Acht

Laurel stand in ihrem Zimmer und begutachtete das Durcheinander auf ihrem Bett. Mittlerweile gefielen ihr die schönen Anziehsachen aus dem Elfenreich noch aus einem anderen Grund. In der Welt der Menschen gab es einfach nichts Vergleichbares. Die meisten waren aus einem seidenartigen Gespinst, das angeblich aus Spinnweben bestand – obwohl Laurel nie sicher war, ob sie sich nicht über sie lustig machten. Doch woraus der Stoff auch gewebt war, er erlaubte ihr eine Ganzkörper-Fotosynthese, sodass Laurel nicht mehr gezwungen war, immer in Tanktops und Shorts herumzulaufen.

Besonders gut gefiel ihr ein Kleid, das sie bei einem Spaziergang nach einem sehr anstrengenden Tag an einem der Sommerstände gefunden hatte. Es war wunderschön und passte wie angegossen, ein dunkelblaues Gewand mit tiefem Rückenausschnitt für eine eventuelle Blüte, das bis zu den Knien eng anlag und dann im Meerjungfrauenstil ausgestellt war. Darüber trug man einen Rock aus weichen, hauchdünnen Rüschen, der schon in der leisesten Brise zart wehte. Sie hatte das Kleid damals mit einem Anflug von schlechtem Gewissen mitgenommen – schließlich bot sich keine Gelegenheit, es zu tragen –, aber es war so vollkommen, dass sie nicht darauf verzichten wollte.

Außerdem hatte sie Unmengen lange, rauschende Röcke und Blusen, die sie an Tamanis Hemden erinnerten, und dazu noch mehrere kurze Röcke und Kleider, in denen sie sich wie eine Märchenfee fühlte. Doch nur ein Bruchteil würde in ihren Rucksack passen.

Und ohne ihre Ausrüstung konnte sie nirgends hin.

Von allem, was die Elfen ihr gegeben hatten, war dies das kostbarste Geschenk. Die Schachtel, die Yeardley ihr am Morgen überreicht hatte, war so groß wie ein Schuhkarton und enthielt jede Menge Essenzen und mehrere Mixturen zur Bekämpfung von Orks. Herbstelfen mit weit größeren Kenntnissen hatten sie für sie zusammengestellt. Darüber hinaus gab es mehrere Extrakte, die sie zum Schutz ihres Zuhauses und ihrer Familie einsetzen konnte. Vorausgesetzt, sie würde den Umgang damit weiter üben und Fortschritte machen. Das war auf alle Fälle besser als gar nichts. Aber allein die Schachtel nahm schon die Hälfte des Rucksacks ein.

Während sie noch vor dem Bett stand und sinnierte, was sie mitnehmen konnte, kam Katya ins Zimmer und warf noch etwas dazu.

»Du siehst aus, als könntest du das hier gebrauchen«, sagte sie schmunzelnd.

Laurel griff nach dem pinkfarbenen Beutel, der aussah, als wäre er aus Seidenpapier. Sie hatte jedoch den leisen Verdacht, dass er mehr aushielt, als sie dachte. »Danke«, sagte sie. »Ich wollte gerade Celia bitten, mir eine Tasche zu besorgen.«

Katya sah den Kleiderhaufen auf dem Bett und blickte zweifelnd auf Laurels Rucksack. »Du hast nicht etwa versucht, das alles da hineinzuquetschen, oder?«

»Nein«, grinste Laurel.

»Gut«, erwiderte Katya. »Das hätte auch Wintermagie erfordert.«

Laurel lachte über den Witz, den nur eine Elfe verstehen konnte. Sie zog die Schnur am oberen Ende des Beutels auf und entdeckte an der einen Seite ein wunderhübsch gesticktes K.

»Den kann ich nicht annehmen; sieh mal, dein Monogramm. «

Katya sah zu ihr herüber. »Ach – das habe ich gar nicht gesehen, ehrlich. Ich habe jede Menge davon.«

»Echt?«

»Klar. Immer wenn ich meine Wäsche weggebe, bekomme ich so einen zurück.«

Laurel fing an, ihre Kleider in den Beutel zu stopfen. Sie musste immer noch einiges zurücklassen, aber es war besser als nichts.

