Achtzehn
Laurel blieb minutenlang im Wagen sitzen und starrte auf das Blockhaus. Ihr Blockhaus, auf gewisse Weise. Im vergangenen Jahr war sie oft hier gewesen – auf dem Weg nach und von Avalon und anlässlich der Besuche, die sie Tamani im Herbst abgestattet hatte. Doch seit dem Umzug nach Crescent City vor anderthalb Jahren war sie nicht mehr im Haus gewesen. Dort wo das welke Laub zweier Herbste den Rasen nicht vollständig bedeckte, stand das Gras in langen dünnen Halmen hoch, und das Gestrüpp war so gewachsen, dass es bis zur Hälfte der Vorderfenster reichte. Laurel seufzte. An den Vorgarten hatte sie nicht gedacht, als sie die Putzmittel eingepackt hatte. Es würde sich anbieten, beim nächsten Mal David mit seinem Rasenmäher und der Heckenschere mitzunehmen, aber das würde sich im besten Fall merkwürdig anfühlen.
Ein andermal; für heute hatte sie genug zu tun. Sie öffnete den Kofferraum, holte einen Eimer mit Schwämmen, Putzlappen und weiteren Reinigungsutensilien heraus, die sie am Morgen eingeladen hatte, und schleppte alles zum Hauseingang.
Als Laurel das Blockhaus betrat, quietschte die Haustür in den Angeln. Es war seltsam, in ein völlig leeres Haus zu gehen; Häuser sollten voller Möbel und Menschen, Musik und Gerüchen sein. Das große Zimmer, das beinahe das gesamte Erdgeschoss einnahm, gähnte ihr entgegen, ein Raum bis oben voll Leere.
Laurel stellte den Eimer in der Küche auf der Spüle ab und drehte den Wasserhahn auf. Nach kurzem Gurgeln schoss kupferbraunes Wasser hervor, das sie kurz laufen ließ, bis klares Wasser kam. Sie lächelte, weil das Geräusch von laufendem Wasser den Raum tröstlich erfüllte und von den nackten Wänden widerhallte.
Dann ging sie durch die Räume im Erdgeschoss, öffnete die Fenster und ließ die kühle Herbstbrise durch das Haus wehen. Die frische Luft vertrieb den muffigen Modergeruch, der sich in den letzten Monaten eingenistet hatte. Als sich das Fenster rechts neben der Haustür nicht direkt öffnen ließ, rüttelte sie heftig daran.
»Lass mich das erledigen«, sagte eine leise Stimme in ihrem Rücken.
Obwohl sie erwartet hatte, dass er kommen würde, zuckte Laurel zusammen. Sie trat beiseite und sah zu, wie Tamani die beiden Seiten des Fensters mit einem Fläschchen besprühte. Daraufhin ließ es sich leicht öffnen. Grinsend drehte er sich zu ihr um. »Bitte schön.«
»Danke.« Sie lächelte zurück.
Schweigend lehnte er sich an die Wand.
»Ich bin gekommen, um ein wenig zu putzen«, erklärte Laurel und zeigte auf den Eimer mit Reinigungsmitteln.
»Das sehe ich.« Er schaute sich in dem leeren Zimmer um. »Es ist schon lange her, seit zum letzten Mal jemand hier war. Bei mir eine wahre Ewigkeit.«
Nun standen sie schweigend da. Laurel fand die Stille unangenehm, aber Tamani schien sich nicht im Geringsten daran zu stören.
Schließlich ging Laurel zu ihm, um ihn zu umarmen. Seine Arme schlossen sich um ihren Rücken und strichen instinktiv über den Knubbel ihrer abgebundenen Blüte. Erschrocken wich er zurück. »Sorry«, sagte er rasch und verschränkte die Arme. »Das wusste ich nicht.«
»Schon gut«, sagte Laurel und löste hastig den Knoten der Schärpe. »Ich wollte sie ohnehin freilassen, sobald ich die Fenster geöffnet hatte.« Als die Blätter sich aufrichteten, konnte Laurel einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken. »Das macht es besonders schön, hier zu sein«, sagte sie fröhlich.
Tamani wollte schon lächeln, aber dann sah er genauer hin. »Was zum Teufel ist passiert?« Er trat hinter sie.
