Vierundzwanzig

In grüblerischem Schweigen gingen Laurel und Tamani durch das Tor. Die vertraute Brigade von Wachtposten begrüßte sie. Shar trat vor und sah Laurel böse an. »Wir haben Besuch«, teilte er Tamani mit.

»Orks?« Alarmiert schob Tamani Laurel zum Tor zurück. »Laurel, geh wieder nach Avalon.«

Shar verdrehte die Augen. »Doch keine Orks, Tam. Glaubst du wirklich, wir hätten euch durchgelassen, wenn Orks in der Gegend wären?«

Mit einem Seufzer ließ Tamani die Hände sinken. »Natürlich nicht. Ich habe nicht richtig nachgedacht.«

»Es ist der Menschenjunge, der auch im vergangenen Herbst hier war.«

»David?«, fragte Laurel schwächlich. Wie hat er es herausgefunden?

Shar nickte, als Tamani wütend aufsah. »Ich bringe sie zu ihm.« Tamani trat einen Schritt vor. »Wo ist er?«

»Er hält Abstand«, erwiderte Shar und neigte vage den Kopf. »Vorne am Haus.«

»Bin gleich wieder da«, sagte Tamani, legte die Hand um Laurels Oberarm und zog sie Richtung Blockhaus. Außer Sichtweite des Tores ließ er sie wieder los.

»Ich möchte mit ihm reden«, sagte Tamani leise.

»Nein!«, widersprach Laurel. »Das geht nicht.«

»Ich will wissen, was er zu deiner Sicherheit unternimmt. « Tamani mied ihren Blick. »Mehr nicht.«

»Kommt nicht infrage«, sagte Laurel mit zusammengebissenen Zähnen.

»Was ist dir denn wegen David noch alles egal?«, fragte Tamani, am Ende seiner Weisheit. »Ich, schon klar. Und was noch? Dein Leben? Das deiner Eltern? Sogar Davids Leben, nur damit ich mich nicht einmische und eurer süßen Liebesgeschichte einen Stich versetze? Ich will doch nur mit ihm reden.«

»Du willst ihn einschüchtern. Und seine Position als mein Freund untergraben. Ich kenne dich, Tamani.«

»Könnte ich ruhig machen, wenn er schon mal hier ist«, knurrte Tamani mit einem bösen Blick auf den Weg zum Haus.

»Ich habe ihn nicht darum gebeten«, sagte Laurel. Sie hatte das absurde Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

Tamani schwieg.

»Er müsste eigentlich noch arbeiten. Ich weiß gar nicht, woher er weiß, dass ich hier bin.«

Tamani blieb wie angewurzelt stehen und sah sie an. »Du hast ihn angelogen?« Seine Miene war ausdruckslos.

»Ich …«

»Du hast ihn angelogen, weil du herkommen und mich treffen wolltest?« Tamani lachte. »Du hast für mich gelogen. Ich fühle mich geehrt.« Seine Stimme war barsch, aber es lag noch etwas darin. Triumph. Freude.

Laurel lachte spöttisch und ging weiter. »Mach dir bloß keine Hoffnungen, das hatte nichts mit dir zu tun.«

Tamani packte sie am Arm und wirbelte sie so heftig herum, dass sie taumelnd an seine Brust fiel. Er versuchte nicht, sie zu umarmen, sondern hielt sie nur an den Armen fest. »Ach nein? Sag mir ins Gesicht, dass du mich nicht liebst.«

Laurel bewegte den Mund, aber es kam kein Laut über ihre Lippen.

»Na los«, sagte er kühl und fordernd. »Sag mir, dass David alles ist, was du im Leben brauchst.« Sein Gesicht war ganz nah an ihrem, sein Atem strich zärtlich über ihre Haut. »Sag schon, dass du nie an mich denkst, wenn du ihn küsst. Dass du nicht so von mir träumst wie ich von dir. Sag mir, dass du mich nicht liebst.«

Verzweifelt blickte sie zu ihm auf. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und die Worte, die sie herauswürgen wollte, blieben stecken.