Mehrere Sekunden lang beobachtete Katya sie schweigend, ehe sie fast schüchtern fragte: »Musst du wirklich gehen?«

Laurel blickte überrascht auf. Von einigen Ausnahmen abgesehen, waren die anderen Elfen stets nett gewesen – und sehr gesprächig, doch sie hätte keine von ihnen als Freundin bezeichnet. Katya ging es offenbar anders. »Ich komme zurück«, sagte Laurel.

»Ich weiß.« Katya rang sich ein Lächeln ab. »Aber musst du überhaupt zu den Menschen gehen? Ich habe ja nur dies und das gehört, aber sie sagen, deine Mission ist erfüllt. Das Land, auf dem das Tor steht, gehört jetzt dir. Kannst du nicht für immer hierbleiben?«

Laurel wich Katyas Blick aus und starrte auf die Kleider, die sie in der Hand hielt. »Das ist kompliziert – ich habe Familie dort, Freunde. Die kann ich nicht im Stich lassen.«

»Du könntest sie doch besuchen«, schlug Katya strahlend vor.

»Darum geht es nicht«, erwiderte Laurel ernst. »Ich muss sie beschützen. Sie sind meinetwegen in Gefahr – und ich trage Verantwortung für sie.«

»Verantwortung – gegenüber Menschen?«

Laurel biss die Zähne zusammen. Katya konnte nichts dafür – sie hatte noch nie einen Menschen gesehen. Da kam ihr eine Idee und sie holte ein Foto aus der kleinen Vordertasche ihres Rucksacks. Ein Bild von ihr und David beim Tanzen. Es war im vergangenen Frühling aufgenommen worden. David stand hinter ihr und hatte die Arme um sie geschlungen. Der Fotograf hatte in dem Moment abgedrückt, als Laurel sich umdrehte, um David anzusehen – sie im Profil, eine lachende Silhouette, und David, wie er sie sehnsüchtig ansah. Es war eins ihrer Lieblingsfotos. Sie gab es Katya.

Ein Lächeln huschte über Katyas Gesicht. »Was – du bist schon umschlungen?«, rief sie. »Davon hast du mir gar nichts gesagt!« Ihre Augen verrieten ihre Faszination. Sie sah sich im Zimmer um und fragte flüsternd: »Ist er vom Unseligen Hof? Ich habe davon gehört. Sie leben direkt hinter dem Tor und …«

»Nein – das ist David«, unterbrach Laurel sie. »Der Mensch, von dem ich dir erzählt habe.«

Katya machte ein ungläubiges Gesicht. »Ein Mensch?«, rief sie entgeistert. Dann blickte sie erneut auf das Foto und verzog angeekelt das Gesicht. »Aber … er fasst dich ja an!«

»Ja klar«, erwiderte Laurel wütend und entriss Katya das Foto. »Er ist mein Freund. Er fasst mich an, er küsst mich und…« Sie zwang sich zu einer sekundenlangen Pause. »Er liebt mich«, sagte sie mutig, aber bestimmt.

Katya starrte sie eine Weile an, bevor sich ihr Gesicht wieder entspannte. »Ich mache mir einfach Sorgen um dich da draußen«, sagte sie, wobei sie das schockierende Foto verstohlen ansah. »Menschen sind nie freundlich zu Elfen gewesen.«

»Was willst du damit sagen?«

Der Ausdruck in Katyas Gesicht verriet ehrliche Sorge. Sie zuckte die Achseln. »Avalon hat sich schon lange nicht mehr in menschliche Angelegenheiten eingemischt. Ich weiß, es ist notwendig – manchmal. Aber es sieht so aus, als ob Beziehungen zwischen Menschen und Elfen immer böse enden.«

Laurel zuckte zurück. »Wirklich?«

»Sicher. Sanzang, Scheherazade, Guinevere. Und dann diese unmögliche Geschichte mit Eva.«

Katya merkte nicht, wie das Foto aus Laurels zu Eis erstarrter Hand flatterte.

