Fünfundzwanzig

Hast du das Richtige bekommen?«, fragte David, als sie zum Battery-Point-Leuchtturm rasten.

»Ja.« Laurel holte bereits Mörser und Stößel aus dem Rucksack.

»Was machst du da?«

»Fahr einfach weiter und sieh zu, dass der Wagen diesmal auf der Straße bleibt, ja?«

»Oookay«, sagte David nicht sonderlich zuversichtlich. Sie fuhren schweigend weiter und das Knirschen von Laurels Stößel ergab mit dem Summen der Reifen ein finsteres Duett. Während sie auf die Südseite von Crescent City fuhren, tickte die Uhr am Armaturenbrett erbarmungslos weiter.

20.43

20.44

20.45

Als sie am Leuchtturm auf den verlassenen Parkplatz einbogen, fiel Laurel wieder ein, dass sie vor über einem Jahr mit Chelsea hier gewesen war. Sie erinnerte sich an Chelseas strahlendes Lächeln, als sie ihr alles über das Denkmal erzählte, das ihr so ans Herz gewachsen war. Sie parkten dort, wo sie der Insel am nächsten waren. Bei der Vorstellung, dass sie Chelsea vielleicht nicht wiedersehen würde, bekam Laurel einen Kloß im Hals.

Oder möglicherweise nicht lebend.

Laurel schüttelte den Gedanken ab und bemühte sich um diese eher unkonzentrierte Ruhe, die sie neulich an den Tag gelegt hatte, als ihr die ersten Zuckerglasfläschchen gelungen waren. Sie schüttete einige Hibiskussamen in die Mischung und zerkleinerte sie entschlossen, während sie sich auf die schönen Dinge konzentrierte, die sie mit Chelsea erlebt hatte. Auf diese Weise bekam sie ihre Ängste besser in den Griff.

Als David ihr die Hand auf den Arm legte, zuckte sie überrascht zusammen. »Sollen wir die Polizei rufen?«, fragte er.

Laurel schüttelte den Kopf. »Wenn die Polizei kommt, ist Chelsea so gut wie tot. Die Cops wahrscheinlich auch.«

»Du hast recht. Und was ist mit Klea?«, fragte David nach kurzem Nachdenken.

Laurel verzog das Gesicht. »Ich traue ihr einfach nicht. Irgendwas … stimmt mit ihr nicht.«

»Aber Chelsea …« Er konnte nicht weitersprechen. »Ich wünschte nur … wir hätten noch etwas anderes … noch jemanden bei uns«, flüsterte er schließlich. Er packte sie schmerzlich fest am Arm. »Bitte lass nicht zu, dass sie Chelsea töten! Laurel!«

Laurel schüttete pulverisierte Nadeln des Saguaro-Kaktus in den Mörser und hielt die Mischung ins trübe Licht der Straßenlaterne. Sie spiegelte die gelblichen Strahlen genauso wider, wie es vorgesehen war. »Ich tue, was ich kann«, sagte sie leise.

Nachdem sie die Mischung in ein Zuckerglasfläschchen gefüllt hatte, träufelte Laurel mehrere Tropfen Öl in eine zweite Phiole, um das Monastuolo-Serum fertigzustellen. Es sah richtig aus und es fühlte sich richtig an. Hoffentlich redete sie sich das in ihrer Verzweiflung nicht nur ein. Wenn es funktionierte, würden Jeremiah Barnes und seine neuen Spießgesellen in tiefen Schlaf sinken. Sobald sie Chelsea befreit hatten, konnten sie dann Tamani zu Hilfe holen. Er würde wissen, wie es weitergehen sollte. Laurel legte die Zuckerglasfläschchen vorsichtig in ihre Jackentasche und wollte die Wagentür öffnen. Sie hatten schon viel zu viel Zeit auf diesem Parkplatz verschwendet, um das Serum fertigzustellen.

»Moment«, sagte David und legte ihr die Hand auf den Arm.

Laurel warf einen raschen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett, die viel zu schnell zu ticken schien, aber sie wartete. David kramte in seinem Rucksack, und als er die Hand wieder herauszog, hielt er Laurel die kleine Sig Sauer hin, die Klea für sie vorgesehen hatte. Laurel musterte die Pistole kurz und sah dann wieder David an.

