Einundzwanzig

Die Morgenluft war schneidend kalt und die Sonne kroch gerade im Osten als hellrosa Schatten über den wolkigen Horizont. Laurel schlüpfte auf der Veranda in ihre Jacke, zog den Schlüsselbund aus der Tasche und versuchte, bei alldem so leise wie möglich zu sein.

»Wo willst du hin?«

Laurel schrie auf und ließ die Schlüssel fallen. So unauffällig konnte sie nicht gewesen sein.

»Entschuldigung«, sagte ihr Vater, der den Kopf durch die Haustür steckte. Ihm standen die Haare zu Berge und er sah müde aus – ein Morgenmensch war er noch nie gewesen. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Geht schon«, sagte Laurel und hob die Schlüssel wieder auf. »Ich gehe zu Chelsea.« Ihrem Vater hätte sie auch sagen können, wohin sie wirklich ging, aber so war es einfacher und die Chance geringer, dass David es herausfand.

»Stimmt, das hast du ja gestern Abend schon gesagt. Und warum in aller Herrgottsfrühe?«

»Chelsea ist heute Abend mit Ryan verabredet.« Die Lüge kam ihr erstaunlich leicht über die Lippen. »Wir müssen die Zeit nutzen.«

»Na, dann will ich dich nicht länger aufhalten. Viel Spaß«, sagte ihr Vater und gähnte. »Ich gehe wieder ins Bett.«

Laurel lief zu ihrem Auto und fuhr so rasch wie möglich aus der Einfahrt. Je eher sie die Stadt hinter sich ließ, umso besser.

Sie hatte sich entschieden, David nichts zu erzählen. Wegen der damit verbundenen Lügen hatte sie zwar ein schlechtes Gewissen, aber etwas Besseres war ihr nicht eingefallen. Er würde sich große Sorgen machen oder möglicherweise gar verlangen, dass sie nicht hinging.

Wer weiß, vielleicht käme er sogar auf die Idee, sie mit seiner blöden Pistole begleiten zu wollen?

Sie war wütend, weil er die Waffe ständig mit sich herumtrug. Sie konnte es ihm natürlich nicht vorwerfen – schließlich konnte er sich nicht einmal so geringfügig verteidigen wie sie selbst –, aber am Vorabend hatte er mehrmals an das verborgene Halfter gefasst, wenn jemand geklopft hatte. Was alle paar Minuten passiert war – schließlich war Halloween. Es war besser, wenn sie ihm gar nicht erst sagte, wohin sie fuhr. Sie waren beide zu nervös.

Für Chelsea war ihr keine gute Ausrede eingefallen. Deshalb hatte sie ihre Freundin ganz im Dunkeln gelassen. Wenn sie Glück hatte, würde David sie gar nicht vermissen und Chelsea also auch nicht nach ihr fragen. Wenn nötig, würde sie das Fest eben eher verlassen. Dabei ging es ihr nicht nur darum, zurückzukommen, bevor David mit seinem Aushilfsjob fertig war, sondern sie wollte bei Einbruch der Nacht auch unbedingt zu Hause in Sicherheit sein.

Es herrschte wenig Verkehr auf der Strecke nach Orick, aber Laurel behielt auch die Landschaft beidseits der Straße und den Rückspiegel im Auge, um zu überprüfen, ob sie verfolgt wurde. An der einsamen Tankstelle in Orick fuhr sie ab und hielt an, nachdem sie den Blick über den Parkplatz hatte schweifen lassen. Dann rannte sie auf die Toilette und holte ihr Kleid aus dem Rucksack. Sie hatte es bisher nur einmal anprobiert, und als sie den rauschenden Stoff jetzt über den Kopf zog und an ihrem schlanken Körper zurechtzupfte, wurde sie ganz aufgeregt. In der vergangenen Nacht waren die letzten Blütenblätter ausgefallen und ihr Rücken war wieder glatt. Nur eine kleine narbenartige Linie zog sich über die elfenbeinfarbene Haut, genau wie im letzten Jahr. Nachdem sie aus der Toilette gelugt und festgestellt hatte, dass der zur Tankstelle gehörige Laden fast leer war, schoss sie wieder zu ihrem Wagen zurück. Das Gewand flatterte um ihre Knöchel und Flip-Flops. Von der Tankstelle brauchte sie nur noch wenige Minuten bis zu der langen Zufahrtsstraße zum Blockhaus. Sie stellte das Auto hinter einer hohen Tanne ab, wo man es von der Hauptstraße nicht sehen konnte.

