Dreiundzwanzig

Einfach unglaublich«, wiederholte Laurel, als sie sich mit Tamani auf weichen Kissen lümmelte, die neben niedrigen Tischen ausgebreitet waren, die wiederum üppig und bunt mit Früchten, Gemüse, Säften und Honigspeisen gedeckt waren. Aus allen Richtungen erklang Musik, während die Elfen auf dem grünen Rasen ruhten, tanzten und redeten. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Theater so sein kann. Und dieses Feuerwerk am Ende! Die Tänzer waren unfassbar gut!«

Tamani lachte. Jetzt da sie auf der Wiese lagen, auf der das Statusdenken weniger streng zum Zuge kam, war er viel entspannter. »Schön, dass es dir so gut gefallen hat. Ich war schon seit Jahren nicht mehr bei einer Samhain-Feier.«

»Wieso denn nicht?«

Tamanis Stimmung verdüsterte sich wieder. »Ich wollte mit dir hierhin.« Er mied ihren Blick. »Es war mir nicht so wichtig, zu einem solchen Fest zu gehen, wenn du auf der anderen Seite des Tores warst. Schon gar nicht zu den Orgien nach Sonnenuntergang.«

»Was für Orgien?«, fragte Laurel zerstreut. Sie tunkte gerade eine große Erdbeere in ein Tellerchen mit hellblauem Honig.

»Äh … also, du würdest es bestimmt etwas eklig finden. «

Laurel wartete, jetzt war sie doch gespannt, was dahintersteckte. Als er nichts mehr sagte, lachte sie. »Na los.«

Tamani zuckte seufzend die Achseln. »Wenn ich mich nicht irre, habe ich dir letztes Jahr schon erklärt, dass die Bestäubung der Fortpflanzung dient und Sex zum Spaß da ist.«

»Ich erinnere mich.« Laurel verstand den Zusammenhang nicht.

»Tja, bei so großen Festen wie diesen haben die meisten Leute … Spaß.«

Laurel riss die Augen auf und lachte dann. »Wirklich?«

»Echt, als würde man in der Menschenwelt nichts dergleichen tun!«

Laurel wollte gerade sagen, dass es in der Tat so war, als ihr einfiel, dass die Leute sich an Silvester um Mitternacht küssten. Doch das war sicher nicht das Gleiche. »Kann sein.« Sie ließ den Blick über die Menge schweifen. »Und niemand fühlt sich gestört? Sind nicht die meisten hier verheiratet?«

»Also, zum Ersten wird in Avalon nicht geheiratet. Das funktioniert über die sogenannte Handfeste. Und die meisten sind ungebunden. Der Hauptgrund für eine Handfeste besteht in Avalon darin, Setzlinge aufzuziehen. Normalerweise sind Elfen dazu erst bereit, wenn sie … achtzig bis hundert Jahre alt sind.«

»Aber …« Laurel sprach nicht weiter und wandte das Gesicht ab.

»Aber was?«, bohrte Tamani sanft.

Sie zögerte nur kurz, ehe sie sich ihm wieder zuwandte. »Gibt es diese Handfeste auch manchmal bei jungen Elfen? Wenn sie so … alt sind wie wir?«

»So gut wie nie.« Anscheinend wusste er, worauf sie hinauswollte, obwohl sie nicht so richtig damit herausrückte. Er sah sie mit brennendem Blick an, bis sie wegsah. »Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht umschlingen. Viele bekennen sich zu einem Liebhaber, einer Liebhaberin. Nicht die Mehrheit, aber es kommt durchaus vor. Meine Eltern waren über siebzig Jahre verschlungen, bevor sie sich für die Handfeste entschieden. Die Handfeste unterscheidet sich von der menschlichen Ehe insofern, als sie nicht als Zeichen einer romantischen Bindung geschlossen wird, sondern zum Zweck der Familiengründung – um einen Setzling auf die Welt zu bringen und eine gesellschaftliche Einheit zu werden.«

