Dreizehn
Am nächsten Tag saßen Laurel und Chelsea träge in der Hollywoodschaukel vor Laurels Haus. »Ich kann Samstage nicht ausstehen«, sagte Chelsea, die den Kopf über eine Lehne baumeln ließ und die Augen wegen der grellen Sonne geschlossen hatte.
»Wieso?«, fragte Laurel, die es sich ähnlich gemütlich gemacht hatte.
»Weil Jungen dann immer arbeiten müssen.«
»Du hast auch manchmal ein Rennen.«
»Stimmt.«
»Außerdem kannst du zu mir kommen und mit mir abhängen. Das ist doch schon mal was, oder?«, sagte Laurel und piekste sie mit dem Finger.
Chelsea schlug die Augen auf und sah sie skeptisch an. »Du kannst nicht so gut küssen wie Ryan.«
»Das weißt du doch gar nicht«, sagte Laurel lächelnd.
»Noch nicht«, sagte Chelsea und beugte sich zu Laurel vor.
Laurel schlug ihr auf den Arm und sie lehnten sich kichernd wieder zurück.
»Aber du hast recht«, sagte Chelsea. »Wir machen nicht mehr so viel zusammen wie früher. Vom Mittagessen abgesehen, meine ich.«
»Weil du ständig auf geheimnisvolle Weise verschwindest«, sagte Laurel und lachte.
»Ich habe viel zu tun«, verteidigte sich Chelsea zum Spaß. »Oh, hey! Ryan gibt nächsten Freitag eine große Party bei sich zu Hause. Ihr seid eingeladen. Es ist das übliche Sommerabschiedsfest, aber ohne kaltes Wasser, scheuernden Sand und rauchiges Feuer.«
»Ist er da nicht ein bisschen spät dran?«, sagte Laurel, weil sie vergessen hatte, dass nicht alle den Wechsel der Jahreszeiten so genau mitbekamen.
»Quatsch. Hauptsache, es gibt einen guten Grund für eine Party. Ryans Haus ist dafür supergut geeignet. Sie haben eine coole Anlage und einen Gemeinschaftsraum. Das wird wunderbar, ihr müsst einfach kommen, sonst verpasst ihr was.«
»Machen wir«, sagte Laurel und nahm die Einladung für David gleich mit an. Er hatte sicher nichts dagegen, normalerweise war sie es, die nicht gerne spätabends ausging.
»Super«, sagte Chelsea und blinzelte in die Sonne. »Ist es schon fünf?«
Laurel lachte. »Es würde mich wundern, wenn es schon drei wäre.«
Chelsea schmollte theatralisch. »Ich vermisse Ryan.«
»Das ist gut. Man sollte seinen Freund vermissen.«
»Früher habe ich mich über Mädchen lustig gemacht, die fast in Ohnmacht fielen, wenn sie ihren Freund trafen. Am liebsten hätte ich ihnen geraten, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln, statt sie sich von jemand anderem vorschreiben zu lassen. Manchen habe ich das wirklich gesagt.«
Laurel verdrehte die Augen. »Wieso überrascht mich das nicht?«
»Und jetzt gehöre ich auch dazu«, stöhnte Chelsea.
»Außer dass du eine Persönlichkeit bist.« Und zwar mehr als alle anderen, die Laurel kannte.
»Das will ich hoffen. Aber im Ernst: Er nimmt so viel Platz in meinem Leben ein.« Sie hob den Kopf, um Laurel wieder anzusehen. »Wusstest du, dass ich bei den beiden Rennen, zu denen er mich in diesem Jahr begleitet hat, meine persönliche Bestzeit gelaufen bin? Ich renne schneller, wenn er dabei ist. Und ich dachte, ich wäre auch vorher so schnell gerannt, wie ich konnte. Ich mache jetzt echt Punkte in unserem Team. Das hat er aus mir gemacht!« Sie legte die Hand an die Stirn und tat so, als fiele sie in der Hollywoodschaukel in Ohnmacht. »Er ist einfach wunderbar.«
»Ich freue mich so für dich, Chelsea. Du verdienst einen tollen Typen, und man sieht, dass Ryan dich sehr gernhat.«
»Ja, ist das nicht sonderbar?«
Laurel schnaubte nur.
»Findest du, wir lassen es zu schnell angehen?«, fragte Chelsea ernsthaft.
