in der Klasse und bereits Expertin für Tiergifte ist.«

»Und deshalb hasst sie mich?«, fragte Laurel perplex.

»Sie hasst dich, weil an dir nachweislich ein Zauber angewandt wurde, den sie nicht lernen durfte. Dazu kommt, dass sie dich kennt – vielmehr kannte. Fast alle von uns hier kannten dich – mehr oder weniger.«

»Oh«, hauchte Laurel.

»Ehe du fragst: Bevor du als Pfropfreis ausgewählt wurdest, kannte ich dich so gut wie gar nicht – und auch dann nur von Weitem. Aber Mara«, fuhr Katya fort und wies wieder auf die statuenhafte Schönheit, »war ziemlich gut mit dir befreundet.«

»Echt?« Laurel kam sich dämlich vor, weil sie erst von anderen erfahren musste, mit wem sie damals befreundet war. Gleichzeitig war sie verwirrt darüber, von dieser ehemaligen Freundin so wütende Blicke zu ernten.

»Ja. Aber Mara kam damals auch als Pfropfreis infrage und hat sich total geärgert, als du genommen wurdest – und nicht sie. Sie hat das als ihr Versagen betrachtet – anstatt den tatsächlichen Grund zu sehen. Du hast den Kriterien einfach besser entsprochen. Blonde Haare waren der entscheidende Trumpf«, sagte Katya und fügte mit einer wegwerfenden Handbewegung hinzu: »›Menschen lieben nun mal blonde Babys‹, haben sie gesagt.«

Laurel verschluckte sich, als sie das hörte, und musste husten – woraufhin wieder alle guckten. Selbst Mara drehte den Kopf und blickte sie erneut wütend an.

»Ich schätze mal, seither versucht sie bei jedem Schritt, sich zu beweisen«, fuhr Katya ungefragt fort. »Und sie hat wirklich Talent. Sie kam viel früher in die Lehrlingsklasse als die meisten von uns – und ist drauf und dran, Gesellin zu werden. Wenn du mich fragst, je früher, desto besser.« Sie drehte sich wieder zu ihrem Bäumchen um und brummte noch: »Meinetwegen kann sie mit denen lernen.«

Laurel wandte sich ebenfalls um, beobachtete aber aus einem Augenwinkel noch immer Mara. Das schlanke Mädchen lehnte mit der Schönheit und Grazie einer Ballerina am Tisch, doch mit Blicken tastete sie alle im Raum ab, erwog genauestens, was sie sah, und schien allerlei Mängel festzustellen. Waren sie tatsächlich befreundet gewesen?

Eine Gruppe Elfen mittleren Alters betrat den Raum und die Elfe an ihrer Spitze klatschte in die Hände. »Bitte, kommt zusammen«, sagte sie erstaunlich leise. Doch ihre Worte drangen mühelos durch den Raum, der plötzlich vollkommen still war. Alle hatten aufgehört zu reden und wandten sich den Lehrern zu.

Das ist komplett anders als zu Hause, dachte Laurel.

Die Elfen kamen aus allen Richtungen und versammelten sich in einem großen Kreis um die etwa zwanzig Lehrer. Die Elfe, die sie herbeigerufen hatte, ergriff das Wort.

»Wer fängt heute mit einem neuen Projekt an?« Einige Hände gingen hoch – und sofort machten die anderen Elfen Platz, damit die, die sich gemeldet hatten, nach vorn treten konnten. Eine nach der anderen – oder auch in kleinen Grüppchen – beschrieben sie nun ihre neuen Projekte – das Ziel, wie sie dorthin gelangen wollten, wie lange es ihrer Meinung nach dauern würde und so weiter. Dann beantworteten sie einige Lehrerfragen und sogar welche von anderen Schülern.

Die Projekte klangen alle sehr kompliziert, und die Elfen benutzten Begriffe, die Laurel nicht verstand – wie Monastuolo-Rezeptoren und eukaryotische Widerstandsmatrix oder caprylische Hleocræft-Vektoren. Nach wenigen Minuten ließ ihre Aufmerksamkeit nach und sie blickte in die Runde, während die Elfen weiter ihre Projekte präsentierten. Alle anderen hörten zu. Niemand zappelte herum, kaum jemand flüsterte – und wenn, schien es sich um das gerade beschriebene Projekt zu drehen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis die neuen Projekte vorgestellt waren, und alle blieben währenddessen ruhig und aufmerksam.

Es war richtig gespenstisch.

»Hat gestern jemand sein Projekt beendet?«, fragte die Lehrerin jetzt. Wieder meldeten sich ein paar, und die anderen traten zur Seite, um sie vorzulassen.

Während die Elfen von ihren abgeschlossenen Projekten berichteten, betrachtete Laurel den Klassenraum mit neuen Augen. Die Pflanzenvielfalt in den Kästen war ähnlich groß wie draußen, nur erschien sie ihr hier eher willkürlich entstanden zu sein. Viele Pflänzchen waren mit Papier umwickelt, mit Messgeräten umstellt oder so mit Stoff behängt, dass das Sonnenlicht auf eine bestimmte Weise gefiltert wurde. Das hier war mehr als ein Gewächshaus – es war ein regelrechtes Labor!