»Du kannst es nicht einmal sagen«, erklärte Tamani und drückte sie an sich, statt sie nur festzuhalten. »Dann liebe mich, Laurel. Liebe mich einfach!«

Sein Gesicht spiegelte eine Sehnsucht, ein solches Verlangen, dass sie es kaum ertragen konnte. Sie konnte ihn nicht schon wieder verlassen. Nicht so – jetzt da er Bescheid wusste. Warum konnte sie es bloß nicht besser verbergen? Warum kam sie immer wieder zurück, obwohl sie wusste, dass sie nicht bleiben konnte? Es verletzte ihn mehr als sie. Was hatte das mit Liebe zu tun? Liebe sollte nicht so selbstsüchtig sein.

Er strich ihr mit den Lippen über das Gesicht, liebkoste ihre Haare, als brächen sich all die Gefühle, die er unterdrückt, alle Versuchungen, denen er widerstanden hatte, Bahn wie ein reißender Fluss. Und sie lief Gefahr, von der Strömung fortgerissen zu werden.

Laurel zwang sich, die Augen zu öffnen. Was sie empfand, war nicht ausschlaggebend – sie konnte nicht mit ihm zusammen sein. Nicht jetzt jedenfalls. Solange sie noch in der Welt der Menschen lebte, wäre jede Beziehung mit Tamani nur eine halbe Sache. Es würde ihr nicht gefallen, und auch wenn er es abstreiten würde, würde Tamani ihr das letztendlich vorwerfen. Zurzeit war sie noch nicht bereit, ihr Menschenleben hinter sich zu lassen. Sie wollte an der Highschool ihren Abschluss machen und selbst entscheiden, wie es danach weiterging. Laurel hatte eine Familie und Freunde, und das Leben lag vor ihr – ein Leben, das sie nicht mit Tamani verbringen konnte. Sie schloss die Augen wieder und vertrieb ihren Traum, den Traum von einem Leben mit ihm. Es wäre nicht traumhaft, es hätte kein Happy End. Sie musste ihn fortschicken.

Jetzt oder nie.

»Ich liebe dich nicht«, flüsterte sie und verlor beinahe den Mut dazu, als er sie auf den Hals küsste.

»Doch, Laurel, das tust du«, flüsterte er und strich mit den Lippen zärtlich über ihr Ohr.

»Nein, tue ich nicht«, sagte sie mit festerer Stimme, weil sie akzeptiert hatte, was zu tun war. Mit beiden Händen schob sie ihn von sich. »Ich liebe dich nicht. Ich muss zurückgehen. Und du wirst nicht mitkommen.«

Sie drehte sich um, ehe sie es sich anders überlegte.

»Laurel …«

»Nein! Ich habe gesagt, dass ich dich nicht liebe. Ich … ich kenne dich kaum, Tamani. Die paar Nachmittage, ein Ausflug zu einem Fest – was hat das mit Liebe zu tun?« Was hätte sie sonst tun sollen? Er hatte ja recht. Wenn sie ihm jedes Mal, wenn sie ging, Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft machte, war das grausam. Unsäglich grausam. Sie musste ihn davon überzeugen, dass daraus nichts wurde. Auf Dauer würde ihn das weniger verletzen. »Ich gehe jetzt zu David.« Damit verschoss sie ihr letztes Pulver und lief los, ohne abzuwarten, wie er reagierte. Sie war sicher, dass sie damit nicht umgehen konnte.

Auf dem Weg zum Blockhaus erwartete sie jeden Moment, dass Tamani zurückbleiben würde. Doch selbst am Waldrand war er ihr noch immer auf den Fersen. »Hör auf, mich zu verfolgen«, fauchte sie.

»Ich glaube kaum, dass du mich herumkommandieren kannst«, sagte er knapp.

Gemeinsam traten sie aus dem Wald, Tamani direkt hinter Laurel. Sie sah David sofort, und er sah sie … eine Sekunde, ehe er Tamani erkannte. Verletzt und vorwurfsvoll schaute er zu ihr, sprang von der Motorhaube ihres Sentra und ging zu seinem Wagen.

»David!«, rief Laurel und wollte zu ihm laufen.

Doch Tamani packte sie und drehte sie zu sich herum. Ehe sie protestieren konnte, presste er seinen Mund unsanft auf ihre Lippen. Dieser Kuss war so drängend, fordernd und so heiß, dass Laurel sekundenlang buchstäblich abhob. Doch dann stieß sie ihn wütend weg und schaute unverzüglich zu David, um zu sehen, ob er den Kuss mitbekommen hatte.

Er starrte sie entsetzt an.

Als sich Davids und Tamanis Blicke trafen, verbissen sie sich ineinander.