Laurel hob eine Augenbraue. »Kommt drauf an. Wie schnell denn?«
»Ach, nicht was du denkst«, verscheuchte Chelsea ihre Sorge. »Ich meinte, dass ich mich zu schnell zu sehr einlasse.«
»Wieso denn?«
»Vorgestern habe ich mich für den Zulassungstest für die Uni im November angemeldet …«
Laurel unterbrach sie. »November? Wieso im November? David und ich haben ihn uns fürs Frühjahr vorgenommen.«
»Ich bin eben eine chronische Streberin«, gestand Chelsea. »Egal, ich musste angeben, an welche Unis meine Daten geschickt werden sollten, und was habe ich gesagt?« Sie sah Laurel an.
»Harvard. Du wolltest doch immer schon nach Harvard«, antwortete Laurel, ohne überhaupt nachdenken zu müssen.
»Ganz genau«, sagte Chelsea, richtete sich auf und setzte sich in den Schneidersitz. »Aber als ich Harvard hinschreiben wollte, dachte ich, Moment, Ryan geht zur UCLA, und Boston ist echt weit weg von der UCLA. Will ich wirklich so weit von ihm weg sein? Deshalb habe ich es nicht hingeschrieben.«
»Du lässt deine Ergebnisse woanders hinschicken?« Laurel setzte sich kerzengerade hin. »Wohin denn? Nach Stanford? Du kannst Stanford nicht ausstehen.«
»Nein, ich habe es einfach nicht ausgefüllt. Ich musste es noch nicht abgeben.« Chelsea zögerte. »Fühlt es sich für dich genauso an? Mit David?«
»Jep«, sagte Laurel. »Ich würde wegen David ganz bestimmt nicht nach Harvard gehen.«
»Kein Wunder«, moserte Chelsea. »Weil du wie deine Eltern sowieso nach Berkeley willst, oder nicht?«
Diese Frage traf Laurel völlig unvorbereitet. Sie nickte unbestimmt, aber in Gedanken war sie in Avalon. In der Akademie war ein Platz für sie reserviert – ohne Aufnahmeprüfung und Studiengebühren, Übernachtung und Verpflegung inklusive. Auch wenn Jamison ihr jetzt aufgetragen hatte, nach Orks Ausschau zu halten, ging sie davon aus, dass die Elfen von ihr erwarteten, sie würde bald für immer dorthin übersiedeln. Aber wie sollte sie Chelsea das erklären?
»Stell dir vor, David geht wieder in den Osten. Würdest du deine Pläne vergessen und mit ihm gehen?«
Das ist erst in zwei Jahren, redete Laurel sich gut zu. Sie zuckte die Achseln.
»Aber du würdest auch darüber nachdenken, oder?«
»Kann sein«, sagte Laurel automatisch. Es stand so viel mehr auf dem Spiel als die Frage, ob sie David über eine Entfernung von mehr als tausend Kilometern folgen würde. Wenn sie mit ihm ging, wäre das eine Entscheidung gegen Avalon und die Akademie. Und wenn sie die Akademie besuchte, entschied sie sich dann gegen David? Die Frage war neu und unangenehm.
»Glaubst du denn, dass ihr für immer zusammenbleibt, du und David? Das kommt vor, weißt du?«, sagte Chelsea rasch und meinte offenbar eher sich selbst. »Es gibt Leute, die sich in der Highschool kennenlernen und dann sind sie – Klick! – Seelenfreunde.«
»Ich weiß nicht«, antwortete Laurel aufrichtig. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich David jemals nicht mehr liebe. Oder dass wir uns trennen.« Aber vielleicht werden wir auseinandergerissen? Diese Möglichkeit erschien ihr deutlich realistischer.
»Du hast das L-Wort gesagt«, sagte Chelsea grinsend und holte Laurel in die Wirklichkeit zurück.
»Wieso, ja – ja, klar.« Laurel lachte.
»Du bist in David verliebt, ja?«
Allein bei dem Gedanken wurde Laurels Körper von einer wunderbaren Wärme erfüllt. »Ja, oh ja.«
»Heißt das, ihr zwei … du weißt schon, was ich meine.«
»Nicht … wirklich.«
»Was soll das denn heißen?«
»Es heißt eben nicht wirklich.« Laurel blieb stur.
Chelsea schwieg eine Weile. Laurel konnte nur hoffen, dass sie nicht weiter über den genauen Stand ihrer körperlichen Beziehung zu David grübelte. »Ich glaube, es könnte sein, dass ich Ryan liebe«, sagte Chelsea schließlich zu Laurels Erleichterung. »Darum macht mich diese Sache mit Harvard so fertig. Seit ich zehn war, wollte ich unbedingt dahin. Ich wollte in Harvard studieren, einen Abschluss in Journalismus machen und Reporterin werden. Und jetzt kann ich die Vorstellung kaum ertragen, woanders zu sein als Ryan.«
»Vielleicht sollte er dir nach Harvard folgen.«
»Das habe ich mir längst überlegt, glaub mir«, konterte Chelsea. »Er will Arzt werden wie sein Vater und in Harvard kann man hervorragend Medizin studieren.«
»Dann lass deine Noten nach Harvard schicken«, sagte Laurel, die sich echt Mühe geben musste, sich auf Chelseas Probleme zu konzentrieren, statt auf ihre eigenen.
