Sechzehn

Laurel unterdrückte ein Schaudern und betrachtete fassungslos das Gesicht, das sie seit knapp einem Jahr in ihren Albträumen verfolgte. Ihre Hand, die David zuverlässig festhielt, zuckte.

»Ich suche ihn schon seit mehreren Jahren«, erklärte Klea. »Also, ich meine, ihn und ein paar andere. Aber als wir ihn das letzte Mal beinahe hatten – das war vor einigen Monaten –, trug er eine Visitenkarte bei sich, auf der er mehrere Namen verzeichnet hatte.« Sie sah Laurel an. »Deiner war auch dabei.«

Bei der Vorstellung, dass Barnes ihren Namen bei sich trug, fingen Laurels Hände an zu zittern. »Und Sie haben sich einfach meinen Namen notiert und ihn laufen lassen?« Laurel erhob nicht die Stimme, aber sie fauchte beinahe.

»So … kann man das nicht sagen.« Kleas Blick huschte nach rechts und links, ehe sie sich vorbeugte und das Foto wieder in den Aktenordner legte. »Er … er war stärker, als wir dachten. Er konnte fliehen.«

Laurel nickte langsam und gab sich große Mühe, ihren bebenden Körper unter Kontrolle zu bringen. Jamisons Warnung zum Trotz hatte sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben gehabt, dass Barnes im vergangenen Jahr doch an seiner Schusswunde gestorben war. Und hier war nun der Beweis – ein hieb- und stichfester Beweis – dafür, dass er sich weiter in ihrer Nähe herumtrieb und es auf sie abgesehen hatte.

»Besonders überrascht siehst du nicht aus. Du kennst ihn also?«

Lügen! Lügen! Lügen!, brüllte es in ihrem Hirn. Doch wozu sollte das gut sein? Sie hatte sich in dem Augenblick verraten, als sie Barnes erkannt hatte. Es war zu spät, das abzustreiten. »Ja, schon. Wir hatten letztes Jahr … eine Art Zusammenstoß.«

»Die meisten würden einen Zusammenstoß mit diesem Kerl nicht überleben«, sagte Klea ausdruckslos, aber die weitergehende Frage lag ohnehin in der Luft. Wieso lebst du noch?

Laurel musste sofort an Tamani denken und hätte fast gelächelt. Sie zwang sich, den Blick auf die Tischplatte zu senken. »Ich hatte eben Glück«, erklärte sie. »Er hatte seine Pistole zu früh an den falschen Platz gelegt.«

»Verstehe.« Klea nickte beinahe weise. »Kalter Stahl ist so ungefähr das Einzige, wovor dieser Mann sich fürchtet. Was wollte er von dir?«

Laurel starrte in Kleas verspiegelte Sonnenbrille und wünschte, sie könnte ihr in die Augen sehen. Sie musste sich rasch etwas ausdenken, um ihr die Wahrheit verschweigen zu können.

»Du kannst es ihr sagen«, meinte David nach einer Weile.

Laurel sah ihn wütend an.

»Sie haben ihn doch längst verkauft, niemand kann ihn euch mehr wegnehmen.«

Wovon redete er überhaupt? Als er bedeutsam ihre Hand drückte, begriff sie. In Ausreden war er tatsächlich besser. Laurel konnte nicht gut lügen. Am besten spielte sie so gut wie möglich mit. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schmiegte sich an Davids Brust, als wäre sie zu fertig, um selbst zu reden.

»Ihre Eltern haben einen Diamanten gefunden, als sie … ihr Haus renovierten«, verkündete David.

Laurel hoffte, dass Klea sein kurzes Zögern nicht bemerkt hatte.

»Der Stein war riesig, und Barnes wollte sie entführen, um Lösegeld zu verlangen oder so. Es war eine außerordentlich traumatische Erfahrung«, versicherte er Klea.

David, du bist einfach brillant.