»Äh … das ist der andere Grund, warum ich hier bin«, gestand Laurel. »Das mit dem Putzen war die Ausrede für meine Eltern, damit sie mich fahren ließen.«
Doch Tamani hörte ihr gar nicht richtig zu. Erschüttert, mit geballten Fäusten, starrte er auf ihren Rücken. »Wie ist das passiert?«, flüsterte er.
»Orks«, antwortete Laurel leise.
Er hob ruckartig den Kopf. »Orks? Wo? Bei dir zu Hause?«
Laurel schüttelte den Kopf. »Ich habe Mist gebaut«, sagte sie, um zu überspielen, wie schlimm es in Wirklichkeit stand. »Gestern Abend bin ich auf eine Party gegangen. Sie haben uns aufgespürt und den Wagen von der Straße abgedrängt. Aber mir geht’s gut.«
»Wo waren denn deine Wachen?«, fragte Tamani. »Sie haben nicht nur die Aufgabe, dein Haus zu bewachen, wie du sehr wohl weißt.«
»Ich glaube, sie waren … anderweitig beschäftigt«, erwiderte Laurel. »Als wir nach Hause kamen, hat Mom erzählt, hinter dem Haus würden Hunde kämpfen.«
»Sie hätten dich umbringen können!«, rief Tamani. Er warf noch einen Blick auf ihren Rücken. »Wie es aussieht, wäre es ihnen beinahe gelungen.«
»Eine … eine Frau hat uns gefunden, gerade noch rechtzeitig. Sie hat die Orks vertrieben.«
»Was für eine Frau?«
Laurel reichte Tamani Kleas Visitenkarte.
»Klea Wilson. Wer ist das?«
Laurel berichtete, was sich am Vorabend zugetragen hatte. Tamani unterbrach sie mehrmals, um genauer nachzufragen, und ging auf jede Kleinigkeit ein. Als sie endlich fertig war, hatte sie das Gefühl, all das Schreckliche noch mal erlebt zu haben. »Dann hat sie uns die Pistolen aufgedrängt und wir sind wieder gefahren«, schloss sie. »Es war sehr seltsam. Ich habe keinen Schimmer, wer sie sein könnte.«
»Wer …« Tamani hielt inne und tigerte hin und her. »Auf keinen Fall…« Weiter ging es erst in die eine, dann in die andere Richtung. Schließlich blieb er mit verschränkten Armen stehen. »Ich muss diese Angelegenheit mit Shar besprechen. Das ist … problematisch.«
»Was soll ich machen?«, fragte Laurel.
»Wie wäre es, wenn du nachts zu Hause bliebest?«, schlug Tamani vor.
Laurel verdrehte die Augen. »Und darüber hinaus? Kann ich ihr trauen? Wenn ich in Schwierigkeiten gerate und die Wachen nicht da sind…«
»Sie sollten immer da sein«, sagte Tamani finster.
»Wenn es aber nicht so sein sollte und ich diese Frau wiedersehe … soll ich ihr nun trauen oder nicht?«
»Sie ist ein Mensch, oder?«
Laurel nickte.
»Dann nicht, wir vertrauen ihr nicht.«
Laurel sah ihn fassungslos an. »Nur weil sie ein Mensch ist? Was heißt das denn dann in Bezug auf David? Oder meine Eltern?«
»Heißt das, du möchtest ihr vertrauen?«
»Nein. Will ich nicht. Vielleicht. Ach, keine Ahnung. Sag mir, ich soll ihr nicht vertrauen, weil sie übernatürliche Wesen jagt oder weil sie uns die Pistolen gegeben hat. Aber du kannst doch nicht behaupten, sie sei nicht vertrauenswürdig, nur weil sie ein Mensch ist. Das ist ungerecht.«
Tamani streckte ungeduldig die Hände aus. »Das ist alles, was ich in der Hand habe, Laurel. Eine andere Beurteilungsgrundlage habe ich nicht.«
»Sie hat mir das Leben gerettet.«
»Schön, dafür hat sie etwas gut.« Er kam zu ihr und lehnte sich neben ihr an die Wand.