Tamani hielt Laurel noch immer am Handgelenk fest. Sie riss sich los. »Hau ab!«, sagte sie. »Ich will nur noch, dass du gehst!« Ihre Stimme bebte. »Ich meine es ernst!«, schrie sie. »Verschwinde!«

Als er sie mit angespannter Miene schweigend ansah, brachte sie es kaum fertig, seinem Blick standzuhalten. Seine Augen schwammen in dem Vorwurf, betrogen worden zu sein, und forderten sie gleichzeitig heraus, suchten nach dem kleinsten Zeichen dafür, dass sie es doch nicht ernst meinte. Immer dieser Funke Hoffnung, der nie erlosch.

Doch Laurel schaute nicht weg. Es war besser so. Vielleicht eines Tages … doch sie durfte nicht einmal darüber nachdenken. Er musste gehen, musste sie zurücklassen. Es wäre ungerecht, so weiterzumachen wie bisher.

Geh doch, flehte sie ihn in Gedanken an. Bitte geh, bevor ich meine Meinung ändere. Geh!

Als könnte er ihre innersten Gefühle verstehen, wandte Tamani sich auf dem Absatz um und ging in den Wald zurück. Schweigend verließ er sie.

Laurel konnte den Blick nicht von der Stelle wenden, wo er eben noch gestanden hatte. Doch sie musste das tun. Denn je länger sie hinsah, umso schwieriger würde es mit David werden.

Als sie sich losriss, öffnete David bereits die Autotür.

»David!«, rief sie. »David, warte doch!« Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »David, fahr noch nicht!«

»Und warum nicht?« Er starrte auf den Fahrersitz und weigerte sich, ihr ins Gesicht zu sehen. »Ich habe alles gesehen. Jetzt muss ich mir nur noch vorstellen, was ich nicht gesehen habe.«

»So war es nicht«, sagte sie, während sie von Scham und Schuldgefühlen überwältigt wurde.

»Ach, nein?« Jetzt drehte er sich um und sah sie ausdruckslos an. Wenn er traurig ausgesehen hätte oder wenigstens wütend, hätte sie damit umgehen können. Aber er sah nüchtern aus, als ginge ihn das alles nichts an.

»Nein«, sagte sie leise.

»Wie war es denn dann, Laurel? Ich werde dir sagen, wie es aus meiner Sicht war. Du hast mich angelogen, um dich hier mit ihm zu treffen und mit ihm zusammen zu sein.«

»Ich habe nicht gelogen«, sagte Laurel hilflos.

»Nicht mit Worten, aber gelogen hast du trotzdem.« David machte eine Pause. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. »Ich habe dir vertraut, Laurel. Ich habe dir immer vertraut. Und nur weil du mir keine richtige Lüge erzählt hast, heißt das noch lange nicht, dass du mein Vertrauen nicht missbraucht hast.« Er hob den Blick. »Ich habe eher aufgehört zu arbeiten, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Ich hatte Angst um dich. Und als deine Mom mir sagte, du wärest bei Chelsea, habe ich dort angerufen. Aber sie wusste überhaupt nicht, wovon ich rede. Und weißt du, was ich dann gedacht habe? Ich dachte, du wärest tot, Laurel! Ich dachte, du wärest tot!«

Laurel erinnerte sich, dass sie am Montag dasselbe von ihm gedacht hatte, und senkte beschämt den Blick.

»Aber dann fiel mir ein, dass es einen Ort gibt… eine Person«, sagte er wütend, »wohin du dich vielleicht gern fortstehlen würdest. Und als ich hier ankomme, um mich zu vergewissern, dass du in Sicherheit bist, muss ich zusehen, wie ihr euch küsst!«

»Ich habe ihn nicht geküsst!«, schrie Laurel. »Er hat mich geküsst!«

David schwieg, aber in seinem Gesicht arbeitete es. »Diesmal vielleicht«, sagte er mit eisiger Stimme. »Aber ich habe gesehen, wie er dich geküsst hat, und glaub mir, das war nicht das erste Mal. Na los, willst du das bestreiten? Ich höre.«

Laurel sah auf den Boden, das Auto, die Bäume, nur nicht in seine vorwurfsvollen Augen.