Klea nickte bedächtig. »Das passt ins Bild. Orks sind seit jeher Schatzsucher. Es liegt in ihrer Natur, und sie brauchen Geld, um sich in unserer Welt zu bewegen.«

»Orks?«, fragte David, um die Scharade weiter fortzuspinnen. »Wie im Märchen oder in Gruselgeschichten? Barnes soll ein Ork gewesen sein?«

»Habe ich Orks gesagt?«, fragte Klea und zog in komischer Manier die Augenbrauen über der Sonnenbrille hoch. »Uups. Andererseits…«, seufzte sie kopfschüttelnd. »Da ihr sie nun schon mal gesehen habt, solltet ihr auch wissen, mit wem ihr es zu tun hattet.« Sie sah Laurel an, die sich wieder aufgerichtet hatte und so tat, als würde sie ihre Tränen wegwischen. »Gut, dass deine Eltern den Diamanten verkauft haben. Barnes wird sie höchstwahrscheinlich in Ruhe lassen. Leider hat er dich aber trotzdem noch auf dem Kieker«, sagte Klea. »Es kann kein Zufall gewesen sein, dass Orks eurer Party heute Abend einen Besuch abgestattet haben.« Sie zögerte. »An so große Zufälle glaube ich nicht.«

»Was sollte er denn jetzt noch mit mir vorhaben?«, fragte Laurel nach einem raschen Blickwechsel mit David. »Den Diamanten kann er nicht mehr bekommen.«

»Rache«, lautete Kleas schlichte Antwort. Sie wandte sich Laurel voll und ganz zu und sie spürte geradezu die Intensität von Kleas Blick hinter der Sonnenbrille. »Rache ist das Einzige, was Orks noch toller finden als eine Schatzsuche.«

Laurel erinnerte sich, dass Jamison an ihrem letzten Tag in Avalon fast das Gleiche gesagt hatte. Es war schon fast komisch, wie in diesem Lügengespinst immer wieder etwas Wahres zum Vorschein kam.

Klea griff nochmals in ihre Tasche und gab Laurel eine schmale graue Karte. »Ich gehöre einer Vereinigung an, die … übernatürliche Wesen … aufspürt. Vor allem Orks, weil sie als Einzige versuchen, sich in die menschliche Gesellschaft einzuschleichen. Die meisten anderen scheuen dies wie der Teufel das Weihwasser. Die Leute hier gehören wie gesagt zu meinem Team, aber unsere Organisation arbeitet auf internationaler Ebene.« Sie beugte sich vor. »Ich glaube, dass du in großer Gefahr bist, Laurel. Wir würden dir gern unsere Hilfe anbieten.«

»Und was haben Sie davon?«, fragte Laurel misstrauisch.

Ein leises Lächeln spielte um Kleas Mundwinkel. »Barnes ist mir einmal entkommen, Laurel. Er ist nicht der Einzige, der noch eine Rechnung offen hat.«

»Sie wollen, dass wir Ihnen helfen, ihn zu fangen?«

»Auf keinen Fall.« Klea schüttelte den Kopf. »Untrainierte Jugendliche wie ihr? Ihr würdet in den sicheren Tod rennen. Und, nichts für ungut, aber du bist ziemlich klein geraten.«

Laurel wollte schon widersprechen, aber David kniff ihr ins Bein. Sie biss sich auf die Zunge.

Klea holte einen Stadtplan von Crescent City aus der Tasche. »Ich würde gerne einige Wachen an deinem Haus aufstellen – bei dir auch, David –, nur für den Fall, dass …«

»Ich brauche keine Wachen«, sagte Laurel, die an die Wachtposten dachte, die bereits bei ihr postiert waren.