Laurel seufzte. »Warum passiert das denn gerade jetzt?«, fragte sie verdrossen. »Ich meine, seit der Sache mit Barnes ist fast ein Jahr vergangen, ohne dass etwas geschehen wäre. Und eines Nachts, peng! Orks, Klea, noch mehr Orks bei mir zu Hause. Und alles auf einmal. Warum?«
Laurel wandte den Kopf, um Tamani anzusehen.
»Na ja«, antwortete er verhalten. »Es stimmt nicht ganz, dass im letzten Jahr nichts vorgefallen wäre.« Er sah sie entschuldigend an. »Wir waren der Meinung, dass du nicht über jeden Ork Bescheid wissen müsstest, der in Crescent City aufgetaucht ist und in deine Richtung geschielt hat.«
»Es gab noch mehr?«, fragte Laurel.
»Ein paar. Aber du hast recht, von einem so gut organisierten und ausgeklügelten Angriff habe ich noch nie gehört.«
»Ich fasse es einfach nicht, dass noch mehr da waren«, sagte Laurel ungläubig. »Ich habe wirklich überhaupt keine Kontrolle über mein Leben.«
»Nun hab dich nicht so. Das stimmt doch gar nicht. Die meisten haben wir schon abgefangen, ehe sie auch nur in der Nähe deines Hauses waren. Dafür sind die Wachtposten zuständig. Das ist keine große Sache.«
»Keine große Sache«, höhnte Laurel. »Du hast leicht reden.«
»Wir hatten die Lage unter Kontrolle«, beharrte Tamani.
»Und gestern Abend? Hattet ihr da die Sache im Griff?«
»Nein, da sind uns die Dinge entglitten«, gab Tamani zu. »Aber so etwas ist noch nie vorgekommen.«
»Und warum ist es dann passiert?«
Tamani lächelte erschöpft. »Gute Frage. Wenn ich es wüsste, könnte ich meine eigenen Fragen gleich mitbeantworten. Zum Beispiel, warum die Orks in letzter Zeit nicht mehr hier herumgeschnüffelt haben, oder wie Jeremiah Barnes herausgefunden hat, dass das Tor auf diesem Grundstück liegt, oder wer in diesem ganzen Durcheinander eigentlich wem welche Befehle erteilt. Das ist nur ein Bruchteil der Sachen, die wir herauszufinden versuchen.«
Laurel schwieg einen Augenblick. »Und was soll ich jetzt machen?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Tamani. »Lass es langsam angehen, würde ich sagen. Pass auf und meide solche Situationen, in denen diese Klea wieder auftauchen könnte.«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
»Ich fürchte, mehr kann ich im Moment nicht für dich tun. Ich werde mit Shar reden. Mal sehen, ob wir etwas herausbekommen. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Danke, dass du gekommen bist, um mir davon zu berichten«, sagte Tamani. »Das war sehr gut, und nicht nur, weil es schön ist, dich zu sehen. Obwohl es mich wirklich sehr freut. Oh«, sagte er und holte etwas aus seinem Rucksack. »Ich habe noch was für dich. Von Jamison.« Er reichte ihr eine große Stofftasche. Als Laurel einen Blick in die Tüte warf, musste sie lachen.
»Zuckerrohrpulver. Daraus stelle ich Zaubertrank-Fläschchen her und meiner ist bald aufgebraucht.« Sie schüttelte den Kopf. »Dann kann ich ja wieder hundert Fläschchen zerbrechen«, sagte sie kläglich.
»Klappt es immer noch nicht?«, fragte Tamani und versuchte, seine Besorgnis zu verbergen.
»Nein«, antwortete Laurel, »aber das wird schon. Bei so viel Nachschub«, fügte sie mit einem frechen Grinsen hinzu.
Tamani lächelte, ehe sein Blick zur Seite schweifte und sich auf irgendetwas hinter ihr konzentrierte.
»Was?«, fragte Laurel und verrenkte sich beinahe den Kopf bei einem befangenen Blick auf ihre Blütenblätter.
»Sorry«, entschuldigte er sich ein weiteres Mal. »Die Blüte ist so schön und letztes Jahr habe ich sie kaum zu sehen bekommen.«
Laurel lachte und tanzte, um ihre Blüte zu zeigen. Als sie wieder stehen blieb, betrachtete Tamani angelegentlich den Putzeimer. Laurel erinnerte sich an die Unterhaltung mit David, und dass er gesagt hatte, wie sexy ihre Blüte war. Wenn David sie sexy fand …
Schluss mit der Spinnerei.
