Sieben
Laurel kniete auf der Bank vor ihrem Fenster, presste die Nase gegen die Scheibe und schielte hinunter zu dem Pfad, der zu den Eingangstoren der Akademie führte. Tamani hatte gesagt, er wäre um elf da, doch sie hoffte sehnlichst, er käme früher.
Enttäuscht ging sie zurück an ihre Arbeit – heute ein Monastuolo-Serum, das mit Sicherheit misslingen würde. Yeardley war der felsenfesten Überzeugung, dass sie mehr lernte, wenn sie einen Misserfolg zu Ende führte – selbst wenn er absehbar war – und genau untersuchte, als wenn sie ihn gar nicht erst ausführte. Laurel kam das wie Zeitverschwendung vor, aber sie hatte gelernt, Yeardleys Anweisungen nicht zu hinterfragen. Hinter seinem ruppigen Auftreten hatte sie im Laufe der letzten Wochen eine andere Seite entdeckt. Er war wie besessen von Kräuterkunde und nichts begeisterte ihn so sehr wie eine eifrige Schülerin. Und er hatte jedes Mal recht, jedes Mal. Trotzdem blieb Laurel dieser einen Regel gegenüber skeptisch.
Sie setzte sich wieder hin und wollte gerade ihrer Mixtur eine weitere Komponente hinzufügen, als es klopfte. Endlich! Schnell prüfte sie Kleid und Frisur im Spiegel, atmete tief durch und öffnete Celia die Tür – der Frühlingselfe, die ihr nicht nur die Karteikarten zugeschnitten, sondern im Laufe des letzten Monats Hunderte von Gefallen erwiesen hatte.
»Jemand wartet unten in der Eingangshalle auf dich«, sagte sie mit einer leichten Verneigung. Egal wie oft Laurel sie schon gebeten hatte, darauf zu verzichten – die Frühlingselfen fanden immer einen Weg, sich vor ihr zu verbeugen.
Laurel dankte ihr für die Nachricht und schlüpfte zur Tür hinaus. Sie fühlte sich mit jedem Schritt leichter. Nicht dass sie ihren Unterricht nicht mochte – im Gegenteil. Seit sie mehr verstand, fand sie ihn faszinierend. Aber in einem hatte sie von Anfang an recht behalten. Es war eine Menge Arbeit. Jeden Tag lernte sie volle acht Stunden mit Yeardley und beobachtete anschließend die anderen Herbstelfen bei der Arbeit. Und auch abends musste sie lesen und üben, Zaubertränke, Pulver und Seren herzustellen. Sie war den ganzen Tag beschäftigt – abgesehen von der kurzen Unterbrechung durch das Abendessen. Katya versicherte ihr, dass nicht alle Herbstelfen so hart lernen mussten – sie lernten und arbeiteten »nur« zwölf Stunden lang, doch selbst das kam Laurel maßlos viel vor.
Aber sie hatten wenigstens ein bisschen freie Zeit – Laurel nicht.
»Ich gebe zu, was von dir erwartet wird, ist schon ein wenig übertrieben«, hatte Katya eines Tages gesagt – was ein riesiges Zugeständnis seitens einer eifrigen und loyalen Herbstelfe zu sein schien. In dieser Beziehung war sie David ähnlich. Als Laurel versucht hatte, ihr ein Kompliment zu machen, indem sie ihr das sagte, reagierte Katya allerdings tödlich beleidigt – wie konnte man sie nur mit einem Menschen vergleichen!
Als vor drei Tagen Tamanis Nachricht eingetroffen war, in der er um Laurels Begleitung für einen Nachmittag bat, war sie fast vor Freude geplatzt. Wenn es auch nur ein paar Stunden waren, so war ihr diese Pause doch höchst willkommen – als Gelegenheit, zu verschnaufen und sich auf die letzte mörderische Woche vorzubereiten, bevor sie zu ihren Eltern zurückkehren würde.
Laurel war so abgelenkt, dass sie Mara und Katya beinahe nicht gesehen hätte. Sie standen am Geländer eines Treppenabsatzes, von dem aus man die Eingangshalle überblicken konnte.