»Ich weiß, du kannst sie nicht ausstehen«, sagte David leise und mit fester Stimme. »Aber es ist das Einzige, von dem wir mit Sicherheit wissen, dass es Barnes aufhalten kann. Und wenn du die Wahl zwischen seinem Leben oder Chelseas hast, wirst du die Kraft finden, das Richtige zu tun.« Er legte ihr die Pistole in die bebende Hand, die so sehr zitterte, dass Laurel den eiskalten Griff kaum festhalten konnte. Doch sie nickte und steckte sich die Pistole in den Bund ihrer Jeans. Dann zog sie ihre Jacke darüber, damit man sie nicht gleich sehen konnte.

Als sie aus dem Auto stiegen, schauten sie zum Leuchtturm hoch. Das oberste Stockwerk war hell erleuchtet. Dann gingen Laurel und David zu dem Weg, der zum Leuchtturm führte.

Er lag einen Meter unter der Wasseroberfläche.

»Oh nein«, murmelte Laurel, »die Flut habe ich ganz vergessen.« Sie starrte auf den Leuchtturm, der in hundert Metern Entfernung stand. Sie konnte es durch die aufgewühlten Fluten schaffen – so weit war es nun auch nicht –, aber das Salz würde sich in ihre Poren fressen. Es würde sie auf der Stelle schwächen und mindestens eine Woche wirken.

Ohne ein Wort hob David sie hoch und trug sie zum Wasser. Nach kurzem Zögern ging er hinein und durchquerte mit seinen langen, starken Beinen die schäumende Strömung. Er rang nach Luft, als das bitterkalte Wasser ihm erst an die Knie und dann bis zu den Hüften reichte. Nach einer Minute klapperten seine Zähne, aber dann hielt er den Mund eisern geschlossen. Doch er konnte nichts dagegen tun, dass sein Körper immer wieder erschauerte. Laurel versuchte, ihr Gewicht so geschickt wie möglich zu verteilen, und umklammerte Davids Hals. Doch in dieser Nacht war sogar der Wind gegen sie, der ihnen von vorn entgegenschlug. Er zerzauste Laurels Haare und wühlte die Fluten auf.

In der Mitte des Weges war das Wasser am tiefsten – es ging David schon bis zum Bauch. Als eine hohe Welle auf ihn niederging, stolperte er, und beinahe wären sie beide ins Wasser gefallen. Doch mit einem entschlossenen Stöhnen fand er das Gleichgewicht wieder und kämpfte sich zum Leuchtturm durch.

Es kam ihnen vor, als wären sie eine Ewigkeit im Wasser gewesen, als David auf der Insel mit dem kleinen Leuchtturm an Land ging. Er stellte Laurel sanft auf die Beine, ehe er keuchend die Arme um seinen Körper schlang.

»Vielen Dank«, sagte Laurel. Wie unzureichend waren diese Worte!

»Nun, ich habe gehört, eine Unterkühlung pro Jahr soll gut für die Seele sein«, witzelte David, aber seine Stimme brach, als sein Körper so heftig zitterte wie noch nie.

»Ich …«

»Lass uns reingehen, Laurel«, unterbrach David sie. »Sie sollen merken, dass wir hier sind.«

Kurz darauf standen sie vor dem Eingang. Die Tür war offen. Sie wurden erwartet.

»Sollen wir klopfen?«, fragte David im Flüsterton. »Ich bin mit der Etikette bei Geiselnahmen nicht so vertraut.«

Laurel prüfte, ob die Pistole noch an ihrem Platz war und die Phiolen heil in ihrer Jacke steckten. »Einfach aufdrücken«, sagte sie. Wenn ihre Stimme nur nicht so zittern würde!

Als David die Tür weit öffnete, umfing sie Dunkelheit.

»Hier ist keiner«, flüsterte David.