Tamani wartete diesmal nicht am Waldrand auf sie, sondern im Vorgarten des Häuschens. Er lehnte am Törchen, in einen langen schwarzen Mantel gewandet. Die gewohnte Kniehose steckte in hohen schwarzen Stiefeln. Sein Anblick ließ sie schneller atmen.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Laurel, ob es ein Fehler war, heute herzukommen. Es ist noch nicht zu spät, du kannst deine Meinung noch ändern.

Tamani rührte sich nicht, als sie auf ihn zuging, aber er verfolgte sie mit Blicken. Er sagte kein Wort, bis sie vor ihm stehen blieb, so nah, dass er sie hätte an sich ziehen können, wenn er es versucht hätte.

»Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.« Seine Stimme brach ein wenig, als hätte er lange nicht gesprochen. Als hätte er die lange kalte Nacht hier verbracht, um auf sie zu warten.

Was wusste sie schon?

Sie könnte wieder gehen. Tamani würde ihr verzeihen. Irgendwann. Sie sah zu ihm hoch. Es war, als wäre er auf der Hut, als merkte er, dass sie kurz davor war, umzukehren.

Ein Windstoß fegte durch die Bäume und wehte Tamani die Haare ins Gesicht. Mit einer Hand strich er die langen Strähnen hinter die Ohren. Einen Augenblick lang, als sein Oberarm vor seinem Gesicht lag, ließ er den gesenkten Blick von oben bis unten über sie schweifen – das tat er nur sehr selten. In diesem Bruchteil einer Sekunde veränderte sich etwas, doch Laurel wusste nicht genau, was.

»Nach Avalon?« Tamani legte ihr sanft die Hand auf den Rücken und lockte sie in den Wald. Gleich würde es kein Zurück mehr geben, das spürte sie.

Sie sah Tamani an, sie schaute in die Bäume.

Dann überschritt sie die Grenze.



Auf den Straßen von Avalon wimmelte es von Elfen. Obwohl Tamani sie behutsam durch die Massen lenkte, war es mühevoll, vorwärtszukommen.

»Was macht man eigentlich genau bei so einem Fest?«, fragte Laurel und wich einer Gruppe von Elfen aus, die sich mitten auf der Straße unterhielten.

»Das kommt ganz drauf an. Heute gehen wir zum Großen Sommertheater und sehen uns eine Ballettaufführung an. Danach versammeln sich alle auf der großen Wiese zu Musik, Buffet und Tanz.« Tamani zögerte. »Dann gehen die einen schon, während andere noch bleiben. Die Feier geht jedenfalls weiter, bis alle restlos zufrieden zu ihren Aufgaben zurückkehren. Jetzt bitte da lang.« Er zeigte auf einen sanft geschwungenen Hügel.

Ein Stückchen hügelaufwärts kam die Arena in Sicht. Im Gegensatz zur Akademie, die größtenteils aus Stein erbaut war, oder zu den Behausungen der Sommerelfen, die hauptsächlich aus Glas bestanden, wurden ihre Mauern von lebendigen Bäumen gebildet, so wie bei Tamanis Mutter. Doch wenn sie dort rund und hohl waren, so präsentierten sich diese schwarzrindigen Bäume flach und gedehnt. Sie lagen in Schichten übereinander, um eine feste Holzmauer zu erschaffen, die mindestens fünfzehn Meter hoch aufragte. Dichtes Blattwerk wucherte darüber, und seidene Tapeten, herrliche Wandgemälde sowie Statuen aus Marmor und Granit schmückten wahllos, wie es schien, das mächtige Gemäuer, um ihm einen festlichen Anstrich zu geben. Es dämpfte Laurels Begeisterung ein wenig, als sie sich anstellen mussten, um ins Kolosseum zu gelangen. Alle, die in der Schlange anstanden, waren festlich gekleidet, doch niemand so fein wie sie. Schon wieder falsch angezogen. Seufzend wandte sie sich an Tamani. »Das dauert ja ewig.«

Tamani schüttelte den Kopf. »Das ist nicht der richtige Eingang für dich.« Er zeigte nach rechts und geleitete sie weiter durch die Menge, bis sie an einen schmalen Torbogen gelangten, der ungefähr fünfzehn Meter vom Haupteingang des Kolosseums entfernt lag. Zwei große Wachtposten in dunkelblauer Uniform standen rechts und links der Pforte.

»Laurel Sewell«, teilte Tamani ihnen leise mit.

Der eine Mann musterte Laurel kurz, ehe er wieder Tamani ansah. Aus einem für Laurel unerfindlichen Grund ließ er seinen Blick über Tamanis Arme schweifen, bevor er den Mund aufmachte. »Am-fear-faire für eine Herbstelfe?«

»Fear gleidheidh«, berichtigte Tamani ihn nach einem unbehaglichen Blick auf Laurel. »Ich bin Tamani de Rhoslyn. Beim Auge der Hekate, Mann, ich habe gesagt, das ist Laurel Sewell.«

Der Wachtposten reckte sich ein wenig und nickte seinem Kameraden zu, der die Pforte öffnete. »Tretet ein.«

»Fear-glide?«, fragte Laurel. Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, merkte sie schon, wie falsch es aus ihrem Munde klang. Sie erinnerte sich daran, wie Jamison ihr im Frühsommer Am-fear-faire erklärt hatte, aber dieser Ausdruck war ihr neu.

»Es bedeutet, dass ich dich … begleite«, erwiderte Tamani mit gerunzelter Stirn. »Als ich ihm deinen menschlichen Nachnamen nannte, nahm ich an, er würde merken, wer du bist, und nicht so ein Theater machen. Aber er wurde eindeutig nicht auf dem Landgut ausgebildet.«

»Auf dem Landgut?« Wieso führte jede Unterhaltung mit Tamani zu einem Crashkurs in Elfenkultur?

»Nicht jetzt«, wehrte er sanft ab. »Ist nicht so wichtig.«

Das fand Laurel auch, als sie sich im Inneren des weitläufigen Kolosseums umsah. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an ihre Fragen, so begeistert war sie.

Die Mauern des Kolosseums waren um eine steil abfallende Senke an der Spitze des Hügels angelegt. Laurel stand auf einem ausgedehnten Theaterbalkon, einem Auswuchs dicht verflochtener Äste, die aus den lebenden Mauern des Kolosseums ragten. Bis auf drei verzierte goldene Sessel, die auf einem Podium in der Mitte des Logenranges standen, waren alle anderen Stühle aus Holz, mit roten Seidenkissen und Armlehnen, die nahtlos aus dem Boden wuchsen. Die Anordnung verriet, dass es darum ging, möglichst gut zu sehen, und nicht, den Raum bis auf den letzten Platz zu füllen.

Am Haupteingang strömten die Elfen hinein und verteilten sich im Erdgeschoss, das genau genommen aus dem grünen Hügel selbst bestand. Unter dem Balkon konnte man nicht sitzen, aber die Elfen drängten sich freundschaftlich zusammen, um so nah wie möglich an die größte Bühne zu gelangen, die Laurel je gesehen hatte. Sie war in weiße, mit Tausenden von Kristallen übersäte Seidenvorhänge gehüllt, die sanft in der Brise wehten und das gesamte Theater in Regenbogenfarben kleidete. Von oben schien die Sonne durch einen dünnen Baldachin aus einer Art Gaze, die sich flatternd im Wind bauschte. Er linderte den grellen Schein der Sonne, ohne ihre wohltätigen Strahlen auszublenden.

Wohin Laurel auch blickte, überall sah sie funkelnde Diamanten, golden schimmernde Stoffe und fein gewirkte Wandteppiche, die von der Geschichte Avalons erzählten. Die dunklen Ecken wurden von goldenen Kugeln erleuchtet, die Laurel an jene erinnerten, die Tamani für sie entzündet hatte, nachdem die Orks sie in den Chetco River geworfen hatten. Darüber hinaus standen in dem weiten Raum Holz- oder Steinsäulen, die mit Blumengirlanden oder appetitlichen Früchten geschmückt waren.