Laurel kicherte, um die Spannung zu lockern, die zwischen ihnen entstanden war. »Die Vorstellung ist einfach zu komisch, dass Elfen erst Kinder bekommen, wenn sie hundert Jahre alt sind.«

»Da sind wir hier gerade im mittleren Alter. Wenn wir erst erwachsen sind, verändern wir uns kaum bis zum Alter von hundertvierzig oder hundertfünfzig. Aber dann altern wir ziemlich schnell – nach Elfenmaßstäben jedenfalls. In weniger als zwanzig Jahren kann aus jemandem, der wie ein dreißigjähriger Mensch aussah, einer werden, der wie ein sechzig- oder siebzigjähriger Mensch aussieht.«

»Werden denn alle zweihundert Jahre alt?«, fragte Laurel. Die Vorstellung, zweihundert Jahre zu leben, raubte ihr den Atem.

»Mehr oder weniger. Einige Elfen leben länger, andere kürzer, aber nicht viel.«

»Werden Elfen denn nicht krank und sterben daran?«

»So gut wie nie.« Tamani beugte sich vor und stupste sie auf die Nase. »Dafür haben wir ja euch.«

»Was meinst du damit?«

»Nicht dich persönlich natürlich, aber eben die Herbstelfen. Das ist, als hätte man die weltbesten … Mist, wie nennt ihr das noch mal … Bankhäuser?« Er seufzte. »Hilf mir. Wo gehen die Leute hin, wenn sie krank sind?«

»Ins Krankenhaus?«, schlug Laurel vor.

»Genau.« Tamani schüttelte den Kopf. »Mann, es ist lange her, seit ich ein Menschenwort so gründlich vergessen habe. Ich meine, wir sprechen alle Englisch, aber der Menschendialekt ist schon fast eine eigene Sprache.«

»Mit den Wächtern hast du eben aber nicht Englisch geredet«, sagte Laurel.

»Willst du heute wirklich noch mehr über unsere Geschichte hören?«, neckte Tamani sie.

»Warum nicht?« Laurel labte sich gerade an einem Spieß mit köstlichen Nektarinen. In Avalon war wohl immer Erntezeit.

»Das war Gälisch. Über die Jahre hatten wir durch die Tore reichlich Kontakt mit der Menschenwelt. Am-fear-faire zum Beispiel ist eigentlich ein gälisches Wort für ›Wachtposten‹, das wir übernommen haben, als die Menschen, die wir trafen, noch Gälisch sprachen. Heutzutage ist es nur noch eine Formalität.«

»Und warum sprechen dann alle Englisch? Es gibt doch auch noch Tore in Ägypten und Japan.«

»Und nicht zu vergessen in Amerika«, sagte Tamani lächelnd. »Mit den amerikanischen Ureinwohnern sind wir ebenso in Berührung gekommen wie mit den ägyptischen und japanischen.« Er lachte. »Die Ainu kannten wir besonders gut – das ist das Volk, das dort vor der Ankunft der Japaner lebte.« Er grinste. »Aber auch die Ainu haben nie richtig begriffen, wie lange wir schon da waren, bevor sie gekommen sind.«

»Mehrere hundert Jahre?«, riet Laurel.

»Tausende von Jahren«, erklärte Tamani feierlich. »Die Elfen gibt es schon viel länger als die Menschen. Allerdings haben sich die Menschen schneller fortgepflanzt und weiter verbreitet als wir. Und sie sind entschieden robuster, jedenfalls was das Überleben bei extremen Temperaturen angeht. Unsere Wachtposten überstehen die Winter am Tor von Hokkaido nur mithilfe der Herbstelfen. Aus diesem Grund ist es so gekommen, dass die Menschen die Welt beherrschen. Wir müssen lernen, in ihrer Mitte zu leben. Die Sprache spielt dabei eine große Rolle. In Schottland haben wir ein Ausbildungszentrum eingerichtet. Dort spricht man, wie du weißt, Englisch. Jeder Wachtposten, der es mit der Menschenwelt zu tun bekommt, absolviert eine Trainingseinheit von mehreren Wochen – mindestens.«