»Es gab noch mehr. Ich sage nur, dass jedes Mal, wenn sich Avalon mit der Menschenwelt einlässt, etwas schiefgeht.«

»Aber meine Familie liebt mich, und David auch. Sie würden nie etwas tun, das mir wehtut.«

»Sei einfach vorsichtig«, warnte Katya sie.

Laurel packte schweigend ihre Sachen. Den schönen Haarschmuck wickelte sie in einen ihrer langen Röcke, und anschließend klapperte sie alle Ecken in ihrem Zimmer ab, ob sie auch nichts vergessen hatte. Dann sah sie Katya mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Eva … Bist du sicher?«

»Und ob. Wieso – was sagen denn die Menschen über sie?«



Laurel wartete auf einem mit Brokat überzogenen Sofa, als die Türen der Akademie geöffnet wurden, um Jamison und seine Leibwächter einzulassen. Das war nur ein Grund, weshalb sie keine Winterelfe hätte sein wollen. Sie hätte es ganz bestimmt nicht ertragen, dass man ihr überallhin und jederzeit folgte. Es war so schon schlimm genug.

»Laurel, meine Liebe!« Jamison streckte ihr die Arme entgegen. Er nahm ihre Hände in seine und lächelte sie wie ein vernarrter Großvater an, bevor er sich neben ihr niederließ.

»Yeardley sagt, du bist eine hervorragende Schülerin.«

Laurel freute sich über das Lob des ernsten Professors.

»Und er sagt, du hast sehr viel Talent. Phänomenal – so hat er sich, glaube ich, ausgedrückt. Obwohl mich das nicht im Mindesten überrascht.« Er sah sie mit einem herzlichen Lächeln an. »Ich habe dein unglaubliches Potenzial vom ersten Augenblick an gespürt.«

»Ach nein«, erwiderte Laurel. »Ich bin gar nicht so gut. Ich hinke noch so weit hinterher, ich werde nie …«

»Oh doch, ich glaube, das wirst du. Dein Potenzial ist sogar größer, als wir vermuteten, solange du noch ein Setzling warst. Mit genügend Zeit und Übung werden deine Fähigkeiten auf ungeahnte Weise sprießen. Du kannst selbst so unglaublich gut werden wie … na ja, lassen wir das. Kümmere dich zunächst einfach nur um deine beachtlichen Fähigkeiten. Sie sind sehr ausgeprägt. « Er tätschelte ihre Hand. »Ich bin zufällig ein Experte in diesen Dingen.«

»Tatsächlich?« Laurel war selbst über die gewagte Frage überrascht. Aber sie war so hoffnungslos schlechter als die anderen in ihrem Alter und sehnte sich deswegen sehr nach einer so zuversichtlichen Beteuerung.

Sein Lächeln wich feierlichem Ernst. »Du kannst es mir glauben. Und du wirst das, was du gelernt hast, brauchen – sogar eher früher als später.« Er sah Laurel ernst an. »Ich bin sehr froh, dass du gekommen bist«, sagte er. »Die Aufgabe, die wir für dich vorgesehen haben, ist viel wichtiger als erwartet. Dein Unterricht war anstrengend und hart, aber du musst durchhalten. Übe, was du gelernt hast, bis du es beherrschst. Es kann sein, dass wir dich in der Menschenwelt noch brauchen werden. «

Laurel sah ihn an. »Aber wolltet Ihr nicht immer, dass ich nach Avalon zurückkehre und den Unterricht wieder aufnehme?«

»Ursprünglich ja«, antwortete Jamison. »Aber die Lage hat sich verändert. Wir müssen dich jetzt um mehr bitten. Sag mal, was weißt du über Erosion?«

Laurel hatte keine Ahnung, was diese Frage sollte, aber sie antwortete: »Meint Ihr, wenn Wasser oder Wind den Boden abträgt?«