»Er schon wieder«, sagte Mara, und die Verachtung troff förmlich von ihren rubinroten Lippen. »Kannst du ihn nicht draußen auf dich warten lassen?«
Laurel hob eine Augenbraue. »Wenn es nach mir ginge, käme er mit in mein Zimmer.«
Mara fielen fast die Augen heraus, so wütend starrte sie Laurel an. Aber Laurel hatte sich längst an die drohenden Blicke dieser statuenhaften Schönheit gewöhnt. Seit ihrer ersten Begegnung im Labor war es nicht besser geworden. Laurel vermied es einfach, Mara überhaupt anzusehen. Und das eine Mal, als Laurel sie etwas zu einem ihrer Projekte gefragt hatte – bezeichnenderweise ging es um einen Kaktus –, hatte Mara ihr einfach den Rücken zugekehrt und so getan, als hätte sie nichts gehört.
Mit hoch erhobenem Kopf ging Laurel wortlos weiter.
Katya holte sie ein. »Scher dich nicht um sie«, sagte sie in warmem Tonfall. »Ich persönlich denke, du bist ganz schön mutig.«
Laurel sah Katya an: »Was meinst du mit ›mutig‹?«
»Ich jedenfalls kenne nicht viele Frühlingselfen außer unserem Personal. Und erst recht keine Soldaten.«
»Wachtposten«, korrigierte Laurel und wusste nicht recht, warum.
»Trotzdem. Sie sehen so … ungehobelt aus.« Katya machte eine kleine Pause und schielte über das Geländer hinunter in die Eingangshalle, wo sie Tamani vermutete. »Und es gibt so viele von ihnen.«
Laurel verdrehte die Augen.
»Natürlich kennt ihr zwei euch schon so lange. Das ist dann etwas anderes, denke ich.«
Laurel nickte, auch wenn das nur die halbe Wahrheit war. Soweit sie sich erinnern konnte, kannte sie Tamani erst ein knappes Jahr. Dennoch waren ihr alle anderen Elfen, denen sie täglich begegnete, nicht halb so vertraut – jedenfalls, soweit sie sich erinnern konnte. »Bis nachher dann«, sagte sie fröhlich, und die Müdigkeit der letzten Wochen war nahezu verflogen.
»Wie lange bleibst du weg?«, fragte Katya noch mit großen Augen.
So lange es geht, hätte Laurel am liebsten geantwortet, doch sie sagte: »Ich weiß es nicht. Aber wenn ich dich heute Abend nicht mehr sehe, dann morgen.«
Katya schien nicht überzeugt. »Du solltest nicht allein mit ihm gehen. Vielleicht kann Caelin dich begleiten.«
Laurel unterdrückte das Bedürfnis, noch einmal die Augen zu verdrehen. Caelin war, durch welchen Zufall auch immer, der einzige männliche Herbstelf in ihrem Alter. Selbst mit seiner mickrigen Statur und seiner Piepsstimme wollte er noch die Beschützerrolle für all seine »Damen«, wie er sie nannte, spielen. Das hatte Laurel gerade noch gefehlt: Ein Herbstelf an ihrer Seite, der versuchte zu beweisen, dass er besser als jedes andere männliche Wesen war, dem sie begegneten. Und das genau würde Caelin tun.
Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, wie Tamani darauf reagieren würde.
Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Andererseits wäre das vielleicht auch ganz interessant. Caelin machte nicht den Eindruck, als könnte er länger als zehn Sekunden vor Tamanis Augen bestehen. Sie würde es schon genießen, wenn er ihn auf seinen Platz verwies – allerdings längst nicht so sehr wie die Zeit mit Tamani allein. »Glaub mir, Katya, ich brauche keinen Anstandswauwau. «
»Wenn du meinst«, grinste Katya und fügte ebenso ernst wie unsicher hinzu: »Viel Vergnügen.«
»Wohin gehen wir heute?«, fragte Laurel, nachdem sie und Tamani
ihre Scharade vollzogen hatten, was hieß, förmlich und schweigend
über das Akademiegelände und zum Tor hinauszuschreiten.
»Was meinst du wohl?«, fragte Tamani grinsend und zeigte auf den großen Weidenkorb, der an seinem linken Arm hing.
»Ich fragte, wohin wir gehen – nicht, was wir machen. « Aber sie war nicht verstimmt. Es tat ihr so gut, die Akademie zu verlassen – den frischen Wind im Gesicht zu spüren, die weiche Erde unter ihren Füßen … und Tamani, der hinter ihr ging, aus dem Augenwinkel zu beobachten. Am liebsten hätte sie die Arme ausgebreitet, sich umgedreht und gelacht, doch sie beherrschte sich.