»Und was ist das jetzt hier genau?«, fragte Tamani, um seine Verlegenheit zu überspielen.
»Putzzeug eben. Glasreiniger, Scheuermilch, Allzweckreiniger. « Sie zog ein Paar Gummihandschuhe aus dem Eimer. »Und die hier, damit ich nichts davon abkriege.«
»Und … kann ich dir helfen?«
»Ich habe nur ein Paar Gummihandschuhe mitgenommen, aber…«, sie gab ihm einen Staubwedel, »du kannst Staub wischen.«
»Wie wäre es, wenn ich putze und du Staub wischst?«
»Es geht nur ums Staubwischen«, sagte Laurel lachend. »Dafür musst du keine Rüschenschürze oder so was anziehen.«
Tamani zuckte die Achseln. »Wie du willst. Ich finde es halt sonderbar.«
»Wieso?«, fragte Laurel, während sie warmes Wischwasser einlaufen ließ und die Gummihandschuhe überzog.
»Weil das eine typische Frühlingselfen-Arbeit ist. Sonderbar ist, dass du so was machst. Sonst nichts.«
Laurel lachte, während sie mit dem Schwamm die Arbeitsflächen abwusch. »Ich dachte schon, du stellst dich an, weil Putzen eigentlich Frauensache ist.«
»Menschen«, murmelte Tamani abschätzig und schüttelte den Kopf. »Ich habe schon manch ein Zimmer in meinem Leben geputzt«, fügte er dann munter hinzu.
Sie arbeiteten eine Weile schweigend vor sich hin. Tamani entfernte Spinnweben aus den Ecken und Laurel brachte die Küche auf Hochglanz.
»Wenn du vorhast, das häufiger zu machen, bringe ich dir ein paar Putzmittel aus Avalon mit«, schlug Tamani vor. »Meine Mutter kennt eine M… äh, Herbstelfe, die hervorragende Mittel herstellt. Dann bräuchtest du auch keine Gummihandschuhe.«
»Du wolltest Mixerin sagen«, neckte Laurel ihn.
»Ich bin Soldat«, erwiderte Tamani übertrieben förmlich. »Ich bin von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang von ungehobelten Wachtposten umgeben. Ich entschuldige mich zutiefst für meine schlechten Manieren.«
Laurel sah, wie spielerisch, ja herausfordernd er sie anlächelte. Dann streckte sie ihm die Zunge heraus, was ihn zum Lachen brachte. »Wenn es dir nichts ausmachen würde, hätte ich tatsächlich nichts gegen Putzmittel aus dem Elfenland«, sagte sie. »Wie geht es deiner Mom?«
»Gut. Sie würde dich gerne wiedersehen.«
»Und Rowen?«, fragte Laurel, ohne auf die versteckte Frage einzugehen.
Jetzt strahlte Tamani. »Sie hatte einen ersten Auftritt bei der Feier der Tagundnachtgleiche — zum Niederknien. Sie hat die Schleppe der Elfe gehalten, die in der Nacherzählung von Camelot die Guinevere gespielt hat.«
»Sie war bestimmt wunderschön.«
»Oh ja. Komm doch demnächst auch mal zu einem unserer Feste.«
Laurel fand den Vorschlag sehr verlockend. »Eines Tages vielleicht«, sagte sie lächelnd. »Wenn weniger los ist … du weißt schon.«
»Nirgendwo auf der Welt bist du sicherer als in Avalon«, sagte Tamani.
»Das weiß ich«, sagte Laurel und sah schnell aus dem Fenster.
»Wonach hältst du Ausschau?«, fragte Tamani.
»Nach den anderen Wachtposten.«
»Warum?«
»Nervt es dich nicht manchmal, dass immer jemand zuhört?«
»Nee. Sie sind doch höflich. Sie lassen uns schon allein.«
Laurel schnaubte ungläubig. »Gib’s doch zu, wenn du Shar mit einem Mädchen erwischen würdest, würdest du ihnen auch hinterherspionieren.«
Tamani erstarrte für einen Augenblick, ehe auch er zum Fenster hinschielte. »Stimmt«, sagte er. »Du hast gewonnen.«
»Das ist einer der Gründe, warum ich mir kaum vorstellen kann, je wieder in diesem Haus zu wohnen. Weil man nie richtig allein ist.«
»Es hat aber auch Vorteile«, sagte Tamani halb im Ernst.
