Sechsundzwanzig

Klea ruderte sie in einem breiten Schlauchboot ans Festland. »Meine Jungs kümmern sich im Leuchtturm um den Rest«, sagte sie. »Bringt eure Freundin jetzt zu ihrem Auto und fahrt nach Hause.«

Als das Boot heftig auf den Strand prallte, stöhnte David vor Schmerz auf. Die drei Freunde stiegen aus und die beiden Mädchen stützten David möglichst unauffällig, damit Klea nicht merkte, wie schwer seine Verletzungen waren. Obwohl Klea ihnen das Leben gerettet hatte, waren sie sich einig, ihr so wenig wie möglich über Laurel zu verraten. Das bedeutete auch, David möglichst schnell zum Auto zu schaffen, damit Laurel ihn insgeheim versorgen konnte.

»Laurel«, rief Klea.

»Geht weiter«, flüsterte Laurel David und Chelsea zu. »Ich komme gleich nach.« Dann drehte sie sich um und ging zu Klea zurück.

»Es tut mir leid, dass ich nicht eher gekommen bin.«

»Sie sind genau rechtzeitig gekommen«, antwortete Laurel.

»Trotzdem wäre es besser gewesen, ich wäre zwei Minuten eher hier gewesen«, seufzte Klea und schüttelte den Kopf. »Gut, dass einer meiner Männer euch heute Nacht im Auge hatte. Ich wünschte …« Sie brach ratlos ab. »Ich wünschte, du hättest mich angerufen. Wie hast du im Übrigen diese vier Orks erledigt?«, fuhr sie fort, ehe Laurel auf die erste Frage antworten konnte. »Das war unglaublich.«

Laurel zögerte.

»Ich habe mir die Orks angesehen. Keine gebrochenen Knochen, keine Schusswunden, nicht die geringste Verletzung. Einfach ausgeknipst und ein paar Stunden schlafen die wohl noch. Willst du mir erzählen, was wirklich passiert ist?«

Laurel presste die Lippen aufeinander, während sie verzweifelt nach einer passenden Lüge suchte. Doch ihr fiel nichts ein. Sie war einfach zu müde, um sich etwas auszudenken. Aber die Wahrheit würde sie Klea auch nicht sagen. Also hielt sie den Mund.

»Na gut«, sagte Klea mit einem sonderbaren Lächeln. »Ich verstehe, du hast deine Geheimnisse. Es ist sonnenklar, dass du mir nicht vertraust«, fuhr sie leise fort. »Ich hoffe, das wird sich ändern. Ich hoffe, dass du mir eines Tages voll und ganz vertraust. Wie man sieht, kannst du dich ganz gut wehren, aber ich könnte dir helfen, mehr als du dir vorstellen kannst. Unabhängig davon«, sagte sie mit einem Blick zum Leuchtturm, »ist es schön, echte Exemplare zur Hand zu haben. Sehr hilfreich.«

Der Ton, in dem Klea Exemplare sagte, gefiel Laurel gar nicht. Doch sie schwieg.

Klea sah sie lange an. »Ich melde mich«, sagte sie entschlossen. »Du hast dich als sehr einfallsreich erwiesen. Ich könnte deine Hilfe in einer anderen Angelegenheit – die hiermit nichts zu tun hat – gut gebrauchen. Aber das kann warten.« Ehe Laurel etwas dazu sagen konnte, drehte Klea sich auf dem Absatz um, sprang leichtfüßig wieder in das Schlauchboot und griff zum Ruder.

Laurel blieb so lange stehen, bis Klea vom Sandstrand abgelegt hatte. Als sie David und Chelsea eingeholt hatte, waren sie schon am Auto. David stöhnte, als er auf den Beifahrersitz glitt, und Chelsea nahm Laurel am Arm. »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. Seine Rippen sind gebrochen und die Wunde unter dem Auge muss wahrscheinlich genäht werden.«

»Wir können nicht ins Krankenhaus«, erwiderte Laurel und kramte in ihrem Rucksack.