Klea stutzte. »Wie bitte?«

»Ich brauche keine Wachen«, wiederholte Laurel. »Ich möchte keine.«

»Also wirklich, Laurel. Es wäre nur zu deinem Schutz. Deine Eltern wären sicherlich einverstanden, denke ich. Ich kann mit ihnen reden, wenn du möchtest …«

»Nein!« Laurel biss sich auf die Unterlippe, als zwei Männer in der Nähe ihre Arbeit unterbrachen und zu ihnen hinübersahen. Jetzt musste sie doch die Wahrheit sagen. »Meine Eltern wissen von nichts«, gestand sie. »Ich habe ihnen nie etwas von Barnes erzählt. Ich war schon wieder zu Hause, ehe sie gemerkt haben, dass ich fort war.«

Klea grinste sie an. »Ach, echt? Dir fällt wohl immer etwas ein, was, Laurel?« Laurel warf Klea einen bösen Blick zu. »Jetzt im Ernst, Mädchen. In der letzten Zeit sind die Orks rund um Crescent City außerordentlich aktiv. Das gefällt mir gar nicht. Zum Glück«, fuhr sie mit einem Anflug von Amüsiertheit in der Stimme fort, »haben wir es mit der Sorte zu tun, die leicht … aufzuhalten ist.« Sie rieb sich kurz die Schläfen. »Im Gegensatz zu anderen Wesen, die ich erledigen durfte.«

»Anderen Wesen?«, fragte David.

Klea ließ ihren Kopf in Ruhe und sah David ernst an. »Ach, David, du glaubst nicht, was ich schon alles gesehen habe. Da draußen laufen die unglaublichsten Gestalten herum.«

David riss die Augen auf und wollte etwas sagen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Ich fürchte, ich habe jetzt keine Zeit, euch mehr davon zu erzählen«, wehrte Klea weitere Fragen ab. Sie sah Laurel an. »Überleg es dir noch mal«, redete sie ihr ins Gewissen. »Nur weil du beim letzten Mal unversehrt davongekommen bist, darfst du diese Kerle nicht unterschätzen. Sie sind schnell, listig und wahnsinnig stark. Wir haben schon Schwierigkeiten genug, sie in Schach zu halten, dabei wurden wir extra dafür ausgebildet.«

»Warum tun Sie das überhaupt?«, fragte Laurel.

»Was meinst du damit? Weil es Orks sind, zum Teufel! Ich jage sie, um den Menschen zu helfen, so wie ich dich heute Abend beschützt habe.« Nach kurzem Zögern fuhr sie fort. »Vor einiger Zeit habe ich alles … alles … verloren, wegen dieser unmenschlichen Ungeheuer. Deshalb habe ich es mir zur Aufgabe gesetzt, ihnen den Garaus zu machen.« Sie schwieg und konzentrierte sich dann wieder auf Laurel. »Wir haben uns viel vorgenommen, ich weiß, aber wenn keiner anfängt, wird nie was daraus. Bitte unterstütze uns, indem du dir helfen lässt.«

»Ich brauche keine Leibwächter«, beharrte Laurel. Sie wusste, wie bockig sie sich anhörte, aber sie musste dabei bleiben. Was hätte sie sonst sagen sollen? Diese Fremde mit ihrem Armeecamp und den schweren Pistolen – es hätte Laurel gerade noch gefehlt, dass sie über ihre wahren Wachtposten stolperte. Je eher sie mit David hier wegkam, umso besser.

Klea verzog das Gesicht. »Wie du willst«, sagte sie leise. »Aber wenn du deine Meinung änderst, denk an meine Karte.« Sie sah von Laurel zu David und zurück. »Fairerweise sage ich euch gleich, dass ich euch trotzdem im Auge behalten werde. Ich möchte nicht, dass noch etwas Schlimmes passiert. Ihr macht einen netten Eindruck. « Sie legte den Finger ans Kinn und dachte nach. »Ehe ihr geht«, sagte sie, »gebe ich euch noch etwas mit. Ich hoffe, ihr versteht, warum, und auch meine Bitte um Geheimhaltung. Vor allem dürft ihr euren Eltern nichts verraten.«

In Laurels Ohren hörte sich das gar nicht gut an.