Laurel holte tief Luft und ging nach vorne, um sich einen Sitzplatz auszusuchen. Doch dann sah sie sich um, weil sie instinktiv spürte, dass Tamani nicht mehr bei ihr war. Er stand noch immer an der Pforte, als wollte er die ganze Zeit dort stehen bleiben.

»Hey!«, sagte sie, als sie energischen Schrittes zu ihm zurückging. »Komm, Tam!«

Er schüttelte den Kopf. »Ich warte hier während der Vorführung auf dich und dann gehen wir zum Festplatz. «

»Nein«, sagte Laurel und legte ihm die Hand auf den Arm. »Bitte komm mit«, flehte sie ihn leise an.

»Ich kann nicht«, erwiderte er ebenso leise. »Das ist nicht mein Platz.«

»Ich behaupte, er ist es doch.«

»Das müsstest du mit der Königin regeln«, sagte Tamani belustigt.

»Das habe ich vor.«

»Nein, Laurel, ich kann nicht«, wehrte er sich erschrocken. »Das gibt nur Ärger.«

»Dann bleibe ich eben hier bei dir«, sagte sie und ließ ihre Hand in seine gleiten.

Doch Tamani schüttelte wieder den Kopf. »Das hier ist mein Platz. Da ist deiner.« Er zeigte auf die Stühle mit den roten Kissen im vorderen Bereich des Logenrangs.

»Jamison ist bestimmt auch hier, Tamani. Wir werden beide darauf bestehen, dass du neben mir sitzt. Wetten?«

Tamanis Blicke schossen zwischen Laurel, den erlesenen Herbstelfen und den hereinströmenden Frühlingselfen am Haupteingang hin und her. »Na gut«, seufzte er.

»Vielen Dank!«, sagte Laurel und stellte sich spontan auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. Kaum hatte sie das getan, hätte sie es am liebsten rückgängig gemacht. Doch als sie zurückweichen wollte, kam sie nicht weit. Tamani wandte den Kopf, um ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Er war so nah, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. Mit seinem Atem streichelte er ihre Lippen, und sie spürte, wie sie seine Nähe suchte.

Tamani wandte den Kopf ab. »Geh vor«, sagte er so leise, dass sie ihn kaum hörte.

Laurel führte Tamani weiter nach vorn und er folgte ihr ohne Widerworte. Doch dieser unruhige, beinahe ängstliche Tamani war Laurel fremd. Sein Übermut war verflogen, seine Zuversicht erstickt, er sah so aus, als würde er am liebsten in seinem Mantel versinken.

Laurel blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Sie legte ihm die Hände auf die Arme und sprach erst, als er sie endlich ansah. »Was ist los?«

»Ich sollte nicht hier sein«, flüsterte er. »Ich gehöre nicht hierher.«

»Du gehörst zu mir«, sagte Laurel entschlossen. »Ich brauche dich an meiner Seite.«

Tamani blickte auf sie hinunter und in seinem Blick entdeckte sie einen nie gesehenen Hauch von Furcht. So hatte er nicht einmal ausgesehen, als Barnes auf ihn geschossen hatte. »Das ist nicht mein Platz«, beharrte er. »So ein Elf bin ich nicht.«

»Was für ein Elf?«

»Einer, der sich an ein Mädchen hängt, das über ihm steht, von Ehrgeiz zerfressen, wie ein gemeines Tier. Ich tue so etwas nicht, das hat mit dem Eid, den ich dir geschworen habe, nichts zu tun. Ich wollte dich nur hinterher treffen.«

»Hat das wieder damit zu tun, dass du ein Frühlingself bist?«, fragte sie böse. In der lärmenden Menge blieb diese Unterhaltung unter vier Augen, aber sie senkte dennoch die Stimme.

Tamani mied ihren Blick.

»Das ist es! Es ist nicht nur so, dass sie denken, du wärst zweitklassig – oh, entschuldige, viertklassig –, nein, du denkst es auch noch selbst!«

»So ist es nun mal«, murmelte Tamani, der sie immer noch nicht ansehen mochte.