»Das wirst du schon sehen«, sagte er und geleitete sie mit seiner Hand auf ihrem Rücken einen Weg entlang, der von den Häuserreihen wegführte, die sie beim letzten Mal durchstreift hatten. »Ich möchte dir etwas zeigen. «
Der Weg wurde schmaler und führte bergan. Als sie die Spitze des hohen Hügels erklommen hatten, traute Laurel einen Moment lang kaum ihren Augen. Die ausgedehnte Hügelkuppe lag im Schatten eines riesigen Baumes mit langen Ästen, die weit auseinanderragten. Von Weitem erinnerte er an eine Eiche – nur mit filigranen, länglichen Blättern, aber statt eines hohen, stattlichen Stammes war dieser unglaublich knorrig, gedrungen und unförmig. Selbst das mächtigste aller Rothölzer im Redwood Nationalpark, der an ihr Grundstück bei Orick grenzte, hätte kümmerlich neben ihm ausgesehen.
Abgesehen von seiner enormen Größe schien er nicht allzu ungewöhnlich zu sein, doch als Laurel in den Schatten seiner weit ausladenden Äste trat, schnappte sie nach Luft. Sie fühlte etwas – etwas, das sie nicht beschreiben oder erklären konnte. Als ob die Luft unter dem Baum dicker wurde und wie Wasser um sie herumwirbelte. Lebendiges Wasser, das in ihre Atemluft sickerte und sie rundum ausfüllte.
»Was ist das denn?«, keuchte sie, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. Laurel hatte nicht einmal bemerkt, dass Tamani inzwischen neben ihr stand und seine Hand beruhigend an ihre Taille gelegt hatte.
»Das ist der Weltenbaum. Er besteht… aus Elfen.«
»Wie …« Laurel wusste nicht einmal, wie sie ihre Fragen formulieren sollte.
Tamani runzelte die Stirn. »Wie soll ich sagen – das ist eine lange Geschichte.« Er führte sie näher an den Stamm heran. »Vor Abertausenden von Jahren – noch bevor es Menschen gab – sprossen Elfen in den Wäldern von Avalon. Der Sage zufolge konnten wir damals noch nicht sprechen. Aber es gab einen Elfen, den allerersten Winterelfen, der mächtiger war als alle anderen vor und nach ihm. Neben seiner Macht besaß er ungeheure Weisheit. Als er fühlte, dass sein Ende nahte, wollte er sein Wissen weitergeben. Und so kam er, anstatt zu warten, bis er verwelkte, auf diesen Hügel hier und betete zu Gaia, der Mutter aller Natur, und erklärte, er wolle sein Leben aufgeben, wenn sie sein Bewusstsein in Form eines Baumes bewahren würde.«
»Heißt das, er … ist … dieser Baum?«, fragte Laurel und ging noch einen Schritt auf den knorrigen Stamm zu.
Tamani nickte. »Er ist wirklich der ursprüngliche Baum. Andere Elfen konnten mit ihren Fragen und Problemen hierherkommen. Und wenn sie genau zuhörten – immer wenn der Wind blies –, konnten sie das Rascheln der Blätter hören, mit dem er sein Wissen weitergab. Die Jahre vergingen und bald brachten die Vögel den Elfen das Sprechen bei und…«
»Die Vögel?«
»Ja. Die Vögel waren die Ersten. Die Elfen hörten, wie sie sangen und Laute von sich gaben – so lernten wir, die Stimme zu gebrauchen.«
»Und was geschah dann?«
»Unglücklicherweise vergaßen die Elfen, als sie zu reden und singen anfingen, dem Rauschen der Blätter zuzuhören. Und lange Zeit war der Weltenbaum in Avalon ein Baum wie jeder andere. Dann wurde Efreisone König. Efreisone war ebenfalls ein Gelehrter und er fand in uralten Schriften Teile der Sage vom Weltenbaum. Nachdem er die Geschichte rekonstruiert hatte, wollte er den Weltenbaum unbedingt wiederbeleben und sich sein Wissen zunutze machen. Er verbrachte Stunden über Stunden im Schatten des Baumes, sorgte für ihn und erweckte ihn aus seiner Untätigkeit. Währenddessen hörte er zu seiner Überraschung allmählich die Worte, die der Baum verkündete. Von ihm erfuhr er die Geschichten aller bisherigen Generationen und jeden Abend schrieb er sie zu Hause auf und erzählte sie seinen Untertanen. Und als er spürte, dass seine Zeit nahte, beschloss er, in den Baum einzugehen.«
»Was meinst du damit?«
Tamani zögerte. »Er … pfropfte sich selbst als Ast auf diesen Baum auf. Er verwuchs mit ihm und wurde ein Teil von ihm.«
Laurel versuchte, sich das vorzustellen. Es war grotesk – und faszinierend zugleich. »Und warum hat er das getan?«
»Elfen, die Teil des Weltenbaumes werden, überlassen ihm ihr Bewusstsein. Die Weisheit Tausender Elfen lebt in diesem Baum.« Er machte eine Pause. »Man nennt sie die Schweigsamen.«
Laurels Miene spiegelte wider, was sie in diesem Moment begriff, und sie schnappte kaum hörbar nach Luft. »Dein Vater hat es auch getan. Auch er ist Teil des Baumes. «
Tamani nickte.