»Ich wusste es. Ich wusste es!«

David warf sich auf den Fahrersitz, knallte die Tür zu und ließ den Motor aufheulen. Er legte den Rückwärtsgang ein und hätte Laurel, die wie angewurzelt stehen geblieben war, beinahe über den Haufen gefahren. Er ließ die Scheibe hinunter. »Ich will …« Er hielt inne, das einzige Anzeichen von Schwäche, das er sich während des Gesprächs leistete. »Ich will dich eine Weile nicht sehen. Ruf mich nicht an. Wenn … ich so weit bin, weiß ich, wo ich dich finde.«

Laurel sah zu, wie er fortfuhr. Dann brach sie in Tränen aus. Einen Augenblick lang suchte sie den Waldrand ab, aber auch Tamani war fort. Sie setzte sich ins Auto und legte schluchzend die Stirn auf das Lenkrad. Wieso war alles schiefgegangen?



Laurel saß auf ihrem Bett, hielt die Gitarre auf dem Schoß und sah den Schatten zu, die über ihre Zimmerdecke huschten. Sie saß schon seit zwei Stunden dort, während die Sonne unterging und es um sie herum dunkler wurde. Laurel spielte willkürlich den einen oder anderen melancholischen Akkord, und auch wenn sie versuchte, etwas anderes zu spielen, wurde sie immer wieder an die seltsame Musik von Avalon erinnert.

An diesem Morgen war ihr Leben noch so schön gewesen – geradezu hinreißend! Und jetzt? Sie hatte alles kaputt gemacht.

Es war allein ihre Schuld. Sie hatte die Entscheidung zu lange vor sich hergeschoben und Tamani nicht widerstehen können. Es reichte nicht, David körperlich treu zu sein, nein, er hatte es auch verdient, dass sie ihm in ihren Gefühlen treu war.

Sie dachte daran, wie Tamani sie angesehen hatte, nachdem sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn nicht liebte. Das war genauso ungerecht. Sie hatte sie beide verletzt und musste jetzt die Folgen tragen.

Bei der Vorstellung, den Rest ihres Lebens – oder auch nur diese Woche – ohne David zu verbringen, tat ihr alles weh. Sie stellte sich vor, ihn mit einem anderen Mädchen zu sehen. Wie er sie küsste, so wie Tamani sie heute geküsst hatte. Stöhnend wälzte sie sich auf die Seite und ließ die Gitarre auf die Bettdecke sinken. Es fühlte sich an wie das Ende der Welt. Das durfte sie nicht zulassen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, alles wiedergutzumachen.

Doch auch nachdem sie zwei Stunden lang angestrengt nachgedacht hatte, war ihr nichts eingefallen. Sie konnte nur hoffen, dass er ihr verzeihen würde. Irgendwann.

Laurel versuchte einzudösen. Normalerweise fiel ihr das nach Sonnenuntergang leicht, aber heute saß sie nur da und sah zu, wie sich die Zahlen auf ihrem Wecker veränderten, während es immer dunkler wurde.

20.22

20.23

20.24

Laurel ging nach unten. Am Samstagabend prüften ihre Eltern stets den Warenbestand in ihren Geschäften. Sie würden frühestens in einer Stunde zurückkommen. Eher aus Gewohnheit als vor Hunger ging Laurel an den Kühlschrank – zu dieser Tageszeit konnte sie sowieso nichts essen. Sie machte den Kühlschrank wieder zu und schimpfte ein wenig auf David und Tamani. Sie wollte keinem von beiden wehtun, im Gegenteil: Sie wollte, dass sie beide glücklich waren. Beide spielten eine bedeutende Rolle in ihrem Leben. Warum bestanden sie nur darauf, dass Laurel sich zwischen ihnen entscheiden sollte?

In diesem Augenblick bewegte sich etwas im Vorgarten, aber bevor sie nachsehen konnte, zersplitterte das Panoramafenster, und die Glasscherben flogen über den Boden. Laurel kauerte sich schreiend hin und schlug schützend die Hände vors Gesicht. Doch sobald sie aufgehört hatte zu schreien, war es totenstill. Niemand schrie, keine Steine flogen, auch Schritte waren nicht zu hören.

Als Laurel die Glasscherben auf dem Küchenboden musterte, entdeckte sie einen großen Stein, den offenbar jemand durchs Fenster geworfen hatte.

Er war in ein Stück Papier gewickelt.

Mit zitternden Händen nahm Laurel den Stein und entfernte den Zettel. Sie rang nach Luft, als sie das rote Gekritzel entzifferte.