»Laurel!« Chelsea war sehr blass. »David braucht Hilfe!«

»Keine Sorge.« Laurel packte ein Fläschchen mit blauer Flüssigkeit aus. »Es hat auch Vorteile, mit einer Elfe befreundet zu sein.« Es war wunderbar, so etwas zu Chelsea sagen zu können. Sie schraubte das Fläschchen auf und beugte sich mit der Pipette über David, der schwer atmete. »Mach den Mund auf«, sagte sie sanft.

David schlug die Augen auf und entdeckte die vertraute Flasche. »Oh Mann«, sagte er. »So was Schönes habe ich die ganze Nacht noch nicht gesehen.« Er öffnete den Mund und Laurel gab ihm zwei Tropfen.

»Jetzt musst du stillhalten«, sagte sie und träufelte einen Tropfen auf ihren Finger. Dann rieb sie die Flüssigkeit in die klaffende Wunde auf seiner Wange. »Schon besser«, flüsterte sie, während sie zusah, wie die Haut sich wieder schloss.

Sie stand auf und wandte sich Chelsea zu. »Tut dir auch irgendwas weh?«

Chelsea schüttelte den Kopf. »Er war eigentlich ganz nett zu mir, wenn man bedenkt …« Doch sie konnte den Blick nicht von David wenden. »Moment mal!« Sie beugte sich über ihn und untersuchte die Haut unter seinem Auge. »Ich hätte schwören können …«

Laurel lachte und selbst David stimmte leise ein. »In einigen Minuten sind auch seine Rippen und seine Hand verheilt.«

»Machst du Witze?«, fragte Chelsea, die Augen weit aufgerissen.

Laurel fühlte sich an Davids Reaktion auf die Erkenntnis, dass sie eine Elfe war, erinnert. Grinsend hielt sie die blaue Flasche hoch. »Das können wir wirklich gut gebrauchen, so oft, wie David sich von Orks verprügeln lässt.«

David protestierte schnaubend.

»Und warum tust du das Zeug nicht auch auf deine Hand?«, fragte Chelsea.

Laurel senkte den Blick auf ihre versengten Finger und fragte sich erneut, wie sie jemals glauben konnte, dass sie vor Chelsea etwas verbergen könnte. Man sah kaum, dass sie verletzt war, denn im Gegensatz zu den Menschen wurde ihre Haut nicht rot, wenn sie verbrannt war. Laurels Hautfarbe hatte sich überhaupt nicht verändert. Doch auf ihrer Handfläche hatten sich kleine Blasen beziehungsweise Pusteln gebildet, die sich auch über zwei Finger zogen. Sie starrte verwundert auf ihre schmerzende Hand. Sie hatte noch nie Pusteln gehabt.

Jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern.

»Das ist nur für Menschen«, sagte sie leise. »Ich brauche etwas anderes.« Sie zögerte kurz. »Hey, Chelsea«, sagte sie dann leise.

Chelsea und David hoben den Blick, da sie so ernst klang.

Laurel holte tief Luft. »Ich bin echt froh, weil du jetzt weißt, dass ich eine Elfe bin. Es ist so schrecklich, wenn man sich vor der ganzen Welt verleugnen muss. Aber jeder, der es weiß, ist automatisch in Gefahr. Deshalb …«

»Schon gut, Laurel«, sagte Chelsea. »Mir ist es lieber so. Und die Schattenseiten muss ich eben in Kauf nehmen. «

»Das ist aber noch nicht alles«, sagte Laurel. »Solche Dinge wie heute passieren leider häufiger. Wenn du …« Sie machte eine Pause. Als sie David eine Hand auf die Schulter legte, war sie froh, dass er sie nicht abschüttelte. »Wenn du das mit uns durchstehen willst, wenn du also zu uns gehören willst, könnte man sagen, kann ich nicht für deine Sicherheit garantieren. Ryan könnte auch in Gefahr geraten. Denk nur mal an heute Nacht. Ich habe dir gar nichts verraten und trotzdem bist du entführt worden. Denk also gut nach – ganz nüchtern –, bevor du sagst, dass du es wirklich so haben willst.«

Chelsea sah sie skeptisch an. »Tja, jetzt ist es doch sowieso zu spät, oder? Ich hänge mit drin, ob ich nun will oder nicht.«

»Na ja …«

David und Chelsea sahen sie fragend an.