»Als ich mir letzte Woche dein Projekt ansah, schien es nicht sonderlich gut zu laufen.« Ein Lehrer mit einer tiefen, sonoren Stimme befragte eine kleine brünette Elfe, die ziemlich jung aussah.

»Das stimmt«, sagte sie schlicht – ohne jeden Anschein von Scham oder Verlegenheit. »Am Ende war es ein vollkommener Fehlschlag.«

Laurel zuckte zusammen und wartete auf hämisches Geflüster und Gekicher.

Doch es kam nicht.

Sie blickte um sich. Die Elfen hörten aufmerksam zu, und einige nickten sogar, als die kleine Elfe Einzelheiten ihres Misserfolgs beschrieb. Niemand schien auch nur im Geringsten entmutigt zu sein. Ein weiterer Riesenunterschied zu daheim – und ein ziemlich erfrischender dazu.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte derselbe Lehrer.

Die kleine Elfe zögerte keine Sekunde. »Ich muss noch einige Untersuchungen anstellen, um herauszufinden, warum das Serum nicht gewirkt hat, und wenn das erledigt ist, möchte ich gern noch einmal von vorn beginnen. Ich will auf jeden Fall einen Weg finden, um den Viridefaeco-Trank wieder in Avalon einzuführen.«

Der Lehrer dachte einen Moment lang nach. »Einverstanden«, sagte er schließlich. »Einen Versuch hast du noch. Danach wirst du zu deinen regulären Studien zurückkehren müssen.«

Die kleine Elfe nickte und bedankte sich, bevor sie sich wieder zurück in den Kreis stellte.

»Noch jemand?«, fragte die leitende Lehrerin. Die Elfen sahen sich um, ob noch jemand aufzeigte, aber niemand meldete sich. »Ein Wort noch, bevor ihr auseinandergeht«, sagte sie. »Ihr habt bestimmt gemerkt, dass Laurel wieder bei uns ist – wenn auch nur für kurze Zeit.«

Laurel stand im Mittelpunkt. Einige Elfen lächelten ihr zu, doch die meisten starrten sie neugierig an.

»Sie wird in den nächsten Wochen bei uns bleiben. Bitte lasst sie ungehindert an euren Projekten teilhaben und alles beobachten. Beantwortet ihre Fragen. Sie hat keine Veranlassung, etwas zu dekantieren, schon gar nicht, wenn es schwierig wäre. Aber nehmt euch bitte die Zeit, ihr genau zu erklären, was ihr macht, wie – und warum. Das war’s. Ihr könnt gehen.« Sie klatschte noch einmal in die Hände und die Elfen gingen auseinander.

»Und jetzt?«, flüsterte Laurel Katya zu. Alle redeten wieder durcheinander, aber nach der vergangenen Stunde schien es Laurel noch immer angebracht, nur zu flüstern.

»Wir machen uns an die Arbeit«, sagte Katya schlicht. »Ich sitze gerade an zwei Langzeitprojekten. Anschließend muss ich noch einiges auffrischen.«

»Auffrischen?«

»Ja, wie man einfache Zaubertränke und Seren für die anderen Elfen in Avalon herstellt. Das lernen wir bereits ziemlich früh, aber erst wenn wir in einer höheren Klasse sind, dürfen wir Produkte herstellen, die dann auch in der Bevölkerung verteilt werden. Wir haben bestimmte Quoten zu erfüllen. Ich war so mit meinem Birnbaum beschäftigt, dass ich ein bisschen hinterherhinke.«

»Ihr arbeitet einfach? Woran ihr wollt?«

»Na ja, fortgeschrittene Projekte müssen vom Fachbereich genehmigt werden. Die Lehrer kommen regelmäßig und begutachten unsere Arbeit. Aber ansonsten können wir uns selbst Projekte aussuchen.«

Das Ganze erinnerte Laurel stark an die Zeit, als ihre Mutter sie zu Hause unterrichtet hatte. Damals entsprach der Stundenplan Laurels Interessen und wurde ihrem persönlichen Tempo angepasst. Bei dem Gedanken daran lächelte Laurel, obwohl sie schon vor langer Zeit aufgehört hatte, ihre Mutter darum zu bitten, sie wieder zu Hause zu unterrichten – nicht zuletzt dank David und ihrer Freundin Chelsea.

Aber hier hatte Laurel kein eigenes Projekt, und einfach durch den Raum zu wandern, erschien ihr wenig vielversprechend. Selbst wenn sie zwei Wochen lang den Gebrauch aller möglichen Pflanzen auswendig gelernt hatte – sie wusste einfach nicht genug, um sinnvolle Fragen zu stellen. Deshalb war sie erleichtert, als sie eine bekannte Gestalt in den Raum kommen sah – eine Reaktion, die sie beim Anblick von Yeardleys strenger Miene niemals erwartet hätte.

»Ist sie so weit?«, fragte der Professor Katya statt sie selbst.