»Du und Shar, ihr wurdet dort ausgebildet?«

»Und viele andere.« Tamani hatte sichtlich Gefallen an dem Thema gefunden und erzählte ohne die übliche Zurückhaltung, die er sonst in Avalon an den Tag legte. »Verdeckte Ermittlungen werden normalerweise von Funklern übernommen, und es kommt nur selten vor, dass ein Mixer eine Zutat braucht, die nicht in Avalon wächst. Das Landgut ist um das Tor herum gebaut und liegt mitten in einem ausgedehnten Wildreservat. Auf diese Weise wird erstens das Tor gut bewacht und zweitens die Verbindung zu den Menschen aufrechterhalten. Es wurde vor einigen Jahrhunderten erworben, auf die gleiche Weise, wie wir uns auch dein Grundstück gesichert haben.«

Laurel musste über Tamanis Begeisterung lächeln. Er wusste eindeutig mehr über die Menschenwelt als andere Elfen, und zwar nicht nur, weil er dort lebte, sondern weil er sich schon ewig dafür interessierte.

Und das hat er getan, um mich besser zu verstehen. Er hatte buchstäblich Jahre darin investiert, die Person zu verstehen, die sie als Mensch werden würde. Sie hatte ihre Erinnerungen geopfert und Avalon auf Wunsch der verstorbenen Königin verlassen und Tamani war ihr auf mehr als eine Art und Weise gefolgt. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz.

»Jedenfalls«, schloss Tamani, »ist das Landhaus seit Jahrhunderten unsere stärkste Verbindung zu der Welt außerhalb von Avalon gewesen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass wir die Sprache der Menschen sprechen, die in unserer unmittelbaren Nachbarschaft leben. Doch selbst die Fachleute auf dem Landgut vertun sich manchmal. Es ist also wohl keine so schlimme Sache, wenn ich hin und wieder ein Wort vergesse.«

»Ich finde, du machst das großartig«, sagte Laurel und strich mit dem Finger über Tamanis Arm.

Wie aus Instinkt hob er die Hand und legte sie auf Laurels. Sie starrte auf diese Hand. Sie wirkte so harmlos, aber die Geste hatte etwas zu bedeuten, und Laurel wusste das. Als sie aufschaute, trafen sich ihre Blicke. Sie schwiegen lange. Dann zog Laurel ihre Hand weg. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Laurel hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen.

Sie versuchte, die peinliche Situation zu überspielen, indem sie sich aus dem nächstbesten Krug etwas einschenkte und einen großen Schluck davon trank. Es schmeckte nach flüssigem Zucker. »Oh, wow, was ist das?«, fragte sie nach einem prüfenden Blick auf das rubinrote Getränk.

Tamani warf einen kurzen Blick auf den Krug. »Amrita.«

Laurel musterte ihren Drink mit Misstrauen. »Ist das so was wie Elfenwein?«, fragte sie, weil sie bereits das Gefühl hatte, es würde ihr zu Kopf steigen.

»So ähnlich. Amrita ist der Nektar der Blumen des Yggdrasil-Baumes. Er wird nur an Samhain ausgeschenkt, weil man damit auf das Neue Jahr anstößt.«

»Köstlich!«

»Schön, dass es dir schmeckt.« Tamani lachte.

»Ich bin total satt«, seufzte Laurel. Nur in Avalon konnte es passieren, dass Laurel mehr aß, als sie wollte. Aber jetzt war es mal wieder so weit.

»Dann bist du hiermit fertig?«, fragte Tamani in dem gewohnt verhaltenen Tonfall.

»Oh ja. Völlig fertig«, strahlte Laurel und schmiegte sich tiefer in die Kissen.

»Möchtest du …« Er machte eine Pause und schaute auf die Mitte der Wiese. »Hast du vielleicht Lust, mich zum Tanz zu bitten?«

Laurel richtete sich ruckartig auf. »Ob ich Lust habe, dich zum Tanz aufzufordern?«

Tamani senkte den Blick auf seinen Schoß. »Tut mir leid, wenn ich dir zu nahegetreten bin.«

Doch Laurel hörte ihn kaum, so sauer war sie. »Heißt das, du darfst mich nicht mal bei einem Fest fragen?«

»Heißt das, du sagst Nein?«

Wie er das sagte! Laurels Enttäuschung verwandelte sich in Trauer. Es war nicht Tamanis Schuld, aber sie konnte es nicht ausstehen, dass er sich selbst im Umgang mit ihr an diese lächerlichen sozialen Regeln gebunden fühlte. Laurel hob ihr Kinn und verdrängte ihre Empörung. Sie wollte schließlich nicht ihn bestrafen. »Tamani, hast du Lust zu tanzen?«

Sein Blick wurde weich. »Liebend gerne.«

Laurel sah die Tänzer an und zögerte. »Ich weiß nicht, wie das geht«, sagte sie schüchtern.

»Das kann ich dir zeigen … wenn du möchtest.«

»Okay.«

Tamani stand auf und bot ihr die Hand. Er hatte seinen Mantel abgelegt, trug aber immer noch die schwarze Kniehose und die Stiefel zu einem lässigen weißen Hemd. Die Bänder vor seiner Brust hatten sich gelöst, sodass sie seine gebräunte Brust bewundern konnte. Er sah aus wie der Held in einem Film, wie Westley in Die Braut des Prinzen beispielsweise oder wie Edmond Dantès in Der Graf von Monte Christo. Laurel nahm lächelnd seine Hand.

Gemeinsam schlenderten sie zu einem Musikerensemble. Die meisten spielten Saiteninstrumente, die Laurel nicht kannte, aber die Holzbläser kamen ihr bekannt vor – Flöten und Panflöten und eine einfache Klarinette. Tamani führte sie geschickt durch die Tanzschritte, die sie instinktiv zu kennen glaubte, denn ihre Füße bewegten sich mit einer Anmut, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Sie hüpfte, trippelte und glitt mit den anderen Paaren dahin, und auch wenn sie nicht ganz so graziös tanzte wie sie, hätte sie auf einem Menschenball sehr gut bestehen können. Sie tanzten zu einem weiteren Lied, und zu noch einem, bis Laurel völlig die Zeit vergaß. Auf der süß duftenden Wiese wurde es immer voller, weil immer mehr Elfen vom Speisen zum Tanz übergingen. Bald war Laurel Teil eines Rausches geschmeidiger Glieder und kapriziöser Körper, die sich schwebend drehten und im Rhythmus der mitreißenden Musik der Sommerelfen aneinanderschmiegten. Hauchdünne Kleider flatterten in der lauen Luft des ewigen Frühlings von Avalon.

Tamani führte Laurel unter seinem Arm hindurch in eine Reihe von Drehungen, bis ihr der Kopf schwirrte und sie lachend und keuchend an seiner Brust zusammenbrach. Dann merkte sie, wie eng sie beieinander standen. Es war ganz anders als bei David. Tamani war fast genauso groß wie Laurel und ihre Hüften trafen direkt aufeinander.

Er hielt sie im Rücken und zog sie fest an sich. Wahrscheinlich würde er loslassen, wenn sie sich wehrte, aber sie tat es nicht. Er fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar und legte ihr dann zärtlich die Hand in den Nacken, damit sie den Kopf ein wenig zurücklegte. Tamanis Nase berührte die ihre und sein Atem wehte wie ein kühler Hauch über ihr Gesicht. Laurel ließ ihre Finger über die nackte Haut unter den Schnürbändern seines Hemdes wandern.

»Laurel.« Tamanis Flüstern war kaum zu hören. Bevor sie auch nur an Widerstand denken konnte, küsste er sie.