Laurel trat einen Schritt zurück, weil sie sich plötzlich wie ein Eindringling vorkam. Doch nach einem kurzen Moment streckte sie ihre Hand aus und berührte vorsichtig den Stamm. Yeardley hatte ihr beigebracht, mit äußerstem Gefühl in den Fingerspitzen das Wesen einer Pflanze zu erspüren – endlich mal eine Lektion, die sie mit Leichtigkeit gelernt hatte. Sie schloss die Augen, legte die Hände an die Rinde und spürte dem Wesen des Baumes nach. Was sie jetzt erlebte, war vollkommen anders als alles, was sie bisher in Pflanzen gefühlt hatte. Das Leben summte nicht sanft unter ihren Händen – es toste wie ein reißender Fluss und schlug Wellen wie ein mächtiger Tsunami. Sie vergaß beinahe zu atmen, als eine Art Lied in ihre Hand strömte, den Arm hinauf, bis es sie von Kopf bis Fuß erfüllte. Sie drehte sich mit großen Augen zu Tamani um. »Und so wird er ewig leben.«
»Ja. Aber unerreichbar für uns – als ob er gestorben wäre. Ich … ich vermisse ihn.«
Laurel zog ihre Hand von der Baumrinde zurück und ließ sie in Tamanis gleiten. »Wie oft machen Elfen das?«
»Nicht oft. Es bedeutet Opfer. Du musst in den Baum eingehen, solange du noch die Kraft für das Verfahren hast. Mein Vater war nur hundertsechzig Jahre alt, er hätte noch gut dreißig, vierzig Jahre leben können, aber er fühlte, wie seine Kräfte nachließen, und wusste, dass er schnell handeln musste.« Er lachte düster. »Das war das einzige Mal, dass ich meine Eltern miteinander streiten hörte.«
Nach einer kurzen Pause fuhr er traurig fort. »Wenn du in den Baum eingehst, musst du allein herkommen – deshalb weiß ich nicht, welchen Teil sich mein Vater ausgesucht hat. Aber manchmal könnte ich schwören, seine Gesichtszüge auf dem Zweig dort zu sehen.« Tamani zeigte auf einen Zweig drei Astgabelungen über ihm, doch dann zuckte er die Achseln. »Naja, da ist wahrscheinlich mein Wunsch der Vater des Gedanken.«
»Vielleicht nicht«, sagte Laurel und suchte verzweifelt nach tröstenden Worten. Nach einer Weile lastender Stille fragte sie: »Wie lange dauert es?« Im Geiste sah sie einen älteren Elfen, wie er von dem Baum ergriffen und sein Leben förmlich in ihn aufgesogen wurde.
»Oh, das geht schnell«, erwiderte Tamani und vertrieb die gruseligen Bilder aus Laurels Gedanken. »Vergiss nicht, beide – der Elf, der zum Baum wurde, und der erste, der in ihn einging – waren Winterelfen. Der Baum hat einen Teil ihrer immensen Kräfte beibehalten. Mein Vater …« Tamani zögerte. »Mein Vater hat mir erzählt, dass man sich einen Platz auf dem Baum aussucht und sich ihm unterwirft. Wenn dein Verstand klar und deine Beweggründe rein sind, wirst du im nächsten Augenblick verwandelt.« Sie sah, wie sein Blick zurück an die Stelle wanderte, wo er das Gesicht seines Vaters zu erkennen glaubte.