»Ich könnte …« Laurel zwang sich, mit der Sprache rauszurücken. »Ich könnte dafür sorgen, dass du vergisst, was heute Nacht passiert ist.«

»Nein, Laurel!«, sagte David.

»Sie soll entscheiden können«, beharrte Laurel. »Ich will sie zu nichts zwingen.«

»Du könntest mich all dies vergessen lassen?«, fragte Chelsea leise und zaghaft. »Einfach so?«

Laurel nickte, aber allein bei der Vorstellung bekam sie Beklemmungen.

»Aber ich habe die Wahl, stimmt’s?«

»Du hast die Wahl«, bestätigte Laurel.

Chelsea ließ sie noch ein wenig zappeln, ehe sie breit grinste. »Oh Mann, diese Erinnerung würde ich für nichts auf der Welt hergeben!«

Laurel fiel Chelsea um den Hals. »Danke«, sagte sie, wusste aber gar nicht, ob sie sich jetzt in erster Linie dafür bedankte, dass Chelsea ihr Geheimnis bewahrte oder weil sie ihr nicht das Erinnerungselixier verabreichen musste.

Sie stiegen allesamt in den Wagen, und Laurel bestand darauf zu fahren, obwohl Davids Rippen bereits fast verheilt waren. Sie fuhr die halbe Strecke zu Ryan, weil Chelsea dahin unterwegs gewesen war, als Barnes sie abfing. Der Wagen ihrer Mutter war in der Nähe eines Stoppschilds gekonnt auf dem Seitenstreifen geparkt worden. Es sah ganz unauffällig aus. Niemand würde sich vorstellen, was hier wirklich passiert war. Laurel stieg mit aus und brachte Chelsea zu ihrem Auto.

»Das ist doch verrückt, oder?«, sagte Chelsea. »Ich setze mich gleich ins Auto und fahre in meinen Alltag zurück, als wäre nichts passiert. Und keiner wird denken, dass ich eine völlig neue Welt kennengelernt habe.« Sie zögerte. »Obwohl ich die Geschichte mit den Elfen nun rausgefunden habe – übrigens schon letztes Jahr«, kicherte sie, »habe ich noch tausend Fragen. Falls du nichts dagegen hast, darüber zu reden«, fügte sie hinzu.

»Im Gegenteil.« Laurel lächelte. »Ehrlich gesagt bin ich total glücklich, dass du Bescheid weißt. Ich finde es schrecklich, etwas vor dir geheim zu halten.« Sie wurde wieder ernst. »Aber nicht mehr heute Abend. Fahr jetzt nach Hause«, sagte Laurel und legte Chelsea eine Hand auf die Schulter. »Nimm deine Familie in den Arm und schlaf ein wenig. Morgen kannst du mich ja dann anrufen und wir reden. Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst«, sagte sie ernsthaft. »Wirklich alles. Schluss mit den Geheimnissen, versprochen.«

Chelsea grinste. »Super, das finde ich ganz toll.« Sie beugte sich vor und umarmte Laurel. »Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte sie und wurde auch wieder ernst. »Ich hatte furchtbare Angst.«

Laurel schloss die Augen, als sie Chelseas weiche Locken an ihrer Wange spürte. »Da warst du nicht die Einzige«, sagte sie leise.

Nachdem sie sich lange umarmt hatten, wollte Chelsea schon einsteigen, drehte sich aber noch mal zu Laurel um. »Dir ist klar, dass ich dich morgen früh um, na, sagen wir, sechs Uhr anrufe, oder?«

Laurel lachte. »Kein Problem.«

Sie hätte sich denken können, dass Chelsea ihr das Camp in der Wildnis nicht abkaufen würde. Lachend winkte sie ihr nach, als Chelsea mit quietschenden Reifen in die stille Nacht fuhr.

Während Laurel und Chelsea sich unterhielten, war David auf den Fahrersitz gerutscht. Laurel ging zur Beifahrertür und stieg ein. Während ihrer schweigsamen Fahrt beleuchteten die Straßenlaternen Davids grübelnde Züge.

