42. Kapitel

 

Am Abend trafen sich Tess und Ryan zum Essen. Damit sie sich ungestört und ohne ungewollte Zuhörer unterhalten konnten, hatte Ryan in der Küche des Lakeview Inn ein paar Sandwichs bestellt und mit in sein Zimmer genommen.

Ein paar Minuten später klopfte Tess an die Zimmertür. Als Ryan ihr öffnete, hielt sie ihm den klapprigen Holzstuhl aus ihrem eigenen Hotelzimmer entgegen.

»Damit nicht einer von uns auf dem Boden oder auf dem Bett sitzen muss«, erklärte sie und schob sich samt Stuhl durch die Tür.

Ryan grinste. »Auf dem Bett wäre ja auch ziemlich unanständig«, bemerkte er mit einer hochgezogenen Augenbraue.

Tess warf ihm einen vielsagenden Blick zu, sagte aber nichts. Stattdessen stellte sie ihren Stuhl an den kleinen Tisch in der Zimmerecke und ließ sich mit einem lauten Seufzer darauf fallen. Dann stütze sie den Kopf in die Hände.

»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Ryan.

Tess schüttelte den Kopf, ohne ihre Hände wegzunehmen. »Nein, ich bin ganz schön fertig. Ich habe fast den ganzen Tag in Ellens Haus verbracht und ihre Sachen sortiert. Obwohl das Haus ja wirklich klein ist, hatte ich keine Ahnung, mit wie viel Zeug es Ellen vollgestopft hat.«

Ryan musterte sie forschend. »Es ist dir schwergefallen, oder?«

»Ja, schon.« Tess lächelte gequält. »An vielen Sachen hängen Erinnerungen. Es war ganz merkwürdig. Manches habe ich einfach rausgeräumt, ohne Probleme damit zu haben. Und dann wieder hatte ich irgendeine eigentlich ganz unbedeutende Sache in der Hand, und plötzlich kamen so viele Erinnerungen in mir hoch, dass ich kaum weitermachen konnte.«

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Ryan leise, während er sich auf den zweiten Stuhl setzte. »Mir ging es ähnlich, als ich das Apartment meiner Mutter ausgeräumt habe. Obwohl meine Mutter natürlich zum Glück nicht tot ist.«

Tess nickte. »Hast du in Medford etwas erreichen können?«, wechselte sie unvermittelt das Thema.

»Nicht viel.« Ryan verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich weiß jetzt, dass es in Susannahs Abteilung niemanden gibt, der an Epilepsie leidet, aber das ist eigentlich auch schon alles. Susannahs Kollegin Jenny Darner hat leider immer noch Urlaub. Ich habe ihr noch mal auf die Mailbox gesprochen. Vielleicht ruft sie mich ja doch noch irgendwann zurück.«

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte seinen Rücken durch. »Aber dafür habe ich heute Morgen etwas ganz Interessantes erfahren, als ich bei Hank am Tresen noch einen Kaffee getrunken habe. Er hat mir nämlich erzählt, wer hier in Shadow Lake Epileptiker ist – beziehungsweise war.«

Tess sah ihn erstaunt an. »In Shadow Lake gibt es jemanden, der Epilepsie hat? Das wusste ich ja gar nicht.«

»Das konntest du auch nicht, weil die Krankheit erst aufgetreten ist, als du schon nicht mehr hier gewohnt hast. Das kann bei Kopfverletzungen manchmal passieren.«

Tess zappelte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. »Jetzt spann mich nicht auf die Folter, um wen handelt es sich?«, drängelte sie.

Ryan grinste, weil Tess sich so aufführte, wurde dann aber wieder ernst. Der Grund ihrer Recherche war schließlich alles andere als lustig.

»Es war die Mutter von Justin Ciprati«, sagte er.

Verwirrt starrte Tess ihn an. »Megan Ciprati?«, fragte sie ungläubig. Dann rieb sie mit beiden Händen über ihr Gesicht. »Langsam wird mir das alles zu viel. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich von all dem halten soll«, klagte sie.

Ryan beobachtete sie schweigend. Nach einer Weile sagte er: »Dass Justins Mutter Epilepsie hatte, muss ja noch nichts bedeuten. Wir wissen ja nicht einmal, welche Medikamente sie genommen hat. Und selbst wenn es Phenobarbital war, heißt das noch lange nicht, dass Justin etwas mit dem Tod meiner Schwester zu tun hat.«

»Das stimmt schon«, nickte Tess nachdenklich. »Trotzdem kommt der Name Ciprati für meinen Geschmack ein bisschen zu häufig in unseren Nachforschungen vor, findest du nicht?«

In diesem Moment klingelte Ryans Handy. Er sah auf das Display und runzelte die Stirn. »Ich glaube, das ist Susannahs Kollegin.« Er gab Tess mit einer Geste zu verstehen, dass sie still sein sollte, dann stellte er das Telefon auf Lautsprecher und nahm das Gespräch an.

»Hallo, hier ist Jenny Darner. Sie haben versucht, mich zu erreichen«, sagte eine noch sehr jung klingende Stimme, nachdem Ryan sich gemeldet hatte. »Sie sind der Bruder von Susannah?«

»Ja, der bin ich«, antwortete Ryan schlicht.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Es tut mir unglaublich leid, was mit Susannah passiert ist. Wir konnten es alle gar nicht fassen.«

»Danke«, gab Ryan zurück. »Ich habe gehört, dass Sie sich sehr gut mit meiner Schwester verstanden haben. Daher würde ich Sie gern etwas fragen.«

Wieder gab es eine kurze Pause. »Um was geht es denn?«, fragte Jenny dann. Ihre Stimme klang skeptisch.

»Ich habe mit Susannahs Schulfreundin aus Boston gesprochen«, erklärte Ryan. »Sie hat mir erzählt, dass meine Schwester sich kurz vor ihrem Tod verliebt hatte. Sie wusste allerdings nicht, in wen. Daher würde ich gern von Ihnen wissen, wer derjenige war. Hat Susannah mit Ihnen darüber gesprochen?«

Zuerst herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen, aber dann begann Jenny nervös herumzudrucksen. »Naja, ehrlich gesagt …, ja. Aber ich möchte keinen Ärger bekommen. Ich arbeite ja immer noch bei Red Devil.«

»Daraus schließe ich, dass es sich um einen Arbeitskollegen handelt, richtig?«, folgerte Ryan.

»Äh, also, ja«, stammelte Jenny.

»Jemand aus Ihrer Abteilung?«, bohrte Ryan weiter.

Aus dem Lausprecher des Handys ertönte ein tiefes Seufzen. »Also gut«, gab Jenny schließlich nach. »Ich erzähle Ihnen alles, aber nur, weil ich Susannah wirklich sehr gern hatte. Und bitte sagen Sie niemandem, dass sie es von mir erfahren haben. Ihre Schwester hatte sich tatsächlich in einen Arbeitskollegen verliebt, aber nicht aus unserer Abteilung. Er war aus dem Vertrieb. Sie haben sich ein paar Mal getroffen. Soweit sie mir erzählt hat, hatten die beiden keine Affäre, sondern es war nur ein harmloser Flirt. Susannah wollte aber trotzdem nicht, dass irgendjemand davon erfährt, weil unser Kollege verheiratet ist. Seine Frau musste ja nicht unbedingt etwas davon wissen.«

»Wissen Sie auch den Namen von diesem Kollegen?«, hakte Ryan nach.

Wieder zögerte Jenny. »Er heißt Justin«, sagte sie leise. »Justin Ciprati«.

See der Schatten - Kriminalroman
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