Im nächsten Augenblick war sie auf den Beinen und lief zur Haustür. Sie riss die Tür auf und spähte in die Dunkelheit. Der Vorgarten lag ruhig da, hübsch sah er im Licht der Straßenlaternen aus. Laurel schaute sich jeden Schatten genau an und prüfte ihn auf Anzeichen auch kleinster Bewegungen.

Die Welt stand still.

Laurel warf einen Blick auf ihr Auto und dann wieder auf den Zettel. Tamani hatte recht – immer wollte sie alles allein machen. Es war an der Zeit zuzugeben, dass sie Hilfe brauchte. Laurel drehte sich um und lief, aber nicht zu ihrem Auto, sondern zum Waldrand hinter ihrem Haus. Dort blieb sie stehen, weil sie nicht wusste, wie weit der Schutzwall reichte. Nach kurzem Zögern rief sie: »Hilfe! Bitte! Ich brauche eure Hilfe!«

Sie lief am Waldrand entlang und rief wieder laut um Hilfe. Aber außer ihrem Echo kam keine Antwort. »Bitte!«, rief sie noch einmal, obwohl sie allmählich ahnte, dass niemand reagieren würde.

Die Wachtposten waren fort. Laurel wusste nicht, wohin oder seit wann, aber wäre auch nur ein Elf im Wald gewesen, wäre er ihr zu Hilfe geeilt. Sie war auf sich allein gestellt.

Verzweifelt presste sie die Handflächen auf die Augen, um nicht zu weinen. Auf keinen Fall durfte sie hier und jetzt zusammenbrechen. Sie lief zum Auto, sprang hinein und schlug die Tür zu. Dann starrte sie auf das dunkle, leere Haus, das sie monatelang beschützt hatte – schon bevor sie von den Wachtposten und dem mächtigen Schutzzauber gewusst hatte. Doch sie konnte nicht bleiben. Sie musste den Schutzwall verlassen, obwohl ihr klar war, dass die Orks genau das beabsichtigten. Aber Laurel hatte keine Wahl, es stand zu viel auf dem Spiel. Ihre Hände zitterten, aber es gelang ihr, den Wagen anzulassen und rückwärts aus der Einfahrt zu fahren. Die Räder quietschten auf dem Asphalt, als sie den ersten Gang einlegte und einen letzten misstrauischen Blick in den Rückspiegel wagte.

Das kurze Stück zu David kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Laurel fuhr vor dem Haus vor und betrachtete das vertraute Gebäude, das praktisch ihr zweites Zuhause geworden war. Sie kam sich wie ein Eindringling vor.

Ehe sie es sich anders überlegen konnte, sprang sie aus dem Auto und rannte zur Haustür. Sie hörte, wie die Klingel durch das Wohnzimmer hallte, und versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie zum letzten Mal bei David geklingelt hatte. Es war so förmlich, so unnötig.

Davids Mutter kam an die Tür. »Laurel«, sagte sie fröhlich, aber bei Laurels Anblick verging ihr das Lächeln. »Was ist los? Geht es dir nicht gut?«

»Ist David da?«

Davids Mutter sah sie verwirrt an. »Ja, natürlich, komm rein.«

»Nein, danke, ich bleibe lieber draußen«, murmelte Laurel mit gesenktem Blick.

»Wie du willst«, sagte Davids Mutter gedehnt. »Ich hole ihn.«

Sie musste lange warten, ehe die Tür erneut geöffnet wurde. Laurel hob den Blick – sie fürchtete schon, wieder seiner Mutter gegenüberzustehen. Doch es war David. Sein Gesicht war wie versteinert, seine Augen blitzten. Er holte tief Luft, trat auf die Veranda und zog die Tür hinter sich zu.

»Lass das, Laurel. Ich bin nur rausgekommen, weil es das Haus meiner Mutter ist und ich ihr noch nicht sagen wollte, was passiert ist. Aber du musst …«

»Barnes hat Chelsea.«

Auf der Stelle schmolz der Ärger in Davids Blick. »Was!«

Laurel reichte ihm den Zettel. »Im Leuchtturm. Ich weiß, du bist sauer auf mich, aber …« Sie brach ab, weil sie kaum noch Luft bekam, zwang sich aber weiterzureden. »Das ist höhere Gewalt, David, wir können jetzt keine Rücksicht auf unseren Streit nehmen. Ich brauche dich, David. Allein schaffe ich das nicht.«

»Was ist mit den Wachtposten?«, fragte David argwöhnisch.