»Ganz genau. Wind und Regen können mit der Zeit den höchsten Berg ins Meer tragen. Aber«, hier hob er den Zeigefinger, »ein mit Gras bewachsener Hügel wird jeder Erosion standhalten und ein Flussufer kann durch Büsche und Bäume in seinem Verlauf erhalten werden. Sie breiten ihre Wurzeln aus«, fuhr er fort und spreizte dabei die Hände, »und halten alles fest. Und auch wenn der Fluss an der Erde zerrt, werden die Wurzeln, wenn sie stark genug sind, die Oberhand behalten. Wenn nicht, werden sie irgendwann vom Wasser mitgerissen.

Seit mehr als zweitausend Jahren bewahren wir unsere Heimat vor der Ausbeutung durch Menschen und Orks. Überall, wo Erosion uns und unsere Grenzen bedroht, pflanzen wir Samen – so wie dich. Als wir dich zu deinen Eltern gaben, erwarteten wir von dir zunächst nur das, was alle Elfen tun – dort wo wir dich hingepflanzt hatten, zu gedeihen. Deine Aufgabe bestand einzig und allein darin, zu leben, zu wachsen und das Land zu erben. Zu diesem Zweck hast du eine lückenlose menschliche Identität erhalten, was uns hilft, unsere Transaktionen vor den Orks zu verbergen. Wir wollten dich nicht eher in die Akademie zurückholen, bis du nach menschlichen Maßstäben erwachsen wurdest.

Nun aber wirst du eine aktivere Rolle erhalten.« Jamison legte eine Hand auf ihren Arm und Laurel spürte plötzlich ein inneres Zittern. »Etwas arbeitet gegen uns, Laurel, gegen unser Land und unser Volk – und die Zeit ist nicht auf unserer Seite. Deshalb musst du deine Wurzeln ausstrecken. Du musst gegen einen tosenden Fluss ankämpfen – als was auch immer er sich herausstellen mag. Wenn du das nicht …«

Er brach plötzlich ab und blickte aus dem Panoramafenster über Avalon, dessen Gefilde sich unter ihm ausbreiteten. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprach.

»Wenn du das nicht schaffst, wird all das hier, fürchte ich, in sich zusammenstürzen.«

»Ihr meint die Orks«, sagte Laurel, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Es geht um Barnes.« Sie hatte diesen Namen sehr lange nicht mehr ausgesprochen – seit Dezember hatte sie weder von ihm gehört noch etwas gesehen. Doch aus ihren Gedanken war er nie ganz verschwunden. Nach ihrem Zusammenstoß im vergangenen Herbst hatte sie sich vor jedem Schatten erschreckt und vorsorglich um jede Ecke gespäht.

»Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass er allein gehandelt hat«, sagte Jamison. Er drehte sich wieder zu Laurel um und sah sie aus seinen blassblauen Augen an, die denselben Farbton hatten wie die Wurzeln seiner silbernen Haare. »Dieser Wahrheit solltest du dich auch stellen.«

»Und wer könnte mit ihm gemeinsame Sache machen? «, fragte Laurel.

»Das wissen wir nicht«, antwortete Jamison. »Wir wissen nur, dass Barnes lebt und irgendwo da draußen ist.«

»Aber er kann mich nicht mehr benutzen. Und er kann mich nicht dazu bringen, ihm das Land zu verkaufen«, sagte Laurel protestierend.

Jamison lächelte traurig. »Wenn es doch so einfach wäre! Barnes kann dich noch immer für vieles einspannen. Zwar weiß er, wo das Land, aber nicht, wo das Tor ist. Er könnte dich dazu benutzen, es zu finden.«

»Warum muss er das wissen? Könnte er nicht einfach mit seinen Horden anrücken und den ganzen Wald niederreißen?«

»Das könnte er versuchen, aber unterschätze nicht die Fähigkeiten unserer Wachtposten – und auch nicht die Robustheit unseres Tores und die magischen Kräfte der Winterelfen. Das Tor kann zwar theoretisch zerstört werden – aber das würde schon eine unglaublich konzentrierte Kraft erfordern. Und wenn er nicht den exakten Standort des Tores findet, kann er es nicht zerstören.«

»Ich würde es ihm doch nie verraten«, sagte Laurel inbrünstig.