Katya schmunzelte und schubste Laurel sanft. »Sie gehört Ihnen.«

Laurel folgte Yeardley zu einer Versuchsanordnung auf dem Tisch. Ohne lange Vorrede fing er an, sie über den Inhalt der Bücher aus dem zweiten Stapel der letzten Woche abzufragen. Sie fühlte sich bei keiner Antwort absolut sicher, doch Yeardley schien zufrieden. Er griff in seine Schultertasche und holte … noch mehr Bücher hervor.

Laurel war abgrundtief enttäuscht. »Ich dachte, ich hätte genug gelesen«, protestierte sie, ehe sie sich zurückhalten konnte.

»Genug gibt es nicht«, sagte Yeardley, als ob das ein unanständiges Wort wäre. »Jede Gesellschaftsklasse hat ihr ureigenes Wesen. Das der Frühlingselfen ist sozial – ihr Feld ist das Einfühlungsvermögen. Sommerelfen müssen ihren Sinn für Ästhetik pflegen und ohne Kunst sind ihre Zaubereien wahrhaftig mager. Die Essenz unserer Magie besteht aus dem Intellekt, und das durch sorgfältige Studien gesammelte Wissen ist das Reservoir, aus dem unsere Intuition ihre Kraft schöpft.«

Das hörte sich nicht wirklich nach Zauberei, sondern nach harter Arbeit an.

»Und nachdem das gesagt ist, dies hier sind meine Bücher, nicht deine.«

Laurel unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung.

»Laurel.«

Der Ton seiner Stimme ließ sie aufblicken. Er war nicht ernst, wie noch wenige Augenblicke zuvor, sondern angespannt – fast ängstlich – und mit einem Anflug von Sanftmut, den sie bei ihm noch nie gehört hatte.

»In diesem Stadium würde ich dir normalerweise grundlegende Zaubertränke beibringen – Lösungen, Reinigungsseren, nahrhafte Stärkungsmittel und solche Sachen. Eben das, was Novizen lernen. Aber dafür musst du ein andermal wiederkommen oder du musst es dir selbst beibringen. Die Zeit ist einfach zu kostbar, deshalb werde ich dich Verteidigungskräuterkunde lehren. Jamison hat darauf bestanden und ich bin mit seiner Entscheidung mehr als einverstanden.«

Laurel nickte, und ihr wurde heiß – nicht nur vor Aufregung darüber, dass jetzt der Unterricht tatsächlich beginnen sollte. Sie wusste genau, warum sie diesen Teil des Lernprogramms vorziehen musste – wegen der Bedrohung durch die Orks. Darauf hatte sie seit Langem gewartet.

»Das meiste von dem, was ich dir beibringen werde, wirst du wohl kaum – und zwar eine ganze Weile lang nicht – wiederholen und üben können, aber es ist wenigstens ein Anfang. Ich erwarte deinen vollen Einsatz – viel mehr zu deinem eigenen Wohl als zu meinem.«

»Natürlich«, erwiderte Laurel ernsthaft.

»Du hast einiges über die verschiedenen Pflanzenarten und ihren Gebrauch gelesen. Was du vielleicht noch nicht verstanden hast, ist, dass man Zaubertränke, Seren, Elixiere und so etwas nicht einfach durch das Mischen von Essenzen herstellt. Für alles gibt es eine allgemeine Anleitung – ein Rezept, wenn du so willst –, doch der Prozess und auch das Ergebnis werden bei jeder Herbstelfe anders sein. Was wir hier in der Akademie lehren, sind nicht nur die Rezepte, sondern vielmehr, der eigenen Intuition zu folgen – deiner angeborenen Fähigkeit zu vertrauen und deine Kenntnisse über die Natur dazu zu nutzen, das Leben aller in Avalon zu verbessern. Denn der wichtigste Bestandteil in jeder deiner Mixturen bist du, die Herbstelfe. Niemand kann das, was du kannst – nicht einmal wenn jemand versuchen würde, alle deine Rituale fehlerlos zu kopieren.« Yeardley griff erneut in seine Schultertasche und holte ein Töpfchen mit einer kleinen grünen Pflanze hervor, deren Knospen noch fest geschlossen waren.

»Du musst lernen, den Kern der Pflanze, mit der du arbeitest, zu erspüren und mit ihr Verbindung aufzunehmen«, fuhr er fort und berührte zärtlich das Pflänzchen, »und zwar so innig, dass du anschließend nicht nur ihre einzelnen Komponenten, deinem Willen entsprechend, verändern kannst.« Aus einer Reihe von Fläschchen auf dem Tisch nahm er eines und tupfte sich einen Tropfen seines Inhalts auf den Finger. »Du musst auch lernen, ihr Potenzial zu erschließen und sie so gedeihen zu lassen, wie niemand sonst es kann.« Vorsichtig berührte er jede einzelne Knospe mit seiner feuchten Fingerspitze – und als er die Hand wegzog, öffneten sich winzige leuchtend violette Blüten.

Dann sah er Laurel direkt in die Augen. »Können wir anfangen?«