Laurel wünschte, er würde etwas sagen. Irgendwas.

Doch David machte den Mund nicht auf.

»Was willst du deiner Mutter erzählen?«, fragte Laurel schließlich vor allem, um das unerträgliche Schweigen zu brechen.

David gab ihr lange keine Antwort, und Laurel hatte schon Angst, dass er nie wieder mit ihr reden würde. »Keine Ahnung«, sagte er dann erschöpft. »Ich habe das Lügen so satt.« Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Aber ich werde mir was ausdenken.«

Als David zu sich abbog, schwenkten die Scheinwerfer über sein Haus. Er drückte auf den Knopf an seiner Sonnenblende und die Garagentür öffnete sich langsam. Beide Parkplätze waren leer.

»Oh, gut«, seufzte David. »Sie ist gar nicht da. Wenn ich Glück habe, muss ich ihr gar nichts erzählen.«

Sie stiegen aus und blieben lange einfach dort stehen und schwiegen sich an.

»Tja, trotzdem sollte ich mich lieber umziehen«, sagte David schließlich und zeigte auf die Seitentür. »Meine Mutter hat viel Vertrauen zu mir, aber auch sie würde sich fragen, warum ich im November baden gehe.« Er lachte nervös. »Und dann auch noch angezogen.«

Laurel nickte und David wandte sich zum Gehen.

»David?«

Er blieb an der Tür stehen und drehte sich schweigend zu ihr um.

»Ich fahre morgen zum Grundstück.«

Er senkte den Blick.

»Ich werde Tamani sagen, dass ich ihn nicht mehr besuchen komme. Nie mehr.«

Jetzt hob er den Kopf. Er sah immer noch grimmig aus, aber ein Funkeln in seinen Augen machte Laurel Hoffnung.

»Ich muss nächstes Jahr wieder nach Avalon, um auf die Akademie zu gehen, weil es wichtig ist. Vielleicht ist es jetzt sogar noch wichtiger, da Barnes tot ist. Es hat mir gar nicht gefallen, was er gesagt hat … darüber, dass es um etwas Größeres ging. Keine Ahnung, was für Konsequenzen die Aktion von heute Abend noch haben wird. Ich …« Sie zwang sich, zur Sache zu kommen, und holte tief Luft. »Was ich sagen will, ist, dass ich nicht mehr versuchen werde, beiden Welten gerecht zu werden. Ich lebe hier und hier spielt sich mein Leben auch weiterhin ab. Meine Eltern sind hier. Du bist hier. Ich kann nicht in zwei Welten gleichzeitig leben. Deshalb entscheide ich mich für diese Welt.« Sie machte eine Pause. »Ich entscheide mich für dich, hundertprozentig. « Ihr kamen die Tränen, aber sie redete weiter. »Tamani versteht mich nicht so wie du. Er möchte, dass ich anders bin, aber so weit bin ich noch nicht. Vielleicht wird es nie dazu kommen. Du aber willst, dass ich so bin, wie ich sein will. Du möchtest, dass ich selbst entscheide. Ich finde es toll, dass dir wichtig ist, was ich gerne hätte. Und ich liebe dich.« Sie hielt inne. »Ich … ich hoffe, dass du mir verzeihst. Aber auch wenn du es nicht tust, werde ich morgen fahren. Du hast mir gesagt, ich soll die Entscheidungen meines Lebens selbst treffen, und das tue ich hiermit. Ich entscheide mich für dich, David, auch wenn du dich nicht für mich entscheidest. «

Er wandte den Blick nicht ab, aber er sagte immer noch nichts.

Laurel nickte bedrückt. Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass er sofort auf ihre kleine Rede reagieren würde. Dafür hatte sie ihn zu sehr verletzt. Sie drehte sich um und ging zu ihrem Auto.

»Laurel?« Als sie sich umschaute, fasste er bereits ihr Handgelenk und zog sie an sich. Er suchte ihren Mund, seine Lippen waren so warm und so sanft, als er sie umschlang und ganz, ganz festhielt.