»Aber so sollte es nicht sein!«, fauchte Laurel. Sie packte Tamani an den Schultern und zwang ihn, sie anzusehen. »Tamani, du bist doppelt so viel wert wie jede Herbstelfe in der Akademie. Ich möchte niemanden aus ganz Avalon lieber an meiner Seite haben.« Ehe sie fortfuhr, biss sie die Zähne zusammen, weil sie wusste, dass ihre Worte ihn verletzen würden, aber sonst würde er ihr wahrscheinlich gar nicht zuhören. »Und wenn du mich nur halb so lieb hast, wie du behauptest, sollte es dir wichtiger sein, was ich denke, als was sie denken.«

Sein Blick verdunkelte sich. Es dauerte eine Weile, aber dann nickte er. »Gut«, sagte er, noch immer mit gesenkter Stimme.

Sie nickte, ohne zu lächeln. Ein Lächeln wäre in dieser Situation unpassend gewesen.

Er folgte ihr und sein schwarzer Mantel rauschte um seine Füße. Nun grübelte er still vor sich hin.

»Laurel!«, rief eine vertraute Stimme. Als Laurel sich umdrehte, entdeckte sie Katya, prächtig gekleidet in ein Seidengewand, das ihre Figur betonte. Über ihren Schultern ragten blassrosa Blütenblätter auf, Ton in Ton mit ihrem Gewand. Sie hatte ihr hellblondes Haar perfekt um den Kopf frisiert und trug einen funkelnden Silberkamm über dem linken Ohr.

»Katya.« Laurel lächelte.

»Ich hatte gehofft, dass du kommst!«, sagte Katya. »Das ist das schönste Fest des Jahres!«

»Ach ja?«, fragte Laurel.

»Unbedingt. Ein neues Jahr beginnt! Neue Ziele, neue Fächer, neue Kurse. Darauf freue ich mich schon lange.« Sie hakte sich bei Laurel ein und ging mit ihr zum entgegengesetzten Ende des Ranges. »Ich glaube, Mara wird morgen endlich zur Gesellin ernannt«, sagte sie kichernd und warf der dunkeläugigen Herbstelfe einen Blick zu. Sie stand nicht weit von ihnen in einem atemberaubenden violetten Kleid, dessen Ausschnitt so tief war, dass Laurel sich nie im Leben damit in die Öffentlichkeit getraut hätte. Wie Katya stand auch Mara in voller Blüte. Ein bescheidener sechsarmiger Stern, der einer Osterglocke ähnelte, betonte die Farbe ihres Kleides.

Laurel drehte sich um, weil sie sichergehen wollte, dass Tamani ihnen folgte. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte sie ihm zu.

»Du hast ihn mitgebracht?«, fragte Katya leise.

»Selbstverständlich«, sagte Laurel extra laut.

Katyas Lächeln war etwas gezwungen. »Wie dumm von mir. Schließlich brauchst du einen Führer. Du bist ja noch nie hier gewesen. Das hätte ich mir denken können. Wir sehen uns nach der Aufführung, ja?« Katya winkte ihr fröhlich zu, drehte sich um und schloss sich einer kleinen Gruppe von Elfen an, die Laurel aus der Akademie kannte. Einige von ihnen starrten sie schamlos an. Sie war so damit beschäftigt gewesen, ihre Umgebung zu bestaunen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie sehr Tamani und sie die Blicke der Elfen im Zwischengeschoss auf sich zogen. Allmählich dämmerte ihr, warum.

Katya und Mara waren nicht die Einzigen, die in voller Blüte standen. Die Blumen, die den Logenrang färbten, waren klein und unspektakulär im Vergleich zu jenen, die Laurel im Sommer gesehen hatte. Wie bei ihr selbst waren sie meist einfarbig und schlicht geformt. Doch sie blühten alle, jede einzelne Herbstelfe.

Nur Laurel nicht.