Klea winkte einem ihrer Männer zu, der ihr daraufhin eine große Kiste brachte. Sie kramte kurz darin herum und holte schließlich zwei Handfeuerwaffen in schwarzen Leinenhalftern heraus. »Ich gehe zwar nicht davon aus, dass ihr sie brauchen werdet«, sagte sie, als sie jedem von ihnen eine Waffe reichte. »Aber wenn ihr euch weigert, Wachtposten aufstellen zu lassen, dann sind Pistolen besser als nichts. Seid lieber übervorsichtig als … nun ja, tot.«

Laurel sah die Waffe an, die Klea ihr mit dem Griff voran hinhielt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie David, ohne zu zögern, zugriff. »Niedlich«, murmelte er, aber sie konnte die Augen nicht von der Pistole wenden. Sehr langsam streckte sie die Hand aus und berührte den kalten Stahl. Die Pistole sah anders aus als die, mit der sie im vergangenen Jahr auf Barnes geschossen hatte, doch sie fühlte sich genauso an. Sofort schossen ihr Bilder von Barnes durch den Kopf, alles war in blutrotes Licht getaucht – Davids Blut auf ihrem Arm, das Blut, das auf Barnes’ Schulter aufblühte, nachdem sie auf ihn geschossen hatte, und am allerschlimmsten, Tamanis Gesichtsausdruck, als auf ihn geschossen wurde, zweimal, mit einer Pistole, die dieser ähnlich war. Sie zog hastig die Hand weg, als hätte sie sich verbrannt. »Ich will sie nicht«, sagte sie leise.

»Das spricht für dich«, sagte Klea ruhig. »Dennoch glaube ich …«

»Ich habe gesagt, ich will sie nicht«, wiederholte Laurel.

Klea sah sie streng an. »Wirklich, Laurel …«

»Ich nehme sie erst mal«, sagte David und griff nach der zweiten Pistole. »Wir reden später darüber.«

Klea musterte David. Sie konnten nicht sehen, was hinter dieser dämlichen Sonnenbrille in ihr vorging. »Das sollte reichen.«

»Aber…«, setzte Laurel an.

»Komm jetzt«, sagte David sanft. »Es ist gleich Mitternacht, deine Eltern machen sich noch Sorgen.« Er legte den Arm um Laurel und führte sie zum Auto. »Oh.« Er blieb stehen und drehte sich zu Klea um. »Vielen Dank. Danke für alles.«

»Ja«, murmelte auch Laurel. »Vielen Dank.« Sie hastete zum Auto und stieg ein, ehe David ihr die Tür aufhalten konnte. Mittlerweile tat ihr wieder der Rücken weh und sie wollte nur noch fort von Klea und ihrem Camp. Sie wollte so dringend nach Hause, dass sie den Wagen bereits anließ, bevor David eingestiegen war. Kaum klickte der Sicherheitsgurt, schoss sie bereits rückwärts und drehte. Sie fuhr, so schnell es ging, über die behelfsmäßige Piste und beobachtete Klea im Rückspiegel, bis sie in der Kurve außer Sicht geriet.

»Wow«, sagte David, als sie auf den Highway zurückfuhren.

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Laurel.

»Sie war einfach unglaublich, oder?«

»Was?« Das hatte Laurel nicht gemeint.

Aber David hatte gar nicht zugehört. Er nahm sich die Waffe vor, die Klea ihm gegeben hatte, und öffnete das Halfter.

»David! Lass sie drin!«, rief Laurel, die versuchte, gleichzeitig David anzusehen und die Straße nicht aus dem Blick zu verlieren.

»Keine Sorge, ich weiß, was ich tue.« Er nahm die Pistole heraus und drehte sie in den Händen. »Sig Sauer«, sagte er.

»Sig was?«

»Sauer. Die Marke. Das ist eine richtig gute Pistole. Teuer«, fügte er hinzu. »Natürlich ist sie nicht halb so cool wie Kleas Pistole. Hast du das Ding gesehen? Eine Automatik. Wetten, dass es eine Glock achtzehn war?«

»Erde an Waffennarr David«, sagte Laurel gereizt. »Was ist in dich gefahren? Ich wusste gar nicht, dass du Waffen so toll findest.«

»Mein Vater hat jede Menge davon«, antwortete er zerstreut, ohne den Blick von der Pistole zu wenden. »Früher sind wir oft auf die Jagd gegangen, vor der Scheidung. Manchmal nimmt er mich noch zum Schießstand mit, wenn ich bei ihm zu Besuch bin. Mom ist nicht so begeistert davon; das Mikroskop ist ihr lieber. Noch ein Beweis mehr dafür, dass sie nicht füreinander geschaffen waren, könnte man meinen.« Er zog am Lauf und Laurel hörte es klicken.

»Pass auf!«, schrie sie.

»Sie ist gesichert – jetzt mach dir mal keine Sorgen.« Es klickte noch mal und das Magazin glitt aus der Pistole. »Mit extralangem Magazin«, freute sich David und ratterte alle möglichen Fakten für sie herunter – mit derselben Stimme, mit der ihr Vater seinen Bestand prüfte. »Zehn Schüsse statt acht.« Er holte eine Kugel heraus und hielt sie ans Licht. »Kaliber 45.« Er ließ einen leisen Pfiff hören. »Damit kann man richtig losballern.«

Die Begriffe rasten durch Laurels Kopf wie eine kaputte Schallplatte. Kaliber 45. Extralanges Magazin. Zehn Schüsse. Losballern. Kaliber 45. Extralanges Magazin. Zehn Schüsse. Losballern.

»Das reicht«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Sie trat voll auf die Bremse und das Auto blieb ruckartig auf dem Seitenstreifen stehen.

David sah sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Angst an. »Was?«

»Was meinst du mit ›was‹?«

»Was ist los?« Sein unschuldiger, unverfälschter Tonfall machte ihr klar, dass er wirklich nicht wusste, warum sie sich so aufregte.

Laurel verschränkte die Arme auf dem Lenkrad und legte ihre Stirn darauf. Sie atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. David sagte nichts, sondern wartete ab, bis sie sich wieder im Griff hatte.

Schließlich brach sie das Schweigen. »Ich glaube, du verstehst nicht, was das alles für mich bedeutet.« Als David dazu schwieg, fuhr sie fort. »Von nun an haben sie uns im Blick, vielleicht schon länger, was weiß ich? Ehrlich gesagt glaube ich Klea sogar, dass du so sicherer bist. Aber woher wollen wir wissen, ob sie nicht auch Elfen jagen?«

David schnaubte vor Empörung. »Also wirklich, das würde sie nicht tun!«

»Nein?«, fragte Laurel und sah David todernst an.

»Natürlich nicht.« Aber er klang nicht mehr ganz so zuversichtlich.

»Hat sie auch nur ein Wort darüber verloren, warum sie die Orks fangen will? Beziehungsweise, warum sie sie töten will, wovon wir mit Sicherheit ausgehen können?«

»Weil sie versuchen, uns zu töten.«

»Davon hat sie nichts gesagt. Sondern weil es eben Orks sind.«

»Ist das nicht Grund genug?«

»Nein. Du kannst niemanden nur deshalb verfolgen, weil er eben ist, was er ist, oder auch, weil andere seiner Art dir etwas angetan haben. Wir können doch nicht einfach davon ausgehen, dass es dort draußen keine guten Orks gibt, genauso wenig, wie dass es keine schlechten Elfen gibt. Daraus, dass sie die Richtigen jagt, können wir noch lange nicht schließen, dass sie es aus dem richtigen Grund tut.«