»Das kann schon sein.« Laurel ging auf die Anspielung nicht ein. »Aber eine Privatsphäre gehört nicht dazu.«
Schweigend putzten sie weiter. Erst bereute Laurel, dass sie kein Radio mitgebracht hatte, aber Tamani machte die Stille anscheinend nichts aus. Bald merkte auch Laurel, dass es eigentlich gar nicht so leise war. Die Brise, die in den Bäumen rauschte und durch die Fenster ins Haus wehte, spielte einen eigenen Soundtrack.
»Ist es eigentlich hart?«, fragte Tamani auf einmal.
»Was?« Laurel schaute von dem Fenster hoch, das sie gerade putzte.
»Unter den Menschen zu leben. Jetzt da du weißt, was du bist.«
Laurel schwieg. Dann nickte sie. »Manchmal ja. Und was ist mit dir? Ist es nicht hart, in einem Wald zu leben, der so nah an Avalon liegt, nur auf der falschen Seite des Tores?«
»Am Anfang war es schwer, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Und es ist wirklich nah. Ich bin oft drüben. Außerdem habe ich Freunde – Elfenfreunde –, mit denen ich die ganze Zeit zusammen bin.« Er hielt einige Sekunden still. »Bist du glücklich?«, flüsterte er dann.
»Jetzt?«, fragte sie ebenso leise zurück, während sie die Putztücher umklammerte.
Mit einem leisen Lächeln schüttelte Tamani den Kopf. »Dass du jetzt glücklich bist, weiß ich. Das kann ich in deinen Augen sehen. Aber bist du auch glücklich, wenn wir … wenn du nicht hier bist?«
»Natürlich«, antwortete sie rasch. »Ich bin sehr glücklich. « Sie drehte sich wieder um und bearbeitete von Neuem das Fenster.
Tamani sah sie immer noch genauso an.
»Ich habe allen Grund dazu, glücklich zu sein«, fuhr Laurel fort. Sie bemühte sich, ruhig zu klingen. »Mein Leben ist richtig toll.«
»Ich habe nie das Gegenteil behauptet.«
»Du bist nicht der Einzige, der mich glücklich macht.«
Ein kurzes Nicken und eine Grimasse waren die Antwort. »Als ob ich das nicht wüsste.«
»Die Welt der Menschen ist nicht so trostlos und finster, wie du gerne glauben möchtest. Es macht Spaß dort und aufregend ist es auch und«, sie suchte nach weiteren Wörtern, »und …«
»Das freut mich«, sagte Tamani. Er stand dicht neben ihr. »Ich habe nicht gefragt, um eine bestimmte Antwort zu bekommen«, sagte er ernsthaft. »Es interessiert mich wirklich. Und ich habe gehofft, dass du glücklich bist. Ich … ich mache mir Sorgen um dich. Das ist wahrscheinlich nicht nötig, aber so ist es eben.«
Laurel war plötzlich schrecklich verlegen und versuchte, sich zu entspannen. »Tut mir leid.«
»Das sollte es auch.« Tamani grinste.
Laurel schüttelte lachend den Kopf.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er eine Hand hob, sie wieder fallen ließ und die Hände betont unauffällig in die Hosentaschen steckte.
»Was?«, fragte Laurel.
»Nichts«, erwiderte Tamani, drehte sich um und wollte zurück zur anderen Seite des Zimmers gehen.
»Ist es wegen des Pollens?«, fragte Laurel, die an die beiden Vorfälle im letzten Jahr und im Frühsommer in Avalon denken musste.
Tamani nickte.
»Zeig mal.« In Avalon war sie zu spät gekommen, aber das war jetzt die richtige Gelegenheit.
»Letztes Jahr warst du total sauer auf mich.«
»Echt jetzt. Wirf mir bitte nicht das ganze dumme Zeug vom letzten Jahr vor.« Sie packte sein Handgelenk und nahm seine Hand in ihre.
Er wehrte sich nicht.