Laurel dachte über die Temperatur in Avalon nach. Es war ein bisschen kühler als im Sommer, aber der Unterschied war wirklich nicht groß. Woher wussten die Elfenkörper, wann sie blühen sollten? Lag es am Winkel der Sonneneinstrahlung? An den leichten Temperaturunterschieden? Es war schlüssig, dass das gemäßigte Wetter in Avalon die Herbstblüte verzögerte – und möglicherweise verlängerte –, aber wie lange? Laurel machte sich in Gedanken eine Notiz, im nächsten Sommer, wenn sie wieder in Avalon sein würde, mehr über die Umstände der Blüte herauszufinden. Bis dahin musste sie sich damit zufriedengeben, dass es zwischen Crescent City und Avalon einen Unterschied gab. Wer weiß, zwei Tage früher, zwei Grad wärmer, und sie hätte sich nicht so fehl am Platz gefühlt.

Doch Laurel reckte tapfer das Kinn und ging zum Rand des Balkons. Als sie Tamani am Arm fasste, fiel ihr Blick auf seine Hände. Offenbar hatte er unterwegs ein Paar schwarze Samthandschuhe übergezogen. Das hieß, dass es ihm auch aufgefallen war. Aber Laurel wollte nicht länger darüber nachdenken, schaute nach unten und richtete ihre Aufmerksamkeit von den fantastischen Verzierungen auf die Elfen selbst. Ihre Tracht war wesentlich schlichter und Laurel entdeckte viel weniger Schmuck an ihnen, aber die Frühlingselfen schienen zufrieden zu sein. Sie umarmten einander, hoben voller Freude die Kinder in die Luft und begrüßten sich fröhlich. Selbst aus dieser Entfernung konnte Laurel Gelächter und Gekicher hören.

»Sind das alles Frühlingselfen?«, fragte sie Tamani.

»Die meisten«, antwortete er. »Ein paar Sommerelfen sind darunter, die noch zu jung sind, um aufzutreten, aber die meisten Sommerelfen machen heute mit.«

»Ist …« Laurel zögerte. »Ist Rowen auch dort unten?«

»Ja, sie ist irgendwo bei meiner Schwester.«

Laurel nickte, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie hatte nicht bedacht, dass Tamani nicht bei seiner Familie sitzen konnte, nur weil er sie begleiten sollte. Sie fühlte sich schon wieder schuldig. Sie machte es sich zu einfach, wenn sie glaubte, Tamani lebte nur für sie, oder dass er gar kein Leben hatte, wenn es nicht gerade mit dem ihren verbunden war. Es war nicht richtig zu vergessen, dass er auch noch von anderen geliebt wurde.

Auf einmal verstummte der fröhliche Lärm und die Elfen unterhalb des Logenbalkons richteten den Blick erwartungsvoll nach oben.

Laurel spürte, wie Tamanis Hand sich um ihren Arm schloss. Er zerrte sie geradezu zu einer Stuhlreihe, die mehrere Reihen von der Mitte des Ranges entfernt lag. »Jetzt dürften die Winterelfen kommen«, flüsterte er. »Jamison, Yasmine und Ihre Majestät, Königin Marion.«

Laurel schnürte es die Kehle zu, während sie sich von Tamani abwandte und wie alle anderen Elfen auf den obersten Torbogen des Logenrangs starrte. Was überraschte sie mehr – dass es nur drei von ihnen gab oder dass sie sogar zu dritt waren? Bisher waren ihr nur Jamison und die Königin in den Sinn gekommen, die jedoch stets im Hintergrund blieb.

Zunächst erschien ein Gefolge von Wächtern in himmelblauen Uniformen, die Laurel von ihrer letzten Begegnung mit Jamison kannte. Unmittelbar darauf folgte Jamison selbst in einer dunkelgrünen Robe. Mit seinem gewohnten verschmitzten Lächeln führte er ein junges Mädchen an der Hand, das zwölf Jahre alt sein mochte. Ihre makellose ebenholzschwarze Haut und ihre sorgsam frisierten Locken hoben sich gegen das außerordentlich formelle Gewand aus blassvioletter Seide ab. Dann schienen alle Elfen gleichzeitig einzuatmen, als die Königin hereinkam.