»Laurel«, sagte David ruhig, eine Hand auf ihrer Schulter, »du machst aus einer Mücke einen Elefanten. Ich finde wirklich, dass du das Ganze ein bisschen zu sehr aufbläst.«

»Das liegt daran, dass du ein Mensch bist. Und diese Pistole, die du so toll findest? Mir gefällt sie weniger gut, weil ich Angst habe, dass sie eines Tages auf mich gerichtet wird – nämlich wenn Klea herausfindet, wer ich bin.«

David erstarrte schockiert. »Das würde ich nicht zulassen.«

Laurel lachte böse. »Vielen Dank für die Blumen, aber glaubst du wirklich, du könntest sie aufhalten? Sie und all diese – keine Ahnung – Ninjas, die für sie arbeiten? « Laurel verflocht ihre Finger mit Davids. »Ich setze große Stücke auf dich, David, aber gegen Kugeln bist auch du machtlos.«

David seufzte. »Ich hasse dieses Gefühl, allem hilflos ausgeliefert zu sein. Es ist eine Sache, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen« — er schmunzelte ironisch – , »ich bin halt ein verrückter Teenager, so was machen wir die ganze Zeit.« Ernüchtert schwieg er eine Weile. »Aber es ist eben etwas ganz anderes, wenn du in Gefahr bist, oder Chelsea und Ryan und all die anderen auf der Party. Heute Nacht sind wirklich schlimme Dinge geschehen, Laurel. Ich hatte Angst.« Er lachte. »Quatsch, ich habe mich zu Tode gefürchtet.«

Laurel senkte den Blick auf ihren Schoß und drehte einen Zipfel ihrer Bluse in den Fingern. »Es tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe«, murmelte sie.

»Darum geht es nicht. Ich bin sehr froh, dass du das getan hast.« Er nahm ihre Hände und hielt sie fest, bis Laurel den Blick wieder hob und ihn ansah. »Ich freue mich, Anteil an deiner Welt zu haben. Und auch wenn es letztes Jahr beinahe mein Tod gewesen wäre, ist es das Spannendste, was ich je erlebt habe.« Er lachte. »Möglicherweise mit Ausnahme von heute Nacht.« Er hob ihre Hände an seine Lippen und küsste sie. »Ich liebe, was du bist, und ich liebe dich.«

Laurel lächelte schwach.

»Ich denke nur, dass wir Hilfe gut gebrauchen können.«

»Wir bekommen doch Hilfe«, erklärte Laurel noch mal. »Seit sechs Monaten bewachen die Elfen-Wachtposten unser Haus.«

»Und wo waren sie heute Nacht?« David wurde laut. »Sie waren nicht da. Klea war da. Ob es dir gefällt oder nicht, sie hat uns gerettet, und damit hat sie einen gewissen Vertrauensvorschuss verdient.«

»Willst du etwa, dass ich zurückfahre und ihr alles erzähle? Dass ich eine Elfe bin, vielleicht auch noch den wahren Grund für Barnes’ Interesse?«, fragte Laurel sauer.

David nahm wieder ihre Hände und drückte sie fest. Das tat er immer, wenn sie sich beruhigen musste. Sie konzentrierte sich auf ihre vereinten Hände und atmete tief ein und aus. »Natürlich nicht«, antwortete David leise. »Wir haben keinen Anlass, ihr mehr zu verraten, als sie bereits weiß. Ich denke nur, du solltest ihr so weit vertrauen, dass du ein wenig Unterstützung von ihr annehmen kannst. Keine Wachen«, fuhr er fort, ehe Laurel protestieren konnte. »Aber wenn sie uns im Auge behalten will, sobald wir nicht mehr bei dir sind, kann das meiner Meinung nach nicht schaden.«

»Wahrscheinlich nicht«, murmelte Laurel.