»Es dauert noch fast zwei Jahre, bis du dich endgültig entscheiden musst. In dieser Zeit kann viel passieren. Und im Ernst, wenn du wegen eines Typen deinen Lebenstraum aufgeben musst, hast du dir vielleicht den falschen ausgesucht.«
Chelsea zog die Stirn kraus und knetete ihre Finger. »Und was ist, wenn der Traum dann doch nicht so toll ist?«
Vor Laurels Augen verschwammen die Gesichter von David und Tamani vor dem Hintergrund der Akademie. Sie zuckte die Achseln und zwang sich zur Ruhe. »Dann war es möglicherweise der falsche Traum.«
Als Laurel und David am folgenden Freitag vor Ryans Haus vorfuhren,
dröhnte ihnen laute Musik entgegen. »Wow«, sagte Laurel. Das
dreistöckige bläulich graue Haus hatte ein Schieferdach und weiße
Fensterläden. Zahlreiche Fenster schmückten die Fassade und gingen
auf einen besonders hübsch angelegten Vorgarten hinaus. Blühender
Hartriegel wuchs rechts und links eines gewundenen Steinwegs,
während die südliche Mauer mit Efeu berankt war. Das Haus schmiegte
sich an die Felsküste und Laurel freute sich schon auf die
fantastische Aussicht. »Das ist wirklich wunderschön«, sagte
sie.
»Jep. Es ist nett, das einzige Kind des städtischen Kardiologen zu sein.«
»Kann ich mir denken.« Hand in Hand gingen sie über den Weg auf das Haus zu und traten ein. Da sie in einer kleinen Stadt lebten und das Haus so weitläufig war, herrschte kein großes Gedränge, aber es war voll genug. Und dort, wo es noch leerer war, stand die Musik im Vordergrund. Laurel taten schon die Ohren weh.
»Dahinten«, rief sie, um den Lärm zu übertönen, und zeigte auf Ryan und Chelsea. Ryan sah ganz normal aus in seinem leuchtend roten T-Shirt und den Hollister-Jeans, aber Chelsea hatte sich selbst übertroffen. Sie hatte ihre Locken zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und trug dazu lange goldene Ohrringe. Ihre Sommerbräune betonte sie mit einer dunkelblauen Jeans, süßen schwarzen Sandalen und einem schwarzen Tanktop, das mit glänzenden Perlen geschmückt war.
Die Bräune hatte sie sich wahrscheinlich an Ryans Swimmingpool geholt.
»Unglaublich!«, sagte Laurel, als sie auf die beiden zuging und Chelsea umarmte. »Du siehst einfach toll aus!«
»Du auch«, erwiderte Chelsea.
Doch Laurel wünschte sich bereits, sie müsste nicht diese lange zurückgebundene Bluse mit Empire-Taille und einer riesigen Schleife tragen, die sie ausgesucht hatte, um den Knubbel ihrer abgebundenen Blüte zu verbergen. Es war warm und sie bekam Beklemmungen.
»Ist das Haus nicht einfach großartig?«, schwärmte Chelsea und zog Laurel ein wenig beiseite.
»Fantastisch.«
»Ich bin so gerne hier. Mit meinen drei kleinen Brüdern gibt es bei uns zu Hause nichts mehr, was kaputtgehen könnte«, sagte Chelsea. »Und hier stellen sie kleine Statuen auf die Beistelltische. Und die Gläser, die zum Abendessen gedeckt werden, sind – man mag es kaum glauben – aus echtem Glas.« Sie mussten beide lachen.
Chelsea wandte sich zu David und Ryan um, die sich unterhielten und über etwas lachten. Als merkten sie, dass sie beobachtet würden, drehten sie sich zu den Mädchen um, und Ryan winkte.
»Manchmal, wenn ich die beiden nebeneinander sehe, frage ich mich, wie Ryan die ganze Zeit da sein konnte, ohne dass ich ihn bemerkt habe.« Chelsea sah Laurel an. »Wo hatte ich nur meine Augen? Was habe ich mir dabei gedacht?«
Laurel lachte wieder und legte Chelsea den Arm um die Taille. »Dass David sexier ist?«
»Ach, genau, das war’s.« Chelsea verdrehte die Augen. »Komm«, sagte sie und zog Laurel mit sich. »Die Aussicht wird dir die Sprache verschlagen.«