Laurel ließ den Blick durch den Eingangsraum schweifen und zeigte auf einen winzigen Lichtstrahl an der gegenüberliegenden Wand. »Sie sind hier«, sagte sie und dachte an Jamisons Metapher von der Venusfliegenfalle. »Aber wir werden sie erst zu sehen bekommen, wenn wir nicht mehr rauskönnen.«

Dennoch durchquerten sie langsam den unteren Raum und zogen vorsichtig die Tür zum Treppenhaus auf. Von oben schien ihnen trübes Licht entgegen. Laurel setzte den Fuß auf die erste Stufe.

»Nein«, sagte David und hielt sie mit der Hand auf der Schulter auf. »Lass mich vorgehen.«

Schuldgefühle nagten an Laurel. Selbst nach allem, was sie ihm angetan hatte, war er noch bereit, sein Leben für sie aufs Spiel zu setzen. Sie schüttelte den Kopf. »Er soll mich zuerst sehen. Gehen wir lieber auf Nummer sicher.«

Sie waren erst fünf Stufen weit gekommen, als David scharf Luft holte. Laurel warf einen Blick zurück und entdeckte, dass zwei Orks hinter ihnen den Leuchtturm betreten hatten. Es handelte sich jedoch nicht um die schmutzigen, verwahrlosten Kerle, die sie bei Ryan verfolgt hatten. Diese beiden trugen saubere schwarze Jeans und schwarze, langärmelige Hemden. Außerdem zielten sie mit chromglänzenden Pistolen auf David und Laurel – dabei wussten sie alle, dass das gar nicht nötig war. Sie konnten sie mühelos zweiteilen.

Der eine war auf bizarre Weise asymmetrisch. Seine linke Körperhälfte war welk und knorrig, während die rechte auch einem Weltklasse-Bodybuilder gut gestanden hätte. Das Gesicht des anderen Orks sah bemerkenswert menschlich aus, aber die Schulterknochen waren verdreht und verbogen, sodass die eine Schulter nach vorne zeigte und die andere nach hinten. Dadurch waren auch die Beine in Mitleidenschaft gezogen, er schlurfte sonderbar dahin.

David sah Laurel mit großen Augen an, aber sie schüttelte den Kopf und ging weiter die Treppe hoch. Oben wurden sie von zwei weiteren bewaffneten Orks empfangen. Das Begrüßungskommando sah den beiden Schurken schon ähnlicher, die David und Laurel im vergangenen Jahr in den Chetco River geworfen hatten. Sie hatten hängende Wangenknochen, schiefe Nasen und Augen, die nicht zueinander passten. Der eine hatte seinen wilden Rotschopf streng aus dem furchterregenden Gesicht gekämmt. Aber es konnten natürlich nicht Barnes’ alte Kumpane sein, denn die hatte Tamani ja erledigt. Laurel schenkte ihnen keine Beachtung und bog um die Ecke.

»Chelsea!« Der Anblick ihrer Freundin raubte ihr den Atem.

Chelsea war mit verbundenen Augen an einen Stuhl gefesselt. Jemand hielt ihr eine Pistole an die Schläfe. »Na, endlich«, murmelte sie.

Laurel ließ den Blick von Chelsea zu dem Mann schweifen, der auf ihren Kopf zielte, und sah das Gesicht und die Augen, die sie in ihren Albträumen verfolgten – noch nach über einem Jahr.

Jeremiah Barnes.

Er sah noch genauso aus – ganz genauso, von den breiten Rugbyspielerschultern zu der leichten Hakennase und den dunkelbraunen Augen, die von der gegenüberliegenden Seite des Raumes fast schwarz wirkten. Er trug sogar wieder ein zerknittertes weißes Hemd und eine Anzughose, was den unheimlichen Eindruck des Déjà-vu noch verstärkte. Laurel hatte das Gefühl, in ihrem ureigensten Albtraum gefangen zu sein.