»Heute Nacht haben wir viele Menschen in Gefahr gebracht, Laurel. Gut, in Zukunft werden wir besser aufpassen, aber falls so etwas wieder passiert, wäre es dir nicht auch lieber, wenn wir uns besser verteidigen könnten?« Er hob die Pistole hoch, die jetzt sicher im Halfter ruhte.

»Bist du sicher, dass dies die beste Methode ist? Klea hat gerade zwei Minderjährigen eine Waffe gegeben, David. Hast du eine Vorstellung davon, wie illegal das ist?«

»Aber es kommt uns doch zugute! Recht und Gesetz verstehen von unserer Situation nicht das Geringste. Wir müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen.« Er machte eine Pause. »Letztes Jahr hast du dich auch nicht darüber aufgeregt, wie illegal es war, dass Tamani die Orks umgebracht hat.«

Laurel schwieg sehr lange. Dann richtete sie sich auf und sah ihm in die Augen. »Hast du schon mal jemanden erschossen, David?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Oder jemanden mit einer Pistole bedroht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Zugesehen, wie auf jemanden geschossen wurde?«

Ernüchtert schüttelte er wieder und sehr langsam den Kopf.

»Ich habe das alles erlebt«, sagte Laurel und stieß die Finger fest auf ihre Brust. »Nachdem wir Barnes entkommen sind, hatte ich fast jede Nacht Albträume. Manchmal träume ich immer noch davon.«

»Ich auch, Laurel. So eine Angst hatte ich noch nie!«

»Du hattest Angst vor Barnes, David. Aber weißt du, was in meinen Albträumen so schrecklich ist? Ich. Ich habe mich vor mir selbst erschreckt. Weil ich die Pistole genommen und auf jemanden geschossen habe.«

»Du musstest es tun.«

»Glaubst du, das spielt eine Rolle? Es ist mir egal, warum ich das getan habe. Tatsache ist, ich habe es getan. Das Gefühl werde ich nie vergessen. Diesen Augenblick des Rückstoßes, wenn der Mensch, der dir gegenübersteht, anfängt zu bluten. Das vergisst man nie, David. Deshalb bitte ich um Entschuldigung, wenn ich deine Begeisterung für diese Pistolen nicht teilen kann.«

David schwieg sehr lange. »Es tut mir leid«, flüsterte er schließlich. »Ich habe nicht darüber nachgedacht.« Er zögerte und seufzte dann entnervt. »Aber du verstehst mich auch nicht. Du hast deine Elfen-Wachtposten und deine Zaubertränke. Ich habe gar nichts in der Hand, das helfen könnte. Verstehst du wenigstens ein kleines bisschen, warum ich mich besser fühlen würde, wenn ich mich ansatzweise verteidigen könnte?«

»Mit einer Pistole fühlst du dich groß und mächtig, ist es das?«, fragte Laurel bissig.

»Nein! Sie gibt mir nicht das Gefühl, mächtiger oder männlicher zu sein, oder was die Leute in den Filmen noch für dummes Zeug quatschen. Aber eine Waffe gibt mir das Gefühl, überhaupt etwas zu tun. Als könnte ich einen Beitrag leisten. Ist das denn so schwer zu verstehen?«

Laurel wollte etwas sagen, hielt aber dann den Mund. Er hatte recht. »Eigentlich nicht«, murmelte sie.

»Außerdem«, sagte David mit einem feinen Grinsen, »weißt du doch, wie ich auf Technologie abfahre. Mikroskope, Computer, Pistolen – ich liebe sie alle.«

Sie brauchte ein paar Sekunden, aber dann lächelte sie zurück. »Das ist allerdings wahr. Ich weiß noch, wie du dich in CSI Lawson verwandelt hast, als ich letztes Jahr geblüht habe.« Sie mussten beide lachen, und auch wenn Laurel sich nicht rundum wohlfühlte, ging es ihr doch ein bisschen besser.