Seine Lippen waren so weich, so sanft und zart an ihrem Mund. Er schmeckte so süß, sie verschmolz mit ihm. Um sie herum wurde ein langsamer Walzer getanzt, und auch die Erde bewegte sich langsamer auf ihrer Umlaufbahn und würde gleich ganz stehen bleiben, nur für Tamani und sie.

Nur einen Augenblick lang.

Die Illusion verflog, als Laurel den Kopf zur Seite drehte, zurückwich und sich zwang, von ihm fortzugehen. Fort von der Wiese, den Tänzern. Weit weg von Tamani.

Sie schäumte vor Wut und Verwirrung. Tamani folgte ihr schweigend.

»Ich muss gehen«, sagte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen. Das war keine billige Ausrede. Sie war nicht sicher, wie lange sie getanzt hatte, aber wahrscheinlich zu lange. Sie musste zurück. Laurel ging dorthin, wo sie das Tor vermutete, und hoffte, dass sie den richtigen Weg an der Umgebung erkennen würde. Optimistisch wartete sie darauf, dass Tamani seine Hand auf ihre Taille legen und sie sanft führen würde, wie er das schon so oft getan hatte.

Da hatte sie aber kein Glück.

»Du könntest dich wenigstens entschuldigen«, sagte Laurel. Sie war auf einmal schlecht gelaunt und wusste nicht genau, warum. Ihr Gefühlsleben war das reinste Chaos.

»Es tut mir aber nicht leid«, sagte Tamani keineswegs entschuldigend.

»Das sollte es aber!« Laurel wandte sich nur für einen Augenblick ihm zu.

»Und warum?«, fragte Tamani. Seine ruhige Stimme machte sie nur noch wütender. Sie drehte sich um und blieb vor ihm stehen.

»Warum sollte es mir leidtun? Weil ich das Mädchen geküsst habe, in das ich verliebt bin? Ich liebe dich, Laurel.«

Bei diesen Worten rang sie nach Luft, weil sie mit dieser Liebeserklärung nicht gerechnet hatte. Er hatte seine Absichten erklärt – manchmal sogar sehr forsch –, aber er hatte nie wirklich gesagt, dass er sie liebte. Damit wurde jeder Flirt zu einer ernsten Angelegenheit. Die Folgen waren nicht abzusehen. Sie wurde fast schon untreu.

»Wie lange soll ich denn noch geduldig darauf warten, bis du mit dir selbst im Reinen bist? Ich habe viel Geduld gehabt. Jahrelang habe ich mich in Geduld geübt, Laurel, und ich habe es satt.« Er legte ihr sanft die Hände auf die Schultern und beugte sich gerade so weit vor, dass er ihr direkt ins Gesicht sehen konnte.

»Ich will nicht mehr warten, Laurel.«

»Aber David …«

»Komm mir nicht mit David! Wenn du mich bittest, mich zurückzuziehen, weil du es nicht willst, dann sag das. Aber erwarte nicht von mir, dass ich Rücksicht auf Davids Gefühle nehme. David interessiert mich nicht, Laurel.« Er rang nach Luft. »Du interessierst mich. Und wenn du mich mit so viel Zärtlichkeit in den Augen anschaust«, sagte er und verstärkte ein wenig den Druck seiner Finger, »und jeder sehen kann, dass du geküsst werden willst, dann küsse ich dich. Zum Teufel mit David«, schloss er leise.

Laurel wandte sich ab. Sie hatte Kopfschmerzen. »Das kannst du nicht machen, Tam.«

»Was soll ich denn sonst tun?«, fragte er, und seine Stimme klang so verletzlich, so grundehrlich, dass sie ihn nur schweigend ansehen konnte.

»Warte … einfach.«

»Aber worauf denn? Dass deine Eltern sterben? Dass David tot umfällt? Worauf soll ich warten, Laurel, sag’s mir?«, klagte er.

In dem verzweifelten Versuch, diese Worte hinter sich zu lassen, drehte Laurel sich um und ging weiter. Sie erklomm einen Hügel und sah sich um. Anstelle einer Siedlung mit Elfenhäusern bot der Ausblick einen makellosen weißen Strand mit saphirblauen Wellen, die träge an Land schwappten. Irgendwas stimmte mit dieser Landschaft nicht – es roch nicht nach Meer –, aber sie konnte auch nicht umkehren. Hinter ihr war Tamani. Also ging sie einfach weiter und stapfte langsam durch den glitzernden kristallenen Sand.

Dann blieb sie doch stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war am Wasser angekommen, es ging nicht weiter. Der Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht. »Es gefällt mir einfach nicht, wenn du so weit weg bist«, sagte Tamani nach langem Schweigen. Er klang wieder normal, nicht mehr so verbittert. »Ich mache mir Sorgen. Ich weiß, du hast die Wachen, aber … es war schöner, als du noch auf dem Grundstück gewohnt hast. Ich vertraue anderen Elfen nur ungern dein Leben an. Ich … ich wünschte, ich könnte es selbst tun.«

Laurel schüttelte bereits heftig den Kopf. »Das würde nicht funktionieren«, sagte sie entschieden.

»Glaubst du, ich würde es nicht gut genug machen?«, fragte Tamani und sah sie ernst an. Das gefiel Laurel gar nicht.

»Es würde eben nicht funktionieren«, wiederholte sie. Ihr war klar, dass sie anderen Argumenten folgte als Tamani.

»Du willst mich in deiner Menschenwelt nur nicht haben. « Die leichte Brise übertrug den Schall seiner Worte.

Es tat weh, dass sein geflüsterter Vorwurf der Wahrheit entsprach, und Laurel wandte sich wieder ab.

»Du hast Angst, dass du dich endlich entscheiden müsstest, wenn ich Teil deines Menschenlebens wäre. Jetzt hast du ja das Beste aus beiden Welten. Du bekommst deinen David.« Er betonte den Namen mit großem Zorn. Immerhin besser als der Schmerz, den sie vorher in seiner Stimme gehört hatte. Fast wünschte Laurel, er würde sie anschreien. Sie konnte seine Wut so viel besser ertragen als seine Traurigkeit, seine Betroffenheit. »Und wenn du nach Avalon zurückkehrst, bekommst du mich, sobald du mich haben willst. Ich stehe dir automatisch zur Verfügung und das weißt du. Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie ich mich dabei fühle? Jedes Mal wenn du gehst – zurück zu ihm –, bin ich vollkommen aufgewühlt. Manchmal…« Er seufzte. »Manchmal wünschte ich, du kämest nie wieder.« Er stöhnte entnervt. »Nein, das will ich natürlich nicht, aber ich möchte einfach … es ist so schrecklich, wenn du gehst, Laurel. Es wäre schön, wenn du das verstehen könntest.«

Eine Träne rann Laurel über die Wange, aber sie wischte sie weg und zwang sich zur Ruhe. »Ich kann nicht hierbleiben«, sagte sie, froh, dass ihre Stimme nicht brach. »Immer wenn ich komme … jedes Mal wenn ich herkomme … muss ich irgendwann wieder gehen. Vielleicht wäre es tatsächlich besser für dich, wenn ich nicht mehr käme – einfacher.«

»Du musst zurückkehren«, sagte Tamani voller Sorge. »Du musst lernen, eine Herbstelfe zu sein. Das ist dein Recht von Geburt an. Dein Schicksal.«

»Ich habe schon genug gelernt, um mich eine Weile durchzuschlagen«, widersprach Laurel. »Ich muss jetzt viel üben, aber das kann ich auch zu Hause.« Ihre Hände zitterten, aber sie versuchte, es zu verbergen, indem sie die Arme wieder verschränkte.

»Das ist so nicht vorgesehen.« Tamani klang beinahe vorwurfsvoll. »Du musst regelmäßig hierher zurückkommen.«

Laurel gab sich Mühe, ruhig und entschlossen zu wirken. »Nein, Tamani, muss ich nicht.«

Als sich ihre Blicke trafen, konnte keiner von beiden wegsehen.