»Die kleine, feine Miss. Hat sogar ihren alten Menschenfreund zum Sterben mitgebracht. Ich muss sagen, ich bin beeindruckt.«

Die anderen Orks glucksten. Laurel ballte möglichst unauffällig die Faust um die beiden Glasphiolen in ihrer Jackentasche, zerdrückte sie und mischte so die beiden Elixiere. Das Zuckerglas stach in ihre Hand, aber sie zwang sich, normal zu atmen, während das Serum reagierte und ihr die Finger verbrannte. Denn jetzt entwickelte es sich zu heißen Dampfschwaden, die Barnes hoffentlich nicht bemerken würde. Sie brauchte nur ein paar Minuten … falls es lief wie vorgesehen. Bitte lass es funktionieren, flehte sie in Gedanken. »Hier wird niemand sterben, Barnes. Was wollen Sie?«

Barnes lachte. »Was soll ich schon wollen? Rache, Laurel.« Er lächelte drohend. »Wie wäre es damit? Ich schieße dir in die Schulter, damit du weißt, wie sich das anfühlt. Dann fahren wir zu deinem alten Blockhaus, und du zeigst mir, wo das Tor ist. Und wenn du dann immer noch nicht tot bist, erlöse ich dich vielleicht von deinem Elend.«

»Und was passiert mit meinen Freunden?«, fragte Laurel. Ihre Blicke trafen sich, böse sahen sie sich an. »Falls ich einverstanden bin«, sagte sie mit fester Stimme. »Was geschieht dann mit ihnen?«

Das Serum verbrannte ihr die Finger, und Laurel sehnte sich danach, die Hand aus der Tasche zu ziehen und die Flüssigkeit abzuwischen. Aber das war zu riskant. Sie biss die Zähne zusammen und starrte den ungeschlachten Ork weiter an.

Barnes leckte sich die Lippen und grinste. »Die lasse ich laufen.«

Es war völlig klar, dass er log, aber Laurel spielte mit. »Dann lassen Sie sie jetzt gehen«, schlug sie vor, um Zeit zu schinden. »Danach können wir zum Grundstück fahren. «

»Ach ja. Das sehe ich anders. Ihr Elfen seid schlaue Biester, vor allem wenn der Kampf schon verloren ist. Deine Freunde können gehen, sobald du mir das Tor gezeigt hast – vorher nicht.«

»So läuft das nicht.«

Barnes richtete die Pistole jetzt auf Laurel.

Sie zuckte noch nicht mal zusammen.

»Ich glaube kaum, dass du es dir leisten kannst, Bedingungen zu stellen«, sagte Barnes. »Wir machen es auf meine Tour. Ich fessele dich, werfe dich in meinen Wagen und wir fahren nach Orick. Wenn du nicht spurst, beißen alle hier und heute noch ins Gras. Oh, und die Sache mit der Schulter können wir auch gleich erledigen«, fügte er hinzu und senkte die Pistole, bis sie auf ihre Schulter zielte. Laurel schloss die Augen und spannte ihren ganzen Körper an, um sich für die Kugel zu wappnen.

»Nein«, sagte David, riss sie zurück und stellte sich vor sie. »Das lasse ich nicht zu.«

Barnes lachte sein raues, beinahe niesendes Lachen, von dem Laurel eine Gänsehaut bekam. Nach dieser langen Zeit konnte sie sich immer noch genau an dieses Lachen erinnern. »Das lässt du nicht zu? Als ob du hier irgendwas zu sagen hättest, mein Jüngelchen«, höhnte Barnes. Er forderte die anderen Orks mit einer Geste auf, sich in Bewegung zu setzen. »Schafft ihn hier raus.«

Ein Ork hielt Laurel an den Schultern fest, damit sie blieb, wo sie war, während der Rothaarige David am Arm packte. Doch David war vorbereitet, riss sich los und schwang die Faust. Er traf mit einem dröhnenden Kräck! und der Ork taumelte zwei Schritte rückwärts.

Laurel sah entsetzt zu, wie David seine Hand massierte, ehe er zu einem zweiten Schlag ausholte. Sie konnte sich nicht rühren, konnte ihm nicht zurufen, Geduld zu haben, zu warten. Sonst hätte sie sich verraten. Er hatte sie vor Barnes’ Pistole gerettet und würde nun an ihrer Stelle büßen.

»David?« Chelseas Stimme hörte sich so dünn, so hilflos an. Laurel hatte einen Kloß im Hals.