»Das weiß ich. Und ich gehe davon aus, dass er das ebenfalls weiß. Aber das wird ihn nicht davon abhalten, sich so oder so an dir zu rächen. In keinen anderen Wesen ist der Gedanke der Rache so fest verankert wie in Orks. Der Wunsch nach Rache ist in ihnen lebendiger als beinahe jedes andere Gefühl. Allein aus diesem Grund wird er nach dir suchen.«

»Warum hat er es dann bisher nicht gemacht?«, fragte Laurel. »In den letzten sechs Monaten hätte er jede Menge Gelegenheiten dazu gehabt.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er doch tot.«

Aber Jamison schüttelte den Kopf. »Hast du schon einmal eine Venusfliegenfalle beobachtet?«, fragte er.

Innerlich kicherte Laurel, als sie sich an ein Gespräch mit David über Fliegenfallen erinnerte. »Ja«, antwortete sie. »Meine Mom hatte eine, als ich klein war.«

»Und hast du dich jemals gefragt, warum die Fliegenfalle überhaupt in der Lage ist, Fliegen zu fangen? Die Fliege ist schneller, sieht die Gefahr von Weitem und könnte mit Leichtigkeit fliehen. Logisch gedacht, müssten sämtliche Fliegenfallen verhungern. Aber warum tun sie es nicht?«

Laurel wusste es nicht.

»Weil sie Geduld haben. Sie sitzen reglos da und sehen ganz harmlos aus. Sie tun nichts – bis die Fliege, die selbstvergessen umherwandert, sich im Herzen der Falle niederlässt. Erst wenn die Beute kaum noch entkommen könnte, rührt sich die Venusfliegenfalle. Orks sind genauso geduldig, Laurel. Barnes wird warten – so lange, bis du aufhörst, vorsichtig zu sein. Dann – und erst dann! – wird er zuschlagen.«

Laurel hatte einen Kloß im Hals. »Und was kann ich tun, um ihn aufzuhalten?«

»Übe unermüdlich weiter, was Yeardley dir beigebracht hat«, erwiderte Jamison. »Das ist deine beste Verteidigung. Und sei nach Sonnenuntergang besonders vorsichtig …«

»Aber Barnes kann auch am Tag kommen«, unterbrach ihn Laurel. »Das haben wir bereits erlebt.«

»Es ist zwar keine echte Beruhigung«, sagte Jamison gleichmütig, obwohl sie ihn unterbrochen hatte, »aber dennoch eine Tatsache: Barnes hat – wie jeder Ork – tagsüber seine schwächste Zeit, während du am wehrlosesten bist, sobald die Sonne untergegangen ist. Nach Sonnenuntergang vorsichtig zu sein, wird die Orks bestimmt nicht aufhalten, aber in jedem Fall ihren Vorteil schmälern.« Er richtete sich auf. »Und deinen Beschützern wird es nützen.«

»Meinen Beschützern?«

»Nach dem Vorfall im vergangenen Herbst haben wir in der Nähe deines neuen Hauses Wächter im Wald postiert. Shar wollte nicht, dass ich dir das sage – er meinte, das würde dich nur nervös machen –, aber ich finde, du hast das Recht, es zu wissen.«

»Werde ich schon wieder ausspioniert?« Der alte Groll war nicht vergessen.