Sie küsste ihn leidenschaftlich zurück. Endlich fiel die Angst dieser Nacht von ihr ab und Erleichterung durchflutete sie. Barnes war tot. Und unabhängig von der Zukunft waren sie jetzt in Sicherheit. Chelsea war in Sicherheit und David auch. Und er würde ihr verzeihen.

Das war das Allerbeste.

Endlich ließ er sie los und strich ihr mit dem Finger über die Wange.

Sie legte den Kopf an seine Brust und lauschte dem beständigen Schlag seines Herzens, als schlüge es nur für sie.

David hob ihr Kinn und küsste sie noch mal. Laurel lehnte sich an das Auto und zog ihn an sich. Sie spürte seinen warmen Körper überall.

Ihre Eltern konnten auch noch ein paar Minuten länger warten.



Kurz nach elf schleppte Laurel sich vom Auto zur Haustür. Sie blieb kurz stehen und sammelte sich. Es war kaum zu fassen, dass sie erst an diesem Morgen aufgebrochen war, um mit Tamani zur Samhain-Feier zu gehen. Es kam ihr vor, als wäre es Monate her.

Oder Jahre.

Mit einem tiefen Seufzer drückte Laurel die Klinke herunter und ging ins Haus.

Ihre Eltern warteten auf dem Sofa auf sie. Ihre Mutter sprang auf, als die Haustür ging, und wischte sich die Tränen von der Wange. »Laurel!« Sie lief auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht!«

Es war sehr lange her, seit ihre Mutter sie so innig umarmt hatte. Laurel drückte sie fest an sich, so überwältigt war sie von diesem Gefühl der Sicherheit, das nichts mit Orks oder Elfen zu tun hatte. Dieses Gefühl, dazuzugehören, war völlig losgelöst von Avalon. Und die Liebe, die sie spürte, hatte nichts mit David oder Tamani zu tun.

Laurel legte ihr Gesicht an die Schulter ihrer Mutter. Hier bin ich zu Hause, dachte sie leidenschaftlich. Hier gehöre ich hin. Avalon war wunderschön, ja perfekt. Es war zauberhaft, exotisch und aufregend. Aber es fehlte auch etwas – die Akzeptanz und die Liebe, die sie in ihrer menschlichen Familie und bei ihren menschlichen Freunden fand. Noch nie war ihr Avalon so oberflächlich, so unwirklich erschienen wie in diesem Augenblick. Es war an der Zeit, ihr echtes Zuhause zu erkennen. Ihr einziges Zuhause.

Sie hörte, wie auch ihr Vater zu ihr kam, und als sie seine starken Arme spürte, war sie sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sie konnte nicht in zwei Welten leben, und dieses war die Welt, die zu ihr gehörte. Sie lächelte ihre Eltern an und sank aufs Sofa. Sie setzten sich links und rechts neben sie.

»Und, was ist denn nun passiert?«, fragte ihr Vater.

»Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, antwortete Laurel zögernd. »Ich war nämlich nicht ganz ehrlich zu euch, und das schon seit Langem.«

Doch jetzt holte sie tief Luft und erklärte ihren Eltern alles von Anfang an. Sie erzählte von den Orks und ging bis zum vergangenen Herbst und in die Krankenhauszeit zurück. Sie machte ihnen begreiflich, warum Jeremiah Barnes nie wiedergekommen war, um das Grundstück zu kaufen, und warum er es überhaupt hatte erwerben wollen. Laurel erzählte ihren Eltern von den Wachtposten, die für ihre Sicherheit zuständig waren. Sie sagte sogar die Wahrheit über die »kämpfenden Hunde« in dem Wäldchen hinterm Haus und über Klea. Laurel ließ nichts aus, und als sie endlich zu den Ereignissen dieses Abends kam, schüttelte ihr Vater nur den Kopf. »Und das hast du alles ganz allein geregelt?«

»Nein, Dad, ich hatte so viel Hilfe! Von David, Chelsea … und Klea. Allein hätte ich das nie geschafft.« Laurel hielt inne und sah ängstlich ihre Mutter an, die aufgestanden war und am Fenster hin- und herlief.