Sie trug ein schimmerndes weißes Kleid mit einer funkelnden Schleppe, die sich in der sanften Brise über dem Boden kräuselte. Ihr Haar war pechschwarz und floss in sanften Wellen über den Rücken bis zur Taille. Auf dem Kopf thronte eine zarte Kristallkrone mit Diamantenketten, die sich in ihre Locken ergossen und im Sonnenschein glitzerten.

Doch Laurel sah sich vor allem ihr Gesicht an.

Mit hellgrünen Augen musterte sie die Versammlung der Elfen. Obwohl Laurel wusste, dass ihr Gesicht, gemessen an den Standards der Modemagazine, schön war, konnte sie nicht über die geschürzten Lippen, die schmale Falte zwischen den Augen und die hochgezogene rechte Braue hinwegsehen. Sie deuteten an, dass die Königin die tiefen Verbeugungen leid war, in die nun alle gesunken waren.

Tamani natürlich auch.

Nur Laurel ragte aus der Menge.

Rasch verbeugte auch sie sich, ehe sie der Königin auffiel. Gerade rechtzeitig – die Königin ließ ihren Blick, ohne innezuhalten, über die Feiernden schweifen. Kurz darauf standen alle wieder aufrecht und setzten ihre Unterhaltungen fort.

Marion drehte sich mit einem Rauschen ihres Gewandes um und schritt zu dem Podium, auf dem etwas erhöht die verzierten Sessel standen. Laurel beobachtete, wie Jamison das Mädchen an der Hand nahm und über die Treppe zu ihrem Platz links neben der Königin führte. Die Menge beachtete Jamison nicht weiter, machte jedoch Platz.

»Meine liebe Laurel«, sagte Jamison. Er funkelte sie aus seinen grünen Augen an, die nun zu seiner Robe passten. »Wie schön, dass du gekommen bist.« Er gab Tamani einen Klaps auf die Schulter. »Und du, mein Junge. Zu viele Monate sind vergangen, seit ich dich zuletzt gesehen habe. Ich fürchte, du überarbeitest dich an deinem Tor, was?«

Als Tamani lächelte, sah er nicht mehr ganz so grüblerisch aus. »Wohl wahr, Sir. Laurel hält uns mit ihren Kapriolen auf Trab.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Jamison grinsend. Auf einmal erfüllte der Klang von Saiteninstrumenten, die gestimmt wurden, die Arena. »Ich setze mich lieber«, sagte Jamison. Doch bevor er sich abwandte, schmiegte er seine Hand um Laurels Wange. »Ich freue mich wirklich sehr, dass du da bist«, flüsterte er ihr zu. Dann war er verschwunden und seine tiefgrüne Robe raschelte durch die wartende Menge.

Tamani drängte Laurel zu Sitzen am entgegengesetzten Ende des Balkons, von wo Katya ihnen zuwinkte.

»Wer ist das Mädchen?«, fragte Laurel, die sich den Hals verdrehte, um zu beobachten, wie Jamison dem Mädchen etwas in die Hand drückte, ehe er sich setzte.

»Das ist Yasmine. Sie ist eine Winterelfe.«

»Oh. Heißt das, sie wird eines Tages Königin?«

Tamani schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Sie ist Marion im Alter zu nahe. So war es bereits mit Jamison und Cora, der letzten Königin.«

»In ganz Avalon gibt es nur drei Winterelfen?«

»Ja, nur diese drei. Früher waren es häufig noch weniger. « Tamani lächelte. »Meine Mutter war die Gärtnerin für Marion und Yasmine. Yasmine erblühte wenige Monate, bevor meine Mutter in Rente ging. Es gibt nur sehr wenige Gärtner, denen die Ehre zuteilwird, zwei Winterelfen aufzuziehen.« Er wies mit dem Kopf auf die junge Winterelfe. »Ich habe Yasmine ein wenig kennengelernt, ehe sie in den Winterpalast geschickt wurde. Sie ist nett, und ich glaube, sie hat ein gutes Herz. Jamison hat sie sehr gern.«

In diesem Augenblick trat eine kleine, aber fein gekleidete Elfe vor die mächtigen Vorhänge, die über der Bühne hingen. Die Gespräche verstummten.

»Mach dich auf was gefasst«, sagte Tamani. »So etwas hast du noch nie erlebt.«