»Nein«, versicherte Jamison. »Die Elfen wachen nur über dich. Niemand wird in dein Fenster gucken oder deine Privatsphäre verletzen. Aber euer Haus wird beobachtet. Außerdem haben wir einen Bann gegen Orks errichtet. Solange du dich darin aufhältst, kann nur der allerstärkste Ork an dich heran. Aber vergiss nicht, dass der Wald hinter eurem Haus nicht nur von Bäumen bewohnt wird. Die Wachtposten sind da, um alles Übel von dir fernzuhalten.«

Laurel nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Es ärgerte sie immer noch, dass Wächter sie die längste Zeit ihres Lebens bei den Menschen auf Schritt und Tritt beobachtet und manchmal sogar gewisse Erinnerungen gelöscht hatten. Selbst die angekündigte mildere Form der Bewachung empfand sie als unangenehm und einengend. Aber was konnte sie sagen? Sie hatte Barnes’ Zorn aus nächster Nähe erlebt, gesehen, wie er Tamani angeschossen und sich nach dem Schuss von Laurel verletzt aus dem Fenster geworfen hatte. Sie musste darauf gefasst sein, dass er sie angriff, und auch wenn Yeardley so viel Vertrauen in ihre gerade erst flügge werdenden Fähigkeiten setzte, sie tat das nicht. Also brauchte sie Hilfe, daran führte kein Weg vorbei.

Jamison hatte recht, wie immer. Er strahlte unendliche Weisheit aus. Selbst die klügsten Lehrer der Akademie waren blasse, flackernde Lichter im Vergleich zu der satten, sonnengleichen Illumination von Jamisons Aura. Sie konnte gar nicht verstehen, dass er hier saß, um sie gegen ihre Angst und ihren Selbstzweifel zu wappnen, während Avalon viel direkter von seinem Rat profitieren konnte.

»Warum …« Laurel verkniff sich die Frage. Sie hatte sich schon öfter gefragt, warum Jamison nicht zum Herrscher über Avalon gewählt worden war – wo es doch nur so wenige Winterelfen gab. Aber das ging sie schließlich nichts an.

»Frag nur.«

»Laurel schüttelte den Kopf. »Ach, nichts.«

»Du willst wissen…« Jamison beobachtete sie, dann lächelte er. Er sah ein wenig überrascht aus, aber keineswegs verärgert. »Du willst wissen, warum ich nicht König von Avalon bin?«

Laurel sog hastig die Luft ein. »Woher wisst Ihr …?«

»Manche Dinge im Leben haben wir dem Zufall zu verdanken – so auch hier. Die verstorbene Königin war einige Jahre älter als ich, aber jung genug, um zu der Zeit, als die Thronfolge neu geregelt wurde, Königin zu werden. Und als sie in die Erde einging«, er lachte, »na ja, da war ich schon kein Schössling mehr, der noch in die Rolle hätte hineinwachsen können. Vielleicht, wenn sonst gar keine Winterelfen für die Thronfolge infrage gekommen wären … Aber, Gaia sei Dank, waren wir schon seit Generationen nicht mehr in so einer schlechten Lage.«

»Oh.« Laurel wusste nicht, was sie sonst hätte sagen können. Eine Entschuldigung kam ihr ziemlich unpassend vor.

»Mir macht es nichts aus«, schien Jamison erneut ihre Gedanken zu lesen. »Schließlich habe ich mehr als hundert Jahre lang einer der größten Königinnen in der beachtlichen Geschichte Avalons als Ratgeber dienen dürfen.« Der Glanz kehrte in seine Augen zurück. »So jedenfalls fühle ich mich.« Er stöhnte müde. »Diese neue Königin … nun ja, mit dem Wachstum, das nur durch Zeit und Erfahrung zustande kommt, wird vielleicht auch ihre Urteilskraft besser werden.«

Seine Kritik an der Königin, so sanft sie auch war, schockierte Laurel. Soweit sie wusste, begegnete man ihr nur mit dem höchsten Respekt. Aber vielleicht genossen Winterelfen eine größere Freiheit, in diesen Dingen ihre Meinung zu sagen. Sie fragte sich allerdings, was genau die Königin seiner Meinung nach falsch beurteilt hatte.