Laurel trat einen Schritt näher an ihn heran. »Du hast gesagt, der Baum kommuniziert. Kannst du nicht zu ihm sprechen?«
Tamani schüttelte den Kopf. »Nicht zu ihm direkt. Man kann zu dem Baum als Ganzem sprechen – und er antwortet mit einer Stimme.«
Laurel blickte hinauf zu den obersten Ästen. »Könnte ich mit dem Baum sprechen?«
»Heute nicht. Das dauert. Du musst kommen und dem Baum deine Frage stellen – oder ihm dein Problem nennen. Dann setzt du dich schweigend hin und lauschst, bis deine Zellen sich erinnern und seine Sprache verstehen.«
»Und wie lange dauert das?«
»Stunden. Tage. Das ist schwer vorherzusagen – und es hängt davon ab, wie genau du hinhorchst. Und wie offen du für seine Antwort bist.«
Sie zögerte lange, bevor sie weiterfragte. »Hast du es schon einmal probiert?«
Tamani drehte sich zu ihr um und sah sie an. Nur selten war sein Blick bisher so offen verletzlich gewesen. »Ja.«
»Und? Hast du eine Antwort erhalten?«
Er nickte.
»Wie lange hat das gedauert?«
Er zögerte. »Vier Tage.« Dann grinste er. »Ich bin störrisch. Ich war nicht offen für seine Antwort, sondern wollte unbedingt die Antwort erhalten, die ich mir wünschte.«
Sie versuchte, sich Tamani vier Tage lang reglos und schweigend unter dem Baum sitzend vorzustellen. »Was hat er dir gesagt?«, flüsterte sie.
»Das sage ich dir vielleicht ein anderes Mal.«
Laurels Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an, als ihre Blicke sich trafen und die von Leben erfüllte Luft um sie herumwirbelte. Dann lächelte Tamani und zeigte auf einen schönen Rasenfleck nur wenige Meter jenseits des Schatten spendenden Weltenbaumwipfels.
»Können wir nicht hier essen?«, fragte sie, weil sie in der Nähe des Baumstamms bleiben wollte.
Tamani schüttelte den Kopf. »Das wäre unhöflich«, sagte er. »Wir überlassen den Baum möglichst denen, die Fragen an ihn haben. Und das ist eine äußerst private Angelegenheit«, fügte er noch hinzu.
Obwohl Laurel das durchaus verstand, war sie ein wenig traurig, aus dem Schatten des Weltenbaumes hinaus in die Sonne zu treten. Tamani breitete ein spärliches Picknick aus – es gab nun einmal keinen Grund, in dem satten Sonnenlicht Avalons noch viel zu essen – und sie setzten sich ins Gras. Laurel ließ sich auf den Bauch plumpsen und genoss es für diesen kurzen Moment, absolut nichts zu tun.
»Wie geht es dir beim Lernen?«, fragte Tamani.
Laurel überlegte. »Ich staune immer wieder«, antwortete sie schließlich, »was man mit Pflanzen alles machen kann.« Sie rollte sich auf die Seite, um ihn direkt anzusehen, und stützte sich auf den Ellbogen. »Und meine Mom ist Naturheilkundlerin. Glaub mir, das will etwas heißen.«
»Hast du viel gelernt?«
»Eigentlich schon.« Sie zog die Stirn kraus. »Ich meine, ich habe wahnsinnig viel Theorie gelernt. Ich hätte nie gedacht, dass ich in so kurzer Zeit so viel Wissen aufnehmen kann. Aber in der Praxis läuft es nach wie vor katastrophal.« Sie stöhnte und ließ den Kopf zurück ins Gras fallen. »Mir ist noch nie ein Zaubertrank gelungen. Manche sind besser geworden als andere – aber bisher war noch nicht ein Einziger richtig.«
»Nicht einer?«, fragte Tamani unterschwellig besorgt.