»Sie sind nicht da! Ich habe sie gerufen. Sie sind weg.«

Nach kurzem Zögern nickte David und verschwand im Haus. Sie hörte, wie er seiner Mutter etwas zurief, und schon war er wieder draußen und warf sich den Rucksack über die Schulter, während er seine Jacke anzog. »Komm.«

»Kannst du fahren?«, bat Laurel. »Ich muss … ich muss was Bestimmtes machen.«

Nachdem sie den Rucksack aus ihrem Auto geholt hatte, stieg Laurel bei David ein.

»Wir müssen Tamani zu Hilfe holen«, sagte David finster.

Doch Laurel schüttelte bereits den Kopf.

»Laurel, was mit euch ist, interessiert mich jetzt nicht. Er ist unsere einzige Chance!«

»Darum geht es nicht. Die Zeit reicht nicht aus. Wenn ich nicht um neun am Leuchtturm bin, bringt er Chelsea um. Wir haben noch …«, Laurel warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett, »genau fünfundzwanzig Minuten.«

»Dann kannst du zum Leuchtturm fahren und ich rase zum Grundstück und hole ihn.«

»Dazu ist keine Zeit, David!«

»Und, was schlägt du vor?«, schrie er wütend.

»Ich schaffe das.« Laurel hoffte, dass es der Wahrheit entsprach. »Aber erst muss ich kurz zu meiner Mutter in den Laden.«



Laurel schlug an die Tür von Mutter Natur, bis ihre Mutter aus dem Hinterzimmer kam, wo sie ihren Papierkram erledigte. »Laurel, um Himmels willen, was …«

»Mom, ich brauche getrocknete Sassafras-Wurzel, Bio-Hibiskus-Samen und Ylang-Ylang-Essenzöl, das in Wasser statt in Alkohol fixiert wurde. Ich brauche das alles sofort und bitte dich, keine Fragen zu stellen.«

»Laurel …«

»Jede Minute zählt, Mom. Ich verspreche dir, dass ich dir alles … alles erkläre, wenn ich zurückkomme, doch jetzt brauche ich vor allem eins, dein Vertrauen.«

»Aber wo willst …«

»Mom!« Laurel packte ihre Mutter an den Handgelenken. »Bitte hör zu. Hör richtig zu. Eine Elfe zu sein, bedeutet mehr, als nur eine Blume auf dem Rücken zu tragen. Elfen haben Feinde, mächtige Feinde, und wenn ich diese Zutaten nicht gleich von dir bekomme und mich auf der Stelle darum kümmere, wird jemand sterben. Hilf mir. Ich brauche deine Hilfe!«, flehte sie.

Ihre Mutter stand einen Augenblick verwirrt da. Dann nickte sie verhalten. »Ich nehme an, das ist kein Fall für die gute alte Polizei?«

Laurel kamen die Tränen, ihr fiel nichts ein, was sie darauf hätte erwidern können. Und zum Streiten hatte sie keine Zeit.

»Okay«, sagte ihre Mutter entschlossen, ging an ein Regal und musterte die Fläschchen, die auf beiden Seiten aufgereiht waren. In Windeseile nahm sie die Ingredienzien heraus und reichte sie Laurel.

»Danke.« Laurel wollte gehen, aber ihre Mutter legte ihr fest die Hand auf die Schulter. Als Laurel sich umdrehte, nahm ihre Mutter sie in die Arme und drückte sie an sich. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Sei bitte vorsichtig.«

Laurel nickte an ihrer Schulter. »Ich liebe dich auch.« Dann fügte sie noch hinzu: »Und falls doch etwas passiert, verkauft auf keinen Fall das Grundstück, versprochen? «

Ihre Mutter riss vor Schreck die Augen auf. »Was willst du damit sagen?«

Aber Laurel war schon halb aus der Tür und versuchte, die Verzweiflung in der Stimme ihrer Mutter zu überhören. »Laurel?«

Laurel sprang bereits in Davids Auto. »Fahr!«, kommandierte sie, um dem letzten Schrei ihrer Mutter zu entgehen. »Laurel!«

Laurel schaute sich um und behielt das bleiche Gesicht ihrer Mutter im Auge, bis ihr Vater erschrocken aus der benachbarten Buchhandlung kam. Fassungslos sahen ihre Eltern dem davonfahrenden Auto nach.