Laurel gab zuerst auf. »Ich muss los. Es ist besser, wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause komme. Bitte bring mich zum Tor.«

»Laurel …«

»Zum Tor!«, befahl Laurel, die wusste, dass sie es nicht ertragen konnte, was er als Nächstes sagen würde. Irgendwie hatte sie es geschafft, den ganzen Tag zu verderben, und jetzt wollte sie nur, dass es endlich vorbei war.

Tamani erstarrte, aber sie konnte die Niederlage an seinem Gesicht ablesen. Sie wandte den Blick ab, konnte ihn einfach nicht mehr ansehen. Er legte ihr die Hand auf den Rücken und schob sie vorwärts, führte sie mit den Fingern an ihrer Hüfte, während er nach wie vor einen Schritt hinter ihr ging.

Als sie die Steinmauern erreichten, diesen Schutzwall um die Tore, machte Tamani die Wachtposten mit einer Geste auf sich aufmerksam, und einer von ihnen lief eilig davon.

Tamani ergriff noch mal das Wort. »Es geht mir nur darum, dass du in Sicherheit bist«, sagte er entschuldigend.

»Ich weiß«, murmelte Laurel.

»Was ist mit dieser Klea?«, wollte er wissen. »Hast du sie noch mal getroffen?«

Laurel schüttelte den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht weiß, ob ich ihr vertrauen kann.«

»Weiß sie über dich Bescheid?«, fragte er und drehte sich auf dem Absatz um. Er sah sie an. »Kann sie irgendwie darauf gekommen sein, dass du eine Elfe bist?«

»Ja, Tamani. Ich habe ihr gleich alles auf die Nase gebunden, kaum dass ich sie getroffen habe«, antwortete Laurel ironisch. »Nein, sie hat keine Ahnung! Ich war überaus vorsichtig …«

»Denn wenn sie es herausfindet«, bügelte er sie ab, »bist du von dem Augenblick an in Lebensgefahr.«

»Sie weiß es aber nicht«, schrie Laurel, was die Wachtposten alarmierte. Es war ihr egal. »Und selbst wenn, was dann? Meinst du, sie ändert ihre Meinung und versucht zur Abwechslung, mich umzubringen? Kann ich mir kaum vorstellen!« Es fühlte sich sonderbar an, die gegenteilige Position dessen zu vertreten, was sie David vor einigen Wochen hatte einreden wollen. Doch mit Logik war das alles ohnehin nicht mehr zu erklären. »Ich komme schon klar!«, sagte sie erschöpft.

Sie wandten die Köpfe, als sie Schritte hörten. Eine weitere Truppe von Wächtern war eingetroffen. Tamani senkte den Kopf und ging einen Schritt zurück, hinter Laurels Schulter. Doch sie hörte, wie er zornig stöhnte.

Als die Wachtposten auseinandertraten, erschien Yasmine, die junge Winterelfe.

»Oh«, sagte Laurel überrascht. »Ich dachte, sie würden … jemand anderen holen«, erklärte sie schleppend, als das Mädchen sie aus seinen sanften grünen Augen ansah.

Yasmine wandte sich schweigend der Mauer zu.

»Kann sie die alleine öffnen?«, fragte Laurel flüsternd Tamani.

»Natürlich«, antwortete er kühl. »Das ist kein Zeichen von Geschicklichkeit. Man muss nur eine Winterelfe sein.«

Die Wachtposten führten sie zu den vier Toren. Tamani folgte Laurel schweigend, ohne sie anzufassen. Laurel fand es schrecklich, ihn so zu behandeln, aber ihr fiel einfach nichts Besseres ein. Dies war der Zusammenprall ihrer beiden Welten, ihrer zwei Leben, die sie mit so viel Mühe auseinanderhielt. Und sie hatte das Gefühl, nichts dagegen tun zu können.