34. Kapitel

 

Am nächsten Morgen machte sich Tess gleich nach dem Frühstück auf den Weg zum Büro des Sheriffs.

Sie hatte im Lakeview Inn übernachtet. Zum Glück hatte es noch ein freies Zimmer gegeben, was zu dieser Jahreszeit allerdings nicht weiter verwunderlich war. Shadow Lake war nicht gerade als Touristenmagnet zu bezeichnen. Schon zur Hauptsaison im Sommer war das Hotel nur selten ausgebucht. Jetzt im Mai waren Ryan und Tess sogar die einzigen Gäste.

Einen winzigen Moment lang war sie beim Einchecken in Versuchung gewesen, Ryans Angebot anzunehmen und mit in sein Zimmer zu ziehen. Sie mochte ihn sehr gern und vertraute ihm inzwischen wie einem alten Freund. Außerdem fühlte sie sich in seiner Nähe sicher. Trotzdem hatte sie schließlich ein eigenes Zimmer verlangt. Sie wollte sich nicht aufdrängen, und die Gerüchte, die über sie und Ryan inzwischen mit Sicherheit im Umlauf waren, wollte sie auch nicht unnötig anheizen. Hank Friday hatte ihr auch so schon den Zimmerschlüssel mit einem anzüglichen Grinsen über den Tresen geschoben.

In der Nacht hatte sie noch lange wach gelegen. Immer wieder hatte sie die splitternde Scheibe und den Pflasterstein mit der unmissverständlichen Botschaft vor Augen gehabt. Doch im Laufe der Stunden hatte sich das Gefühl der Hilflosigkeit in Wut verwandelt, und sie hatte beschlossen, den Steinewerfer anzuzeigen.

Jetzt, nur noch ein paar Schritte von der Polizeistation entfernt, kamen ihr aber wieder Zweifel. War es richtig, eine offizielle Anzeige zu erstatten? Und wie viel von ihrem Verdacht sollte sie preisgeben?

Ryan hatte zwar den Verdacht geäußert, der Mörder der drei Frauen hätte sich von ihnen bedrängt gefühlt und den Stein geworfen. Aber sie war da nicht so sicher. Wäre es wirklich so gewesen, hätte er dann nicht zu extremeren Mitteln gegriffen als zu einem Pflasterstein und einem Zettel?

Außerdem bestand ja auch noch die Möglichkeit, dass einer der Einwohner aus dem Ort den Stein geworfen hatte, der auf sie nicht gut zu sprechen war. Ihr fiel die Szene ein, die Joannas Mutter ihr im Laden gemacht hatte. Wendy Miller traute sie einen Steinwurf zwar nicht zu, aber vielleicht hatte jemand, der ihr nahestand, auf eigene Faust gehandelt. Wenn sich das als wahr herausstellte, würde sie sich mit ihren Anschuldigungen total lächerlich machen.

Nachdenklich blieb sie einen Augenblick stehen. Dann zuckte sie die Achseln. Was soll` s, dachte sie bei sich. In Shadow Lake halten mich doch sowieso alle schon für verrückt, schon allein deswegen, weil ich Ellen Hennesseys Nichte bin. Da kann ich ruhig noch einen drauflegen.

Entschlossen betrat sie das Büro des Sheriffs. Sie hatte befürchtet, dass eine Welle von schlechten Erinnerungen über sie hereinbrechen würde. Nach dem Mord an Joanna war sie mehrere Male hier gewesen, um die immer wieder gleichen Fragen zu beantworten. Stundenlang hatte sie damals wie betäubt im Verhörraum gesessen. Trotzdem erinnerte sie sich noch an jedes Detail der Einrichtung.

Aber das Büro war kaum wiederzuerkennen. Die Räume waren grundlegend renoviert und mit neuen Möbeln ausgestattet worden. Auch den Deputy, der im hinteren Teil des großen Raums an einem Schreibtisch saß und im Zwei-Finger-Suchsystem einen Bericht tippte, kannte sie nicht. Nur das maskenhafte Lächeln von Ruth Montgomery und die viel zu kalt eingestellte Klimaanlage erinnerten sie an früher.

»Ach, hallo Tess. Da bist du ja. Wir haben schon gehört, dass du wieder im Ort bist«, sagte Ruth zur Begrüßung, wobei sich ihre Mimik keinen Millimeter veränderte. »Wie geht es dir?«

»Hallo Ruth«, sagte Tess kühl, ging aber nicht weiter auf ihre Frage ein. Es war ohnehin nur eine reine Höflichkeitsfloskel gewesen. »Ich muss mit dem Sheriff sprechen.«

»Natürlich. Du hast sicherlich einen sehr wichtigen Anlass«, sagte Ruth in sarkastischem Tonfall. Sie seufzte und begab sich betont langsam zur benachbarten Tür, die in das Zimmer des Sheriffs führte.

Während sie ihren Kopf durch die Tür steckte und leise mit dem Sheriff sprach, stöhnte Tess leise auf und verdrehte die Augen. Sie hatte Ruth noch nie gemocht, und die gegenseitige Abneigung hatte sich im Lauf der Jahre kein bisschen vermindert. Als sie jedoch bemerkte, dass der Deputy aufgehört hatte, an seinem Bericht zu arbeiten und sie stattdessen amüsiert beobachtete, fühlte sie sich ertappt. Verlegen wandte sie den Blick ab.

Ohne ein weiteres Wort kehrte Ruth an ihren Platz zurück und tat demonstrativ beschäftigt. Für Tess hatte sie nicht einmal mehr einen kurzen Seitenblick übrig.

Kurz darauf öffnete sich die Tür und Sheriff Marcks kam auf Tess zu. Er hatte sich in den letzten sieben Jahren kaum verändert. Nur das braune, leicht gelockte Haar lichtete sich an einigen Stellen merklich. Aber bestimmt passt er immer noch in genau die gleiche Uniformgröße wie früher, dachte Tess mit einem Blick auf seinen durchtrainierten Oberkörper. Vor dem Mord an Joanna hatten sie und ihre Freundinnen sich oft über die übertriebene Eitelkeit des Sheriffs lustig gemacht.

»Na sieh mal einer an, wenn das nicht Tess Hennessey ist. Was kann ich für dich tun?«, polterte der Sheriff und hielt Tess zur Begrüßung die Hand hin. Tess ergriff sie und zwang sich zu einem höflichen Lächeln.

»Hallo Sheriff Marcks«, gab sie mit fester Stimme zurück. »Ich bin hier, um eine Anzeige zu erstatten.«

Marcks zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »So? Worum geht es denn? Hast du etwa vor, in guter alter Hennessey-Manier respektable Bürger mit Dreck zu bewerfen?«

Tess glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Auf so eine Frechheit war sie nicht vorbereitet gewesen.

Statt einer Antwort zog sie den Pflasterