Drei
Laurel saß im Schneidersitz auf dem Bett und schnitt mit einer Schere behelfsmäßige Merkkärtchen aus Kartonblättern zurecht. Sie hatte am Vortag nur eine Stunde lang gelesen, als ihr klar wurde, dass die Situation förmlich nach Karteikarten schrie. Und nach Textmarkern. Ein Jahr Biologieunterricht mit David hatte sie anscheinend in eine neurotisch methodisch vorgehende Schülerin verwandelt. Doch schon am nächsten Morgen stellte sie bestürzt fest, dass das »Personal« – wie jeder die leise sprechenden, einfach gekleideten Diener nannte, die durch die Akademie huschten – keine Ahnung hatte, was Merkkärtchen waren. Immerhin kannten sie Scheren, also würde Laurel sich die Karteikarten selbst zurechtschneiden. Die Textmarker waren allerdings ein hoffnungsloser Fall.
Auf ein leises Klopfen rief Laurel nur: »Herein!« Sie hatte Angst, beim Aufstehen die kleinen Karten überall zu verstreuen.
Die Tür ging auf und ein blonder Schopf schaute um die Ecke. »Laurel?«
Laurel hatte längst aufgegeben, jemanden wiedererkennen zu wollen, und so nickte sie nur und wartete darauf, dass die andere sich vorstellte.
Unter dem koboldhaften Haarschnitt breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, das Laurel automatisch erwiderte. Wie angenehm, dass jemand sie einfach direkt anlächelte! Das Essen am Abend zuvor war eine einzige Katastrophe gewesen. Laurel war gebeten worden, gegen sieben zum Abendessen herunterzukommen. Eine Elfe zeigte ihr den Weg über die Treppe in den Speisesaal, und Laurel folgte ihr – in ihrem Sommerkleid, mit nackten Füßen und Pferdeschwanz. Als sie das Wort Speisesaal anstatt Cafeteria hörte, hätte sie eigentlich ahnen können, was sie erwartete. In dem Augenblick, als sie den Saal betrat, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Alle saßen in ordentlichen Hemden und Seidenhosen oder bodenlangen Röcken und Kleidern da – es war praktisch ein Festakt. Und das Schlimmste war, dass Aurora sie ganz nach vorne zerrte, damit sämtliche Herbstelfen sie willkommen heißen konnten. Hunderte von Herbstelfen sahen sie an.
Merke: Zieh dich zum Abendessen passend an.
Doch das war Schnee von gestern, jetzt begegnete ihr ein echtes Lächeln.
»Komm rein!« Laurel war egal, wer die Elfe war oder was sie wollte – Hauptsache, sie war nett zu ihr. Und gab ihr einen Grund für eine Pause.
»Ich bin Katya«, sagte die Elfe.
»Laurel«, antwortete Laurel automatisch.
»Ja klar, ich weiß«, lachte Katya. »Jeder hier weiß, wer du bist.«
Laurel senkte verlegen den Blick.
»Hoffentlich gefällt es dir hier in der Akademie«, fuhr Katya wie eine perfekte Gastgeberin fort. »Ich selbst fühle mich immer ein bisschen unsicher, wenn ich unterwegs bin. Dann schlafe ich auch nicht gut.« Sie setzte sich neben Laurel aufs Bett.
Laurel wich ihrem Blick aus und brummte zustimmend, ohne etwas zu sagen. Sie fragte sich, wie weit Katya wirklich schon gereist sein konnte – innerhalb der Grenzen Avalons.
Laurel hatte tatsächlich nicht gut geschlafen. Sie hoffte, dass Katya recht hatte und es an der neuen Umgebung lag. Doch sie war mehrmals von Albträumen aus dem Schlaf gerissen worden – in denen es nicht nur wie üblich um Orks ging oder um Gewehre, die auf Tamani zielten. Sie hatte auch nicht geträumt, wie sie auf Barnes zielte oder dass eisige Wellen über ihrem Kopf zusammenschlugen. Letzte Nacht war nicht sie es gewesen, die vor Barnes in Zeitlupe davonlief – sondern ihre Eltern, David, Chelsea, Shar und Tamani.
Laurel war aufgestanden und zum Fenster gegangen. Sie hatte die Stirn an die kühle Scheibe gelegt und auf die Lichter herabgesehen, die ihr aus der Dunkelheit entgegenblinkten. Was für ein schrecklicher Widerspruch, nach Avalon zu kommen, um zu lernen, wie sie sich und ihre Lieben beschützen konnte – und sie eben dadurch der Gefahr auszuliefern! Es sei denn, die Orks wären nur hinter ihr her – dann war ihre Familie vielleicht sicherer, wenn sie nicht bei ihnen war. Die ganze Situation war außer Kontrolle geraten. Sie hasste es, sich hilflos zu fühlen – und nutzlos.
»Was machst du da?« Katya riss Laurel aus ihren düsteren Gedanken.
»Karteikarten.«
»Was für Karten?«
»Hm, Lernhilfen, wie ich sie zu Hau… bei den Menschen benutze.«
Katya nahm eins der selbst ausgeschnittenen Kärtchen in die Hand. »Sind das einfach kleine rechteckige Karten, oder ist etwas Besonderes an ihnen, das ich nicht sehe?«
»Nein, einfache Kärtchen«, erwiderte Laurel.
»Warum machst du sie dann selbst?«
»Hm?« Laurel zuckte mit den Achseln. »Vielleicht weil ich sie brauche?«
Katya sah sie aus großen Augen unschuldig fragend an. »Sollst du nicht lernen, solange du hier bist? Das hat Yeardley jedenfalls zu mir gesagt.«
»Ja, schon. Aber die Merkkärtchen helfen mir beim Lernen«, erklärte Laurel. »Also lohnt es sich, sie zu machen.«
»Das meine ich nicht.« Katya lachte und nahm die silberne Glocke, auf die Aurora Laurel gestern aufmerksam gemacht hatte. Ihr glasklares Geläut machte in dem großen Zimmer ein paar Sekunden lang die Runde und ließ die Luft beinahe lebendig werden.
»Wow!«, staunte Laurel und erntete einen verwirrten Blick von Katya.
Wenige Sekunden später stand eine Elfe mittleren Alters in der Tür. Katya nahm Laurel die Schere aus der Hand und sammelte die Kartonblätter und Merkkärtchen auf. »Die müssen alle in kleine Rechtecke von dieser Größe geschnitten werden«, sagte sie und händigte der Elfe eins der Kärtchen aus. »Und das ist absolut wichtig und hat oberste Priorität – noch vor allem, was du gerade zu tun hast.«
»Selbstverständlich«, sagte die Elfe und knickste, als spräche sie zu einer Königin und nicht zu einer jungen Elfe, die ihre Tochter hätte sein können. »Möchtest du, dass ich sie hier im Zimmer schneide, damit du sie gleich benutzen kannst? Oder soll ich sie mit hinausnehmen und bringen, wenn der ganze Stapel zugeschnitten ist?«
Katya zuckte die Achseln und sah Laurel an. »Von mir aus kann sie hierbleiben und sie hat recht. Dann können wir die Karten gleich nach und nach benutzen.«
»In Ordnung«, murmelte Laurel. Sie hatte große Probleme damit, eine erwachsene Frau um so niedere Dienste zu bitten.
»Setz dich hierher«, sagte Katya und zeigte auf Laurels Fensterplatz. »Da ist das Licht gut.«
Die Frau nickte nur, nahm den Stapel Kartonblätter, setzte sich ans Fenster und begann, sie säuberlich in kleine Rechtecke zu schneiden.
Katya ließ sich auf dem Bett neben Laurel nieder. »Jetzt zeig mir, was du mit den Merkkärtchen machst, und ich werde sehen, wie ich dich unterstützen kann.«
»Ich kann meine Kärtchen selbst ausschneiden«, flüsterte Laurel.
»Klar, aber du musst deine Zeit für wichtigere Dinge nutzen.«
»Sie hat sicher auch Wichtigeres zu tun«, gab Laurel zurück und wies unauffällig mit dem Kinn auf die Elfe am Fenster.
Katya stand auf und sah Laurel unumwunden an. »Sie? Das glaube ich nicht. Sie ist nur eine Frühlingselfe.«
Laurel war empört. »Was heißt das, nur eine Frühlingselfe? Deshalb ist sie trotzdem eine Person – mit Gefühlen! «
Katya verstand die Welt nicht mehr. »Habe ich gesagt, sie hätte keine? Aber das ist nun mal ihr Job.«
»Karten auszuschneiden?«
»Die Aufgaben zu erledigen, die Herbstelfen von ihnen verlangen. Sieh es mal so«, fuhr Katya in ihrem lässigen Ton fort. »Wahrscheinlich haben wir sie davor bewahrt, herumzusitzen und darauf zu warten, dass eine andere Herbstelfe sie für irgendetwas einspannt. Jetzt lass uns anfangen, sonst verplempern wir noch die Zeit, die sie uns spart. Bei welchem Buch bist du gerade?«
Laurel lag ausgestreckt auf dem Bauch und starrte in ihr Buch. Sie
konnte nicht mehr lesen, weil sie stundenlang gelernt hatte und die
Wörter vor ihren Augen verschwammen. Auf einmal klopfte jemand an
die offene, aufwendig geschnitzte Kirschholztür. Laurel blickte auf
und sah eine ältere Frühlingselfe mit freundlichen rosa Augen und
den absolut symmetrischen Fältchen im Gesicht, an die sie sich
immer noch nicht gewöhnen konnte.
»In der Eingangshalle wartet Besuch auf dich«, hauchte die Elfe kaum hörbar. Die Frühlingselfen waren angewiesen, um Laurel herum für äußerste Ruhe zu sorgen und sie nicht dauernd zu behelligen. Die anderen Schüler offenbar ebenfalls. Den ganzen Tag lang sah Laurel nur Katya – außer beim Abendessen, bei dem sie die meiste Zeit angestarrt wurde. Doch mittlerweile war sie beim letzten Buch angekommen – danach würde der Unterricht beginnen. Ob das gut oder schlecht war, wusste sie nicht, aber immerhin war es etwas anderes.
»Besuch?« Laurel brauchte ein paar Sekunden, bis ihr lernmüdes Hirn aufwachte. Dann schrie sie vor Freude auf. Tamani!
Laurel lief einige Treppen hinunter und nahm dann einen etwas längeren Weg, der sie durch einen abgerundeten Glasgang voller Blumen in sämtlichen Regenbogenfarben führte. Was für schöne Blüten! Zu Beginn war das alles, was Laurel in ihnen sah – fantastische Farben, die sich in leuchtenden Beeten über das gesamte Akademiegelände erstreckten. Doch sie dienten nicht nur der Dekoration, sondern wurden von den Herbstelfen weiterverarbeitet. Jetzt, nachdem sie bald eine Woche lang gelernt hatte, kannte sie die Pflanzen und ging im Vorbeigehen instinktiv ihre Namen durch.
Blauer Rittersporn, rote Ranunkeln, gelbe Freesien und Callas, getüpfelte Flamingoblumen – und ihr neuester Favorit: Cymbidien, mit zarten weißen Blütenblättern und einem dunkelrosa Blütenkern. Sie strich sanft über die Blüten einer Orchidee und wiederholte im Kopf, wozu sie im Allgemeinen verwendet wurde – heilt Vergiftungen durch gelbe Blumen, stoppt vorübergehend die Fotosynthese, phosphoresziert bei korrekter Mischung mit Sauerampfer.
Sie verstand nur wenig von den Zusammenhängen der einzelnen Fakten, doch dank ihrer »Karteikarten« – die die Frühlingselfe, wie sie zugeben musste, viel sorgfältiger zugeschnitten hatte, als sie es gekonnt hätte – hatte sie alles behalten.
Laurel verließ den Blumengang und eilte — ja, hüpfte – die letzten Treppen hinunter. Tamani lehnte in der Nähe des Eingangs an einer Wand, und Laurel konnte sich nur mühsam beherrschen, nicht jubelnd auf ihn zuzurennen.
Statt des lässigen Hemdes und der Kniehose, die sie an ihm kannte, trug er eine geschmeidige Tunika über einer schwarzen Hose. Sein Haar war sorgfältig zurückgekämmt und sein Gesicht sah ohne zerzauste Strähnen ganz anders aus. Als sie ihn umarmen wollte, hielt er sie mit einer knappen Handbewegung davon ab. Verwirrt blieb sie vor ihm stehen. Tamani lächelte, verbeugte sich leicht und neigte gleichzeitig den Kopf mit derselben Geste der Ehrerbietung, auf der die Frühlingselfen ihr gegenüber bestanden. »Schön, dich zu sehen, Laurel.« Er wies auf die Tür. »Wollen wir?«
Sie sah ihn befremdet an, aber als er den Kopf noch einmal in Richtung Ausgang bewegte, ging sie entschlossen voran. Der Weg durch das Akademiegelände verlief nicht, wie sie es von zu Hause gewohnt war, geradeaus, sondern wand sich verschlungen durch Blumenbeete und Rasenflächen. Leider waren hier auch andere Herbstelfen unterwegs. Laurel fühlte ihre Blicke. Die meisten versuchten, ihre Neugier hinter Büchern zu verstecken, einige aber glotzten sie offen an.
Lange gingen sie schweigend daher, und Laurel versuchte immer wieder, einen Blick von Tamani zu erhaschen, der darauf bestand, zwei Schritte hinter ihr zu bleiben. Ein schelmisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, aber er sagte nichts. Als sie das Tor passiert hatten, hielt er sie auf, indem er seine Hand sanft auf ihren Rücken legte, und wies mit dem Kopf auf eine Reihe hoch aufragender Sträucher. Dorthin wandten sie sich nun, und als die Akademie aus ihrem Blickfeld verschwunden war, wurde sie von einem Paar kräftiger Arme emporgehoben und herumgewirbelt.
»Ich habe dich schrecklich vermisst!«, sagte Tamani mit dem Grinsen, das sie so sehr liebte.
Laurel umarmte ihn lange. Er erinnerte sie an ihr Leben jenseits der Akademie und war wie ein Anker in ihrer eigenen Welt. Der Welt, die sie noch immer ihr »Zuhause« nannte. Schon merkwürdig, innerhalb weniger Tage hatte sich ihre direkte Brücke nach Avalon in die stärkste Verbindung zum Leben der Menschen verwandelt.
Und dann war er, wie er eben war. Auch das hatte viel für sich.
»Tut mir leid, das alles«, sagte er. »Die Akademie ist sehr streng, was die Verhaltensregeln von Frühlings- und Herbstelfen angeht, und ich will nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst. Na ja, wahrscheinlich wäre eher ich es, der Schwierigkeiten bekäme … aber egal, lass sie uns am besten vermeiden.«
»Wenn es sein muss.« Laurel grinste und griff mit beiden Händen in Tamanis Haar und wuschelte darin herum, bis die Strähnen ihm ins Gesicht fielen. Aufgekratzt nahm sie seine Hand – endlich war sie wieder in freundlicher, vertrauter Gesellschaft! »Bin ich froh, dass du gekommen bist! Ich dachte schon, ich werde verrückt, wenn ich noch einen Abend länger lernen muss.«
»Es ist bestimmt harte Arbeit – aber sie ist wichtig«, sagte er nüchtern.
Laurel senkte den Blick auf ihre nackten, mit dunkler Erde besprenkelten Füße. »So wichtig ist es nun auch wieder nicht.«
»Und ob. Du hast keine Ahnung, wie sehr wir all die Dinge benötigen, die Herbstelfen herstellen.«
»Aber ich kann überhaupt noch nichts! Ich habe noch nicht einmal mit dem Unterricht angefangen.« Stöhnend schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, wie viel ich in knapp zwei Monaten überhaupt lernen kann.«
»Kannst du nicht wiederkommen … von Zeit zu Zeit?«
»Vielleicht.« Laurel blickte auf. »Wenn ich eingeladen werde.«
»Oh, du wirst … eingeladen.« Tamani grinste, als wäre das Wort lustig. »Keine Sorge!«
Ihre Blicke trafen sich und Laurel war wie hypnotisiert. Dann wandte sie sich nervös ab und machte sich wieder auf den Weg. »Wohin gehen wir jetzt?«, fragte sie, um ihre Verlegenheit zu kaschieren.
»Gehen?«
»Jamison hat gesagt, du würdest mich herumführen und mir alles zeigen. Und ich habe nur ein paar Stunden Zeit.«
»Ich weiß nicht, ob er das meinte …«, sagte Tamani offensichtlich überrumpelt.
»Ich habe die ganze Zeit nur Pflanzennamen auswendig gelernt …« Laurel hielt inne. »Sechs. Tage. Lang. Jetzt will ich Avalon sehen!«
Ein weiteres Grinsen erhellte Tamanis Miene, dann nickte er. »Einverstanden. Wohin möchtest du?«
»Ich … ich habe keine Ahnung.« Laurel drehte sich zu ihm um. »Wo ist es in Avalon am schönsten?«
Tamani holte scharf Luft und dachte nach. Dann fragte er: »Möchtest du zusammen mit anderen etwas machen – oder nur mit mir?«
Laurel blickte den Hang hinab. Einerseits wollte sie nur mit Tamani zusammen sein. Andererseits traute sie sich nicht, so lang mit ihm allein zu bleiben. »Geht nicht beides?«
Tamani grinste. »Klar – wir könnten …«
Sie legte den Zeigefinger auf seine Lippen. »Sag nichts. Überrasch mich.«
Tamani zeigte auf den Weg hügelabwärts. »Da geht’s lang.«
Laurel war sehr aufgeregt, als sie die Akademie hinter sich ließen.
Sie gingen an den langen Steinmauern entlang, die das Tor
einfassten, und schon bald teilte sich der Weg in verschiedene
Straßen, die hier und da auch durch Gebäude führten. Die Straßen
waren jedoch nicht befestigt, sondern bestanden aus derselben
weichen schwarzen, nährstoffreichen Erde wie der Weg vom Tor zur
Akademie. Die Erde kühlte Laurels nackte
Füße und gab ihr Kraft für jeden einzelnen Schritt. Dieser
Spaziergang war jetzt schon zehn Mal besser als jeder andere
zuvor.
Je weiter sie sich von der Akademie entfernten, desto geschäftiger wurde es. Sie kamen zu einer Art Markt unter freiem Himmel. Hunderte von Elfen bummelten umher, stöberten in den Auslagen der Geschäfte und besuchten die Verkaufsstände mit Glitzerware. Alles sah bunt und lebendig aus. Laurel brauchte einige Sekunden, bis sie begriff, dass das vielfarbige Leuchten – das sie beinahe blendete, während sie durch die Menge lief – von den Blüten der Sommerelfen herrührte. Eine von ihnen ging dicht an Laurel vorbei; sie trug ein Saiteninstrument und stellte eine umwerfend schöne Blüte zur Schau, die an ein tropisches Gewächs erinnerte. Sie war leuchtend rot mit sonnengelben Streifen und bestand aus zehn breiten Blütenblättern, die spitz zuliefen. Das sah so ähnlich aus wie bei dem Purpursonnenhut, über den Laurel erst gestern etwas gelernt hatte. Diese Blüte war wirklich riesig! Die unteren Blütenblätter schwebten nur knapp über dem Boden, während die oberen wie eine riesige Krone über den Elfenkopf hinausragten.
Nur gut, dass ich keine Sommerelfe bin, dachte Laurel, als sie sich daran erinnerte, welche Last sie mit ihrer Herbstblüte gehabt hatte, die sie vor knapp einem Jahr hatte verstecken müssen. Das Ding würde nie unter ein T-Shirt passen.
Wohin sie auch blickte, überall sah sie grell leuchtende Tropenblüten in schier unendlicher Vielfalt. Auch waren die Sommerelfen anders angezogen als sie. Sie trugen denselben leichten, glänzenden Stoff wie Laurel und ihre Klassenkameradinnen, aber ihre Kleider waren länger geschnitten und saßen viel lockerer, mit Rüschen, Quasten und vielerlei Verzierungen, die durch die Luft flatterten, oder mit Schleppen, die den Boden fegten. Protzig, fand Laurel. Wie die Blüten.
Sie sah sich nach Tamani um – er war noch immer da –, zwei Schritte hinter ihrer linken Schulter. »Mir wäre es lieber, wenn du vorangehen würdest«, sagte Laurel, die es leid war, sich immer nach ihm umdrehen zu müssen.
»Mein Platz ist hier.«
Laurel blieb stehen. »Dein Platz?«
»Bitte mach jetzt keine Szene«, erwiderte Tamani leise und schubste sie sanft mit den Fingerspitzen weiter. »So ist es nun mal.«
»Ist das wieder so eine Frühlingselfengeschichte?«, fragte Laurel mit leicht erhobener Stimme.
»Laurel – bitte«, flehte Tamani sie an und sah sich hektisch um. »Lass uns später darüber sprechen.«
Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, aber da er ihr auswich, gab sie für den Moment Ruhe und ging langsam weiter. Sie schlenderte eine Weile an den Verkaufsständen entlang und begeisterte sich für die glänzenden Windspiele und die Seidenstoffbahnen, deren Verkäufer manchmal noch extravaganter gekleidet waren als ihre Kundschaft.
»Was ist das denn?«, fragte sie und griff nach einem umwerfenden Kettchen, an dem funkelnde – wahrscheinlich echte – Diamanten mit winzigen Perlen und zarten Blüten aus Glas miteinander verflochten waren.
»Das ist für deine Haare«, kam ihr ein großer Elf mit rotem Schopf zu Hilfe. Mit strahlend weißen Handschuhen, die für Laurels Geschmack viel zu förmlich aussahen, nahm er das zarte Schmuckstück an dem Ende in die Hand, hinter dem unter einem Glasblütenbüschel versteckt ein Kamm saß. Da er ein Mann war, trug er selbstverständlich keine Blüte, aber seine Kleidung verriet gleichfalls den Sommerelf. »Darf ich?«
Als Laurel Tamani ansah, nickte er lächelnd. Der Elf steckte den Flitter in ihrem Haar fest und führte sie zu dem großen Spiegel auf der anderen Seite seines Standes. Laurel strahlte ihr Spiegelbild an. Das silberne Kettchen hing auf der Seite, auf der sie ihren Scheitel trug, bis über die Schulter herab. Es glitzerte in der Sonne und betonte den natürlichen Glanz der hellen Strähnen in ihrem blonden Haar. »Es ist wunderschön«, hauchte sie.
»Möchtest du es tragen oder soll ich es in eine Schachtel packen?«
»Ich kann nicht…«
»Doch«, sagte Tamani leise, »es sieht sehr hübsch aus.«
»Aber ich …«, sie ging an dem Verkäufer vorbei und flüsterte Tamani zu: »Ich habe nichts, womit ich es bezahlen könnte, und ich werde dich ganz bestimmt nicht dafür zahlen lassen.«
Tamani lachte leise. »Man bezahlt hier nicht, Laurel. Das ist … Menschenart. Nimm es. Er fühlt sich geehrt, wenn dir seine Arbeit gefällt.«
Laurel sah hinüber zu dem Verkäufer und druckste herum. »Wirklich?«
»Ja. Sag ihm, es gefällt dir und dass du es in der Akademie tragen wirst, das ist ihm Lohn genug.«
Es war alles so unglaublich. Laurel war nervös – und der felsenfesten Überzeugung, dass jeden Moment ein Sicherheitself um die Ecke kommen und sie verhaften würde. Aber in eine solche Falle würde Tamani sie nicht laufen lassen – oder doch?
Sie blickte noch einmal in den Spiegel, dann lächelte sie den Elfen an. »Es ist wirklich wunder-wunderschön. Ich möchte es gern in der Akademie tragen, wenn ich darf.« Der Elf verneigte sich strahlend. Zögernd ging Laurel weiter.
Und niemand hielt sie an.
Es dauerte einige Minuten, bis sie das Gefühl überwunden hatte, etwas gestohlen zu haben. Ihre Aufmerksamkeit wanderte wieder zu den Marktbesuchern. Viele von ihnen nahmen ebenfalls Sachen aus den Auslagen und von den Ständen mit, ohne dafür etwas zu geben – außer Dank und Komplimenten. Nachdem sie die anderen »Käufer« eine Weile beobachtet hatte, beruhigte sie sich.
»Wir sollten etwas für dich finden«, sagte sie und drehte sich zu Tamani um.