Der nächste Ork war schneller. Blitzschnell trat er David in die Brust. Laurel verzog mitfühlend das Gesicht und versuchte, sich loszureißen, als sie hörte, wie mindestens eine Rippe brach. Doch der Ork hielt sie eisern fest. Ein Blick auf Barnes machte klar, dass er sich prächtig amüsierte, aber die Pistole weiterhin unverwandt auf sie gerichtet hielt. Wie verhasst ihr sein gemeines Grinsen war! Allein sein Anblick sorgte dafür, dass ihr die Pistole im Hosenbund immer besser gefiel.

»David!«, schrie Chelsea wieder, als David ein Stöhnen unterdrückte.

»Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört, Chelsea. Bitte sei still!« Laurel hörte selbst, wie panisch ihre Stimme klang. Doch zu ihrer großen Erleichterung beruhigte sich Chelsea tatsächlich und versuchte nicht mehr, sich den dicken, schwieligen Fingern zu entwinden, die sich um ihren Hals gelegt hatten.

Der Bodybuilder-Ork haute dem wehrlosen, vornübergebeugten David noch eine rein, aber es war ein kraftloser Schlag, langsam und schlecht gezielt, sodass er David nur an der Wange kratzte – immerhin schlimm genug, dass die Haut aufplatzte. Der Ork drehte sich ungeschickt um sich selbst, taumelte und fiel zu Boden.

»Steh auf, du dämliches Schwein!«, schrie Barnes, während die anderen Orks Davids Arme packten. Doch der Ork blieb liegen. Der Ork mit der verdrehten Schulter holte ein Seil und wollte David fesseln, aber der entriss ihm seinen Arm und schubste ihn weg. In dem Moment verlor der Ork das Bewusstsein und fiel neben den Ersten.

»Was zum…«, stammelte Barnes verwirrt. Der Rothaarige drehte David den Arm auf den Rücken, schleppte ihn zur Treppe und fesselte ihn ans Geländer. David versuchte erneut, sich loszureißen – vergebens. Verzweifelt sah er Laurel an. Das Blut lief ihm über das Gesicht, aber sie musterte angestrengt den Ork an seiner Seite. Langsam, so langsam, dass es wehtat, sank der Ork in die Knie und brach zusammen. Endlich erwischte es auch den Ork, der Laurel festgehalten hatte, und sie war frei. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden. Vier Orks lagen David, der noch immer an die Treppe gefesselt war, zu Füßen.

Blitzschnell konzentrierte sich Barnes wieder auf Laurel.

Sie hatte die Waffe gezogen und zielte auf seinen Kopf. »Es ist vorbei, Barnes«, sagte sie und drängte die Hysterie zurück, die sie zu überwältigen drohte. »Runter mit der Pistole!«

»Nun, du bist nicht mehr das kleine Mädchen vom letzten Jahr, was?« Barnes musterte sie kühl. »Damals hast du es nicht einmal fertiggebracht, auf mich zu schießen, um deinen kleinen Pflanzenfreund zu retten. Und jetzt hast du vier von meinen Kerlen umgelegt.« Er grinste. »Wahrscheinlich wartest du darauf, dass ich auch gleich umfalle, oder?«

Laurel hielt schweigend die Pistole auf ihn gerichtet. Sie zitterte nicht.

»Das Zeug wirkt bei mir nicht«, sagte er mit einem unheimlichen Lachen. »Sagen wir einfach, ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und jetzt bin ich immun. « Er machte eine Pause und sah Laurel an. »Und nun?«, fragte er, noch immer sichtlich amüsiert.

Laurels schöner Plan zerbröselte vor ihren Augen.

»Ich will Antworten«, erwiderte sie. Es kostete sie große Mühe, ihre Arme weiter auszustrecken, ohne zu zittern, während sie die Pistole festhielt. Sie wusste, dass sie ihm nicht trauen konnte, egal was er erzählte. Doch sie musste Zeit zum Nachdenken schinden.

»Antworten?«, fragte er zurück. »Das ist alles? Antworten kosten nichts. Die hätte ich dir auch ohne Pistole gegeben.« Er sah sie interessiert an. »Dann mal raus mit den spannenden Fragen, Laurel.« Er machte sich über sie lustig.