»Yeardley sagt, das ist normal. Er sagt, es kann Jahre dauern, bis der erste Trank gelingt. Aber so viel Zeit habe ich nicht – nicht hier in Avalon und nicht, um meine Familie zu beschützen. Aber er sagt, ich bin auf dem richtigen Weg.« Sie drehte sich wieder zu Tamani. »Er sagt, obwohl ich mich an nichts erinnern kann, sieht er, dass ich vieles wieder erlerne. Und dass ich ungewöhnlich schnell aufhole. Ich hoffe, er hat recht«, murmelte sie. »Und du? Dein Leben ist bestimmt aufregender als meins im Augenblick.«
»Eigentlich gar nicht. Derzeit ist es sehr ruhig am Tor. Zu ruhig.« Tamani saß mit Blick auf den Weltenbaum im Gras – er hatte die Knie an die Brust gezogen und die Arme um die Beine geschlungen. »Ich war in letzter Zeit viel auf Erkundungstour.«
»Was meinst du mit – Erkundung?«
Er sah sie kurz an, bevor sein Blick wieder zurück zum Baum wanderte. »Ich entferne mich vom Tor, um einen besseren Überblick über das Grundstück zu gewinnen. « Er schüttelte den Kopf. »Wir haben seit Wochen keinen einzigen Ork gesehen. Und irgendwie glaube ich nicht, dass sie plötzlich den Plan, Avalon zu erobern, aufgegeben haben.« Er lachte nervös. Dann sprach er nüchtern weiter. »Ich suche nach dem Grund dafür, kann aber nicht viel tun. Ich bin kein Mensch – in jener Welt käme ich nicht klar. Also komme ich nicht an alle Informationen heran, die ich brauche. Irgendetwas fehlt. Das spüre ich.« Dann zuckte er die Achseln. »Aber ich weiß einfach nicht, was es ist und wo es zu finden wäre.«
Laurel blickte zum Baum. »Warum fragst du nicht die Schweigsamen?«
»So funktioniert das nicht. Der Baum ist nicht allwissend – und erst recht kein Wahrsager. Er birgt das gesammelte Wissen aus vielen tausend Jahren, aber jenseits von Avalon kennt er nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, selbst die Schweigsamen können mir dabei nicht helfen. Das muss ich allein schaffen.«
Ein paar Minuten lagen sie ausgestreckt da und genossen die Sonnenwärme. »Tam?«, sagte Laurel zögernd.
»Hm?« Tamani hatte die Augen geschlossen.
»Hast du …« Laurel zögerte noch immer. »Hast du es manchmal satt, ein Frühlingself zu sein?«
Er riss die Augen auf, um sie sogleich wieder zu schließen. »Wieso?«
Sie suchte nach einem Weg, ihn zu fragen, ohne ihn zu beleidigen. »Alle denken, Frühlingselfen sind nicht so gut wie alle anderen. Ihr müsst euch verbeugen, ihr müsst dienen, du musst hinter mir hergehen … Das ist doch ungerecht.«
Tamani schwieg eine Weile und dachte nach. Gedankenverloren leckte er über die Unterlippe. »Hast du es manchmal satt, dass die Leute denken, du seiest ein Mensch?«, fragte er schließlich zurück.
Laurel schüttelte den Kopf.
»Und warum nicht?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich sehe aus wie ein Mensch, das passt schon.«
»Nein, das ist die logische Erklärung dafür, warum die Leute denken, du seiest ein Mensch. Ich will wissen, warum die Frage dich nicht stört.«
»Weil immer alle gedacht haben, ich sei ein Mensch – ich habe mich daran gewöhnt«, antwortete sie – und erst als sie ihre eigenen Worte hörte, begriff sie, dass sie in seine Falle getappt war.
Er grinste. »Siehst du? Mir geht es genauso. Ich bin immer ein Frühlingself gewesen und habe mich immer als solcher verhalten. Du könntest mich auch fragen, ob ich es satthabe zu leben. Dies ist mein Leben.«
»Aber merkst du nicht irgendwo tief in deinem Inneren, dass es falsch ist?«
»Warum soll das falsch sein?«
»Weil du eine Person bist – so wie jeder andere. Warum sollte es deinen Status in der Gesellschaft bestimmen, welche Art von Elf du bist?«
»Ich glaube, die Art, wie Menschen den gesellschaftlichen Status definieren, ist mindestens genauso empörend. Wahrscheinlich noch mehr.«
»Wieso?«
»Ärzte, Anwälte … was meinst du, warum die so geachtet werden?«
»Weil sie gebildet sind. Und Ärzte retten Menschenleben.«
»Deshalb verdienen sie mehr und nehmen in der Gesellschaft einen höheren Rang ein, stimmt’s?«
Laurel nickte.