Als sie Jamisons gedankenverlorene Miene sah, musste Laurel an Tamanis Vater denken. »Werdet Ihr eines Tages … ein Schweigsamer werden?«

Er sah sie an und lachte leise. »Wer hat dir denn davon erzählt?«

Laurel zog beschämt den Kopf ein und sagte nichts. Als sie wieder hochsah, hatte Jamison sich dem Ostfenster zugewandt, wo man die knorrigen Äste und das weitgestreckte Blätterdach des Weltenbaumes über anderen, gewöhnlichen Baumspitzen sehen konnte, wenn man wusste, wonach man suchte.

»Bestimmt Tamani, oder?«

Laurel nickte.

»Er brütet zu viel vor sich hin, seit sein Vater in den Weltenbaum einging. Ich hoffe, du kannst ihm helfen, wieder glücklich zu sein.«

Schon wieder fühlte sich Laurel schuldig und hoffte, Jamison wusste nicht, wie lange Tamani auf sie hatte warten müssen.

»Ich wäre für mein Leben gern Tamanis Vater gefolgt«, sagte er. »Aber für mich ist es zu spät – ich hätte nicht mehr das Durchhaltevermögen dafür.« Er sah zu ihr herab und ein Lächeln schob sich – wenn auch nicht vollkommen – vor die Trauer in seinem Gesicht. »Ich werde hier gebraucht. Manchmal muss man seine eigenen Wünsche verleugnen, um einer größeren Sache zu dienen. Ich fürchte, die Existenz Avalons steht auf Messers Schneide, doch das tut sie längst nicht zum ersten Mal. Ich …« Er blickte hinüber zu seinen Wächtern, doch die hatten den Blick geflissentlich abgewandt. Trotzdem wurde er leiser. »Ich bin dort gewesen, bei dem Baum – und ich habe dem Wind zugehört.«

Laurel hielt den Atem an und starrte in Jamisons Augen.

»Ich habe noch eine Aufgabe. Eine, die niemand sonst erledigen könnte … oder wollte. Deshalb bin ich froh, noch eine Weile zu bleiben.«

Ehe Laurel weitere Fragen stellen konnte, stand Jamison auf und bot ihr seinen Arm. »Wollen wir uns auf den Weg machen?«

Sie folgten dem vertrauten Pfad über das Gelände der Akademie und entlang der Mauer bis zu dem Platz, der das Tor beherbergte. Jamisons Leibwächter blieben dicht hinter ihnen. Laurel war gespannt zu sehen, wie Jamison den verzauberten Weg zu ihr nach Hause öffnen würde. Sie wartete darauf, dass er irgendetwas Verblüffendes von sich geben würde – einen Funkenregen oder Lichtblitze oder zumindest eine uralte Zauberformel, doch er streckte nur die Hand aus und berührte das Tor, das sich umgehend und lautlos öffnete. Mit einem Blick auf die Elfen hinter sich zog er das Tor weit auf und schon stand auf der anderen Seite eine Gruppe von Wachtposten im Halbkreis und erwartete sie. In der Mitte – ernst und erhaben – Shar, Tamani zu seiner Rechten. Alle waren in voller Kampfausrüstung – ein furchterregender Anblick, doch Laurel gewöhnte sich langsam daran.

Jamison streckte noch einmal seinen Arm aus und forderte Laurel damit auf, durch das Tor zu gehen. Im letzten Moment berührte er sie an der Schulter und beugte sich über sie. »Komm zurück«, flüsterte er. »Avalon braucht dich.«

Als sie über die Schulter blickte, schloss er bereits das Tor. Zwei Sekunden später verschmolz Avalon mit den Schatten – und verschwand.

»Das nehme ich«, sagte Tamani. Laurel schreckte kurz zurück, aber dann lächelte sie und übergab ihm den großen pinkfarbenen Beutel. Er sah ihn an und lachte. »Frauen und Klamotten.«

Laurel grinste und drehte sich noch einmal zum Tor um, aber es hatte sich schon wieder in einen ganz normalen Baum zurückverwandelt. Sie schüttelte den Kopf und dachte staunend an alles, was sie in diesem Sommer erlebt hatte.