»Wo sind meine Wachen? Haben Sie sie umgebracht?«

Er lachte. »Wohl kaum. Sie toben sich auf einer falschen Fährte aus. Einer verdammt guten falschen Fährte, muss ich sagen. Sie glauben, dass sie dich vor mir retten, und kommen erst zurück, wenn sie kapieren, dass die Spur aus Elfenblut nirgends hinführt.«

»Wessen Blut?« Jetzt bebte Laurels Stimme doch.

Barnes grinste. »Niemand… Wichtiges.«

»Und warum ausgerechnet jetzt?«, fragte Laurel und verdrängte die Gedanken an tote Wachtposten. Im Augenblick konnte sie ihnen nicht helfen. »Warum haben Sie das nicht vor einem Monat getan? Oder vor einem halben Jahr? Warum heute und warum Chelsea?«

Er schüttelte den Kopf. »Deine kleine Welt ist so einfach zu durchschauen. Du glaubst, es geht um mich und meine kleine Truppe gegen dich und deine kleine Truppe. Aber du bist nur ein blindes Huhn, ein Bauernopfer, ein Lockvogel. Wenn nur ein paar Leute mitspielen, kann man die Dinge einfach einfädeln. Aber wenn zu viele mitmachen und tausend Sachen eine Rolle spielen, braucht man Zeit, damit alles funktioniert.« Er zuckte die Achseln. »Außerdem hat es Spaß gemacht. Ich wollte dich direkt aus deinem verbarrikadierten Haus entführen, aber deine Wachtposten haben mir das Leben schwergemacht. Deshalb habe ich es aufgegeben, auf die harte Tour zum Erfolg zu kommen.« Er tätschelte Chelseas Haare und verstärkte seinen Griff um ihren Hals, als sie sich ihm entwinden wollte. »Die liebe Chelsea war so viel schlechter beschützt als du, nämlich gar nicht. Es war ein Kinderspiel, sie einzufangen. Und dein weiches Herz bringt dich noch ins Grab. Ich wusste, dass du kommen würdest. Und jetzt«, sagte er und drückte die Pistole ein wenig fester an Chelseas Kopf, »stellt sich die interessante Frage, ob du den bösen, ungezogenen Ork erschießen kannst, ehe er deine kleine Freundin erschießt. Denn ich glaube schon, Laurel, dass du tatsächlich auf die Idee kommen könntest, mich zu erschießen. Aber meinst du, du schaffst es, bevor ich ihr die Kugel gebe?«

»Laurel, ich weiß ja nicht, was er von dir will, aber gib es ihm nicht!«, rief Chelsea.

»Schnauze, du dummes Blag«, sagte Barnes. Sein Finger spannte sich am Abzug und Laurel trat einen Schritt vor.

»Moment, Moment, Moment«, sagte Barnes. »Ich will sie doch noch gar nicht erschießen. Das wäre viel zu langweilig.« Mit einer blitzschnellen Bewegung, die Laurel fast nicht mitbekommen hätte, ließ Barnes Chelseas Hals los, zog eine zweite Pistole und zielte auf David.

Laurel rang nach Luft, als ihr auch die letzte Hoffnung auf Flucht genommen wurde.

»Nachdem du mich letztes Jahr in die Ecke getrieben hattest, habe ich mir angewöhnt, stets mehr als eine Pistole bei mir zu tragen, kleine Miss Sewell.« Er sah sie wieder an, wobei er weiter fachmännisch auf Chelsea und David zielte. »Weißt du, ich dachte, vielleicht würdest du tatsächlich das Leben eines deiner Freunde riskieren, um dich und deinen Freund hier zu retten. Aber setzt du das Leben von zwei Freunden aufs Spiel, um das deine zu retten?«

Möglicherweise ließ er mit sich handeln. Sie musste es versuchen, sie hatte keine andere Wahl. »Okay«, sagte Laurel. Sie ließ die Waffe fallen, die laut scheppernd zu Boden fiel. »Ich ergebe mich.«

»Laurel!«, schrie David. »Nein, tu das nicht!« Vergeblich kämpfte er gegen seine Fesseln an.

»Es ist die einzige Möglichkeit.« Als sie langsam die Hände hob, knarrte es auf der Treppe.