Auf seiner Hand glitzerte heller feiner Staub. Sie drehte seinen Arm, damit die Sonne auf den Pollen schien, bis er glänzte.
»Ist das hübsch!«
Erst jetzt entspannte Tamani seine Hand. Er grinste neckisch, hob eine Hand und strich ihr mit dem Finger über die Wange. Ein heller silberner Streifen blieb zurück.
»Hey!«
Geschickt wich er ihr aus und malte ihr auch auf die andere Wange einen passenden Strich. »Einer zählt nicht.«
Als er ihr auch noch etwas auf die Nase tupfen wollte, war sie schnell genug. Sie packte wieder sein Handgelenk und wehrte ihn ab. Tamani sah auf seine Hand, die ungefähr zehn Zentimeter vor ihrem Gesicht schwebte. »Beeindruckend.«
Doch dann schoss seine andere Hand so schnell hoch, dass Laurel sie erst sah, als sie ihre Nase berührte. Sie schlug nach seiner Hand, aber er lachte nur und versuchte, sie weiter mit Pollen zu bemalen. Laurel bemühte sich vergeblich, sich zu wehren. Schließlich packte er ihre beiden Hände, drückte sie runter und zog sie an sich. Das Lächeln verging ihr, als sie zu ihm aufblickte. Ihre Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt.
»Ich habe gewonnen«, flüsterte er.
Sie sahen sich in die Augen und Tamani kam näher. Doch bevor sein Gesicht das ihre berührte, senkte Laurel den Kopf und schaute weg. »Tut mir leid«, murmelte sie.
Tamani nickte nur und ließ sie los. »Wolltest du dir die obere Etage heute auch noch vornehmen?«, fragte er.
Laurel ließ den Blick durch das halb geputzte Erdgeschoss schweifen.
»Vielleicht?«
»Wenn du möchtest, bleibe ich hier und helfe dir«, schlug Tamani vor.
»Ich möchte gerne, dass du bleibst«, sagte Laurel und beantwortete damit nicht nur diese einfache Frage. »Aber nur, wenn du es willst.«
»Ich will«, sagte er und sah sie unverwandt an. »Außerdem«, fügte er grinsend hinzu, »hast du vergessen, eine Leiter mitzubringen. Wie willst du sonst ohne meine Hilfe an die Decke rankommen? Du bist ja praktisch noch ein Setzling.«
Sie putzten weitere drei Stunden, bis sie beide müde und verdreckt waren. Doch sie hatten es geschafft, wieder Ordnung in das Haus zu bekommen. Beim nächsten Mal würde Laurel das Putzen sehr viel leichter von der Hand gehen.
Tamani bestand darauf, den Eimer zu tragen, als er sie zu ihrem Wagen zurückbrachte. »Ich fände es schön, wenn du noch länger bliebest, aber es würde mich kolossal beruhigen, dich vor Sonnenuntergang zu Hause zu wissen«, sagte er. »Erst recht nach dem, was letzte Nacht geschehen ist. So ist es einfach besser.«
Laurel nickte.
»Und sei bloß vorsichtig«, sagte er streng. »Wir passen so gut wie möglich auf dich auf, aber auch wir können keine Wunder wirken.«
»Ich bin auf der Hut«, versprach Laurel. »Das war ich schon die ganze Zeit.« Sie blieb noch kurz bei ihm stehen und dieses Mal machte Tamani den ersten Schritt. Er umarmte sie, hielt sie fest an sich gedrückt und legte sein Gesicht an ihren Hals.
»Komm bald wieder«, murmelte er. »Ich vermisse dich.«
»Ich weiß«, erwiderte Laurel. »Ich werde es versuchen.«
Sie setzte sich ans Steuer und richtete den Außenspiegel, damit sie Tamani sehen konnte, wie er ihr mit den Händen in den Hosentaschen nachsah. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine kleine Bewegung und richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen breiten Baum hinten im Vorgarten. Es dauerte einen Augenblick, bis sie den großen, schlanken Elf erkannte, der halb hinter dem Baum stand. Shar. Er sagte nichts, um sich bemerkbar zu machen – er guckte nur böse.
Laurel lief ein Schauer über den Rücken. Shar sah nicht etwa Tamani böse an, sondern sie.