»Wo liegt da der Unterschied? Herbstelfen sind gebildeter und auch sie retten unser Leben. Winterelfen sogar noch mehr, sie bewahren Avalon vor Überfällen von außen, sie bewachen unsere Tore und sorgen dafür, dass wir von den Menschen nicht entdeckt werden. Warum sollen sie dann nicht mehr verehrt werden?«
»Aber es ist doch der reinste Zufall! Niemand sucht sich aus, ein Frühlingself zu sein.«
»Das vielleicht nicht, aber du entscheidest dich dafür, so hart zu arbeiten. Alle Herbstelfen tun das. Das ist nicht so, als ob du herumsäßest und ab und zu mal einen Zaubertrank braust. Du hast mir erzählt, wie viel du lernst. Jeder Herbstelf studiert viel. Und auch wenn sie es sich nicht ausgesucht haben, Herbstelfen zu sein – sie entscheiden sich, zu arbeiten und ihre Fähigkeiten zu entwickeln, um mir zu helfen. Wenn das nicht meinen Respekt verdient, dann weiß ich es nicht.«
Das klang irgendwie einleuchtend. Aber noch immer juckte Laurel die falsche Art und Weise. »Es geht nicht nur darum, dass Herbst- und Winterelfen verehrt werden«, sagte sie. »Es geht darum, dass auf Frühlingselfen herabgesehen wird. Es gibt so viele von euch«, sagte sie. Dabei drückte sie ihr Gewissen, weil sie sich erinnerte, dass Katya vor Kurzem dasselbe gesagt hatte, wenn auch in ganz anderem Ton. »Kann sein, dass die Winterelfen Avalon schützen, aber die Frühlingselfen sorgen dafür, dass hier alles funktioniert. Ihr macht so gut wie sämtliche Jobs. Gut, die Sommerelfen sorgen für Unterhaltung, aber wer kocht das Essen, baut Häuser und Straßen, wer näht und wäscht meine Kleider?« Laurels Stimme war lauter geworden. »Du. Ihr Frühlingselfen! Ihr seid nicht nichts – ihr seid alles!«
Etwas in Tamanis Blick sagte ihr, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Er presste seine Lippen zusammen und dachte einen Moment nach, bevor er antwortete. »Vielleicht hast du recht«, sagte er sanft, »aber so ist es nun einmal. So ist es immer gewesen. Die Frühlingselfen dienen Avalon. Wir dienen gern«, fügte er mit Stolz hinzu. »Ich jedenfalls. Es ist ja nicht so, als wären wir Sklaven. Ich bin vollkommen frei. Sobald ich meine Aufgaben erledigt habe, kann ich mir aussuchen, was ich tue und wohin ich gehe.«
»Bist du wirklich frei?«, fragte Laurel.
»Ja, das bin ich.«
»Wie frei?«
»So frei, wie ich sein will«, antwortete er ein wenig hitzig.
»Bist du frei genug, um neben mir zu gehen?«
Er schwieg.
»Bist du frei genug, um mehr als ein Freund für mich zu sein? Wenn«, sie betonte dieses wenn, »ich jemals in Avalon leben sollte und mit dir zusammen sein wollte – wärst du dafür frei genug?«
Tamani sah weg, und Laurel wusste, dass er diese Diskussion vermeiden wollte.
»Nun?«
»Wenn du es wolltest«, sagte er schließlich.
»Wenn ich es wollte?«
Er nickte. »Ich darf dich so etwas nicht fragen. Du müsstest mich fragen.«
Sie rang nach Luft – und Tamani sah sie an.
»Warum, denkst du, mache ich mir so viele Gedanken über David?«
Laurel blickte in ihren Schoß.
»Ich kann nicht einfach bei dir vorbeikommen und meine Absichten verkünden. Ich kann dich nicht einfach ›entführen‹. Ich kann nur warten – und hoffen –, dass du eines Tages kommst und mich fragst.«
»Und wenn ich das nicht tue?«, fragte Laurel kaum hörbar.
»Dann, schätze ich, werde ich für den Rest meines Lebens warten.«