Barnes schwenkte die Pistolen herum und zielte sowohl auf Laurel als auch auf die Treppe. »Ich höre euch!«, rief er. »Ihr da auf der Treppe, ich weiß, dass ihr da seid!«

Laurel hielt den Atem an, hörte aber nichts mehr.

Barnes hob witternd die Nase. »Ich weiß, dass ihr eine Pistole habt!«, brüllte er. »Ich kann sie riechen. Wenn ich bis drei gezählt habe, werft ihr die Pistole hier auf den Boden. Sonst bringe ich bei dem Wort drei alle um. Verstanden?«

Eine lange Pause entstand.

»Eins.«

Davids Atem kam in abgerissenen Zügen.

»Zwei.«

Chelsea wand sich auf ihrem Stuhl. Sie war so lange tapfer gewesen, aber jetzt bebten ihre Schultern, so heftig schluchzte sie. Laurel starrte verzweifelt auf die Pistole vor ihrer Nase und überlegte, ob es nicht doch noch eine Möglichkeit gab, daran zu kommen.

Etwas flog scheppernd die Treppe hoch.

Eine riesige Pistole mit Patronengurt rutschte über den Boden. Barnes musterte sie mit offensichtlicher Wertschätzung, bückte sich langsam, ließ eine seiner Pistolen fallen und tauschte sie gegen die größere Waffe aus.

»Schon besser«, sagte er. »Und jetzt kommt raus. Vielleicht lasse ich euch dann am Leben.«

Nichts.

»Muss ich noch mal zählen?«, drohte Barnes. »Kann ich machen.«

Jemand stürmte in raschem Stakkato die Treppe hinauf. Als Laurel sich umdrehte und Kleas Rotschopf um die Ecke biegen sah, erlitten ihre zerrütteten Nerven einen weiteren Schock.

Barnes sah überrascht aus. »Sie? Aber …«

In dem Bruchteil der Sekunde, in dem Laurel blinzelte, hörte sie, wie ein Klettverschluss aufgerissen wurde. Als sie die Augen wieder öffnete, erblühte ein großer roter Kreis mitten auf Barnes’ Stirn, und in ihren Ohren dröhnten Schüsse. Einen superkurzen Augenblick lang ließ Barnes noch einen erstaunten Blick durch den Raum schweifen, ehe sein Kopf durch die Wucht der Kugel nach hinten geworfen wurde. Er fiel um. Der beißende Geruch von Schießpulver lag in der Luft und Laurel und Chelsea schrien laut auf. Die Sekunden fühlten sich wie Stunden an, ehe Laurel keuchend Luft holte und Chelsea in ihrem Stuhl zusammensank.

»Das war wirklich knapp«, sagte Klea reumütig.

Laurel drehte sich zu David und Klea um. Kleas Pistole kam Laurel bekannt vor. Als sie sich vergewissern wollte, entdeckte sie, dass Davids Hemd über seinem versteckten Halfter aus der Hose und in seinen Fesseln festhing.

»S-s-siehst du, Laurel«, stöhnte David. Seine Zähne klapperten vor Kälte oder vor Schock – wahrscheinlich wegen beidem. »Habe ich nicht immer gesagt, dass uns diese Pistole noch nützen würde?«

Laurel konnte sich nicht rühren, sie war wie gelähmt vor Erleichterung, Angst, Ekel und Schock. Sie starrte unverwandt auf die rote Pfütze unter Barnes’ Kopf und auf seine Leiche in der grotesken Verzerrung des plötzlichen Todes. Und auch wenn sie wusste, dass die Welt ohne Barnes besser dran war, war ihr die Vorstellung verhasst, dass sie unmittelbar an seinem Tod beteiligt war.

Sie ging zu Klea und starrte in die notorische Sonnenbrille. Auf einmal fand sie ihr Misstrauen und ihre Weigerung, sie anzurufen, nur noch paranoid. Zum zweiten Mal hatte Klea sie von der Schwelle des Todes gerissen. Und nicht nur sie, sondern auch die beiden besten Freunde, die sie auf der Welt hatte. Diese Schuld würde sie nie zurückzahlen können.