»Bloß nicht. Ich nehme nichts von hier. Mein Markt liegt ein Stück weiter unten am Hang.«
»Und was ist das hier?«
»Das ist der Sommermarkt.«
»Oh!« Laurel regte sich schon wieder auf. »Aber ich bin eine Herbstelfe. Dann hätte ich das nicht nehmen dürfen.«
Tamani lachte. »Nein, nein – Winter- und Herbstelfen kaufen, wo sie wollen. Für sie gibt es keinen extra Markt – dafür sind sie zu wenige.«
Sie dachte kurz nach. »Dann kann ich auf deinem Markt auch einkaufen?«
»Ich denke schon, aber ich wüsste nicht, warum du von dort etwas haben wolltest.«
»Warum nicht?«
Tamani zuckte die Achseln. »Er ist nicht so schön wie der Sommermarkt. Ich meine, der Ort ist schon schön – in Avalon ist es überall schön. Aber wir brauchen keinen Schmuck oder Ähnliches. Wir brauchen Kleider, Essen und Werkzeug für unsere vielen verschiedenen Aufgaben. Ich bekomme dort zum Beispiel die Waffen, Heilmittel und Zaubertränke, die ich für meine Ausrüstung als Wachtposten benötige. Es wird alles in der Akademie angefertigt und uns von dort zugeschickt. Die Sommerelfen brauchen Glitzerkram – das ist Teil ihres Handwerks, insbesondere für Theaterelfen. Wenn du genauer hinschaust, findest du in vielen Geschäften Farben und Bühnenmaterialien, Musikinstrumente, Goldschmiedewerkzeug und so etwas.« Er grinste. »Die Stände hier draußen in der Sonne bieten das ganze Glitzerzeug an, um die Kundschaft anzulocken.«
Sie lachten beide. Laurel griff sich ins Haar und befühlte ihren neuen Kamm. Sie überlegte einen Moment, wie viel er in Kalifornien wert wäre, aber dann verwarf sie den Gedanken. Es war egal – denn verkaufen würde sie ihn niemals.
Je weiter sie sich vom Marktplatz entfernten, umso leerer wurde es. Entlang der breiten Straße reihten sich nun niedrige Häuser aneinander und Laurel blickte verwundert von einer Seite zur anderen. Die Behausungen bestanden aus demselben Zuckerglas wie das Panoramafenster in ihrem Akademiezimmer. Die größeren dieser lichtdurchlässigen Kugeln, die sich zur Straße hin öffneten, waren offenbar Wohnzimmer, während Laurel in den kleineren, pastellfarbenen Glasblasen, die sich an den Seiten und hinten anschlossen, die Schlafzimmer vermutete. Riesige Vorhänge aus pastellfarbener Seide waren hinter den Gebäuden verborgen, sodass überall das Sonnenlicht hineinfiel. Für nächtliche Intimitäten konnten sie jedoch über das gläserne Gebäude gezogen werden. Die Häuser glänzten in der Sonne, und viele waren mit Bändern geschmückt, an denen Glaskristalle und Prismen hingen, die das Licht tanzen ließen wie die Prismen in Laurels Zimmer zu Hause bei ihren Eltern. Die ganze Siedlung schimmerte so hell, dass es beinahe blendete. Dies waren die »Ballons«, die Laurel von weiter oben gesehen hatte, als Jamison sie nach Avalon brachte. »Sie sind unglaublich hübsch«, fand sie.
»Das stimmt, ich schlendere auch gern durch das Sommerviertel.«
Langsam dünnte sich die Bebauung aus und bald gingen Tamani und Laurel wieder hügelabwärts. Die breite Straße führte durch eine weite Wiese mit Klee und Blumen. Laurel hatte solche grünen Wiesen bisher nur in Filmen gesehen. Und obwohl sie sich inzwischen an die Luft in Avalon gewöhnt hatte, die nach feuchter Erde und blühenden Blumen roch, empfand sie den Duft hier draußen im Wind besonders intensiv. Sie atmete tief ein und genoss die belebende Brise.
Als sie merkte, dass Tamani nicht mehr neben ihr ging, blieb sie stehen und drehte sich um. Er hockte am Wegrand und wischte sich die Hände an dem weichen Klee ab. »Was machst du da?«, fragte sie.
Tamani sprang verlegen auf. »Ich … äh, habe meine Handschuhe vergessen«, sagte er kaum hörbar.
Laurel begriff nicht, worum es ging, doch dann sah sie, dass der Klee leicht glitzerte. »Du trägst Handschuhe über dem Blütenstaub?«, fragte sie.
»Das gehört sich so«, sagte er und räusperte sich.
Laurel fiel ein, dass alle Männer auf dem Sommermarkt Handschuhe getragen hatten. Jetzt war ihr alles klar. Schnell suchte sie nach einem anderen Thema, um Tamani aus seiner Peinlichkeit herauszuhelfen. »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie und beschirmte die Augen gegen die Sonne, um zu sehen, wohin die Straße führte.
»Ich zeige dir meinen Lieblingsort in Avalon.«
»Wirklich?« Laurels Aufregung ließ sie einen Augenblick lang vergessen, dass sie ja eigentlich überrascht werden wollte. »Und wo ist das?«
Tamani lächelte. »Mein Zuhause. Ich möchte dir meine Mutter vorstellen.«