»Tut mir wirklich leid, dass ich es euch nicht eher erzählt habe, Mom«, sagte Laurel. »Ich hatte das Gefühl, dass du an der Elfengeschichte schon ohne Orks genug zu kauen hattest. Ich weiß auch, dass es eine Weile dauern wird, damit klarzukommen, aber ich verspreche euch, dass ich von nun an nichts mehr vor euch geheim halten werde … solange ihr … mir einfach zuhört und…« Sie schniefte. »Und mich trotzdem weiter lieb habt.«

Laurels Mutter drehte sich zu ihr um, aber aus ihrem Blick wurde Laurel nicht schlau. »Es tut mir so leid, Laurel.«

Damit hatte Laurel nun überhaupt nicht gerechnet. »Wie bitte? Aber ich habe euch doch angelogen!«

»Du hattest Geheimnisse vor uns, das kann schon sein, aber du hättest uns vielleicht mehr erzählt, wenn ich bereit gewesen wäre, dir zuzuhören. Dafür will ich mich entschuldigen.« Sie beugte sich vor und umarmte Laurel, die auf einmal unendlich froh war. Sie hätte abheben können, so glücklich war sie! Ihr war gar nicht klar gewesen, wie schwer es ihr gefallen war, ihren Eltern so viel zu verheimlichen.

Ihre Mutter setzte sich wieder aufs Sofa und legte einen Arm um Laurel. »Als du uns erzählt hast, dass du eine Elfe bist, war es merkwürdig und kaum zu glauben. Das Schlimmste daran war aber, dass ich mir völlig überflüssig vorkam. Du warst etwas so Wunderbares und dein ganzes Leben warst du von diesen … Elfen-Wächtern, oder wie sie heißen, umgeben, die auf dich achtgaben. Mich brauchtest du gar nicht.«

»Falsch, Mom.« Laurel schüttelte den Kopf. »Ich werde dich immer brauchen. Du bist die beste Mom aller Zeiten. Immer gewesen.«

»Es hat mich so wütend gemacht. Ich wusste, dass ich solche Gefühle nicht haben sollte, aber so war es nun mal. Ich habe es an dir ausgelassen. Das wollte ich eigentlich nicht«, sagte ihre Mutter. »Aber ich habe es trotzdem getan. Und das, obwohl du die ganze Zeit Angst um dein Leben hattest«, fuhr sie fort. »Und dieses schreckliche Geheimnis bewahren musstest.« Sie sah Laurel an. »Es tut mir wirklich fürchterlich leid. Ich werde versuchen … also, ich habe versucht …«

»Das habe ich doch gemerkt«, sagte Laurel lächelnd.

»Also, ich werde mich noch mehr bemühen.« Sie küsste Laurel auf die Stirn. »Als du heute Nacht aus meinem Laden gestürmt bist, hatte ich Angst, dich nie wiederzusehen. Und ich hätte nicht einmal gewusst, warum. Das Einzige, was ich außer dieser schrecklichen Angst spürte, war die Reue. Ich habe bereut, dir nicht all meine Liebe gezeigt zu haben. Denn ich habe nie aufgehört, dich lieb zu haben.« Sie lehnte sich an Laurel.

»Ich liebe dich auch, Mom«, erwiderte Laurel und drückte ihre Mutter an sich.

»Und ich habe euch beide lieb.« Ihr Vater grinste und umarmte sie so fest, dass Laurel in der Mitte geradezu eingequetscht wurde. Nun mussten sie alle lachen und die Spannungen des letzten Jahres verpufften. Es würde noch etwas dauern – in einer Nacht ließ sich nicht mal eben alles ändern –, aber der Anfang war gemacht. Das reichte ihr.

»Und jetzt«, sagte ihre Mutter, »musst du uns erzählen, wie es heute in Avalon war.« Ihr Tonfall war noch etwas gezwungen, aber ihr Interesse klang echt.

»Es war unglaublich.« Laurel wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte. »Das hätte ich mir nie träumen lassen.«

Ihre Mutter tätschelte ihr Bein und Laurel legte den Kopf auf ihren Schoß. Dann strich ihre Mutter ihr durchs Haar, wie sie es immer gemacht hatte, als Laurel ein kleines Mädchen war. Und Laurel schilderte ihren staunenden Eltern die Wunder von Avalon.