Und doch hielt sie das gewisse Etwas, das sie störte, auch jetzt noch zurück. Irgendetwas in ihrem tiefsten Inneren sagte ihr, dass dieser Frau nicht zu trauen war.

»Hier«, sagte Klea mit ruhiger Stimme, als sie Laurel ein Messer reichte. Verblüffend ruhig, dachte Laurel, für jemanden, der gerade einem Mann in den Kopf geschossen hatte. »Schneide ihre Fesseln los und kommt dann alle runter. Ich muss mein Team reinholen.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging die Treppe hinunter.

Laurel lief zu David und hackte auf die Fesseln ein. Unter der rasiermesserscharfen Klinge rissen sie sofort. »Sag nichts«, flüsterte sie. »Weder zu Chelsea, und schon gar nicht zu Klea. Ich denke mir was aus.« Vorsichtig betastete sie seine Rippen. »Sobald wir wieder am Auto sind, kümmere ich mich um deine Rippen und deine Hand. Hauptsache, wir kommen erstmal hier raus.«

Er nickte. Vor Schmerzen war sein Gesicht bleich und verzerrt.

Laurel eilte zu dem Stuhl, auf dem Chelsea festgebunden war, und machte auch mit ihren Fesseln kurzen Prozess. Chelseas Handgelenke waren wund gescheuert, und Laurel fragte sich, wie lange Barnes sie da hatte sitzen lassen, mit der Pistole an der Schläfe. Doch darüber wollte sie lieber nicht nachdenken und zog stattdessen Chelsea die Binde von den Augen.

Chelsea blinzelte im hellen Licht und rieb sich die Handgelenke, während Laurel sich um die Fesseln an ihren Knöcheln kümmerte.

»Kannst du laufen?«, fragte Laurel sanft.

»Das schaffe ich schon«, antwortete Chelsea, aber sie taumelte ein wenig, als sie aufstand. Sie konzentrierte sich auf David. »Du siehst auch nicht besonders toll aus.«

»Du solltest die anderen sehen«, konterte David mit einem schwachen Lächeln. Er zog Chelsea an sich und drückte sie mit mehr Kraft, als es seinen Rippen guttat. Doch Laurel konnte es ihm nicht vorwerfen. »Ich bin so froh, dass du noch lebst«, sagte er zu Chelsea.

Laurel schlang die Arme um ihre beiden Freunde. »Es tut mir unendlich leid, dass du da mit reingezogen worden bist, Chelsea. Ich hatte nie vor … ich hätte nie gedacht …«

»Was hattest du nie vor?«, fragte Chelsea und rieb über die roten Stellen an ihrem Hals. »Dafür zu sorgen, dass ich beinahe umgebracht werde? Das will ich hoffen. Bitte versichere mir, dass so was nicht zur Routine wird.« Sie atmete tief aus. »Was ist hier eigentlich passiert? «

Laurel sah David hilflos an. »Also, äh, weißt du … das ist folgendermaßen …«

»Ist gut«, sagte Chelsea und setzte sich auf denselben Stuhl, von dem Laurel sie gerade losgebunden hatte. »Ich bleibe einfach so lange hier sitzen, bis ihr euch eine gute Lüge ausgedacht habt.« Sie wedelte mit der Hand zur gegenüberliegenden Seite des Raumes. »Vielleicht solltest du dich dahinten mit David absprechen, damit eure Geschichten auch übereinstimmen. Das wäre schon besser so. Oder«, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger, »ihr erzählt mir einfach, dass in jedem Herbst eine blaulila Riesenblume an deinem Rücken wächst, Laurel, weil du anscheinend eine Art Elfe bist. Als Nächstes könntest du mir erklären, dass diese – hat er Orks gesagt – hinter dir her sind, weil du ein besonderes Tor vor ihnen verbirgst. Ich persönlich finde das Leben entschieden leichter, wenn man sich an die Wahrheit hält.«

Laurel und David standen mit offenem Mund vor ihr.

Verwirrt sah Chelsea von einem zum anderen. »Oh bitte«, sagte sie schließlich. »Ihr habt doch nicht ernsthaft geglaubt, ich wüsste nicht Bescheid, oder?«