»Ich wünschte, wir hätten noch Zeit, aber wir müssen uns beeilen«, sagte Tamani. »Deine Mutter wird bald hier sein, und es wäre besser, wenn du sie schon erwarten würdest.« Er legte eine Hand um ihre Taille, und Laurel spürte, wie die anderen Elfen mit dem Wald hinter ihnen verschmolzen, während sie dem Weg folgten. Wie immer wenn es Zeit wurde, sich von Tamani zu verabschieden, war Laurel nicht wohl dabei. Sie gingen schweigend weiter, bis das Blockhaus und die Zufahrtsstraße in Sicht kamen.

»Noch ist niemand da«, sagte Tamani.

»Ich …«, Laurels Stimme versagte und sie begann noch einmal. »Ich hätte gern noch einen Moment…«

Tamani lächelte sanft. »Schön, dass du das sagst.« Er lehnte sich mit gesenktem Blick an einen Baum und stützte sich mit einem Bein daran ab. »Wie lange willst du diesmal wegbleiben?«

Schuldgefühle stiegen in Laurel auf, als sie sich daran erinnerte, was Jamison gesagt hatte. »Es ist nicht, wie du denkst«, sagte sie. »Ich muss …«

»Ist schon in Ordnung«, unterbrach Tamani sie. »Ich wollte damit nichts Bestimmtes sagen. Ich habe nur gefragt, das ist alles.«

»Nicht so lange wie beim letzten Mal«, sagte sie spontan.

»Also bis wann?«, fragte Tamani und sah sie an. Ausnahmsweise zeigte er seine Gefühle, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.

»Ich weiß es nicht.« Laurel konnte ihm nicht in die Augen sehen – nicht wenn er sie so offen und verletzlich ansah wie in diesem Moment. »Kann ich nicht einfach irgendwann kommen?«

Tamani schwieg. Dann sagte er. »Okay. Ich werde sehen, was ich tun kann. Hauptsache, du kommst«, sagte er nachdrücklich.

»Versprochen.«

Sie wandten die Köpfe, als sie Motorengeräusche hörten. »Deine Kutsche«, sagte Tamani und grinste gezwungen.

»Danke, Tam«, sagte Laurel. »Danke für alles.«

Er zuckte mit den Achseln, seine Hände blieben in den Hosentaschen vergraben. »Ich habe nichts Besonderes getan.«

»Du …« Sie suchte nach Worten, die ausdrücken konnten, was sie in diesem Moment empfand, doch nichts schien zu passen. »Ich …« Ihren zweiten Versuch unterbrach lautes Hupen. »Das ist meine Mom«, entschuldigte sie sich. »Ich muss gehen.«

Tamani nickte und stand reglos da.

Es lag an ihr.

Sie zögerte. Dann trat sie kurzerhand einen Schritt auf ihn zu, küsste ihn auf die Wange und schoss davon, bevor er etwas sagen konnte. Sie eilte den Weg entlang und auf das Auto zu, dessen Motor inzwischen abgestellt war. Doch Laurel blieb stehen, als sie merkte, dass es nicht das Auto ihrer Mutter war.

»David!« Der Name entschlüpfte ihr, noch bevor er sie in seine Arme nehmen und an sich drücken konnte. Er hob sie hoch und wirbelte sie herum – genau wie Tamani, als er sie vor der Akademie begrüßt hatte. Das Gefühl ihrer Wange an seinem Hals brachte die Erinnerung an zärtliche Augenblicke zurück – mit ihm auf ihrem Sofa, im Gras, im Auto, auf seinem Bett. Während sie sich an ihn klammerte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie kaum an ihn gedacht hatte. Zwei Monate Sehnsucht brachen sich Bahn, und ihr kamen die Tränen, als sie ihre Arme um Davids Hals schlang.

Mit sanften Fingern hob er ihr Kinn an und küsste sie – zart und beharrlich zugleich. Sie erwiderte den Kuss, obwohl sie sicher sein konnte, dass Tamani aus sicherer Entfernung ihr Wiedersehen beobachtete – mit der undurchschaubaren Miene, die sie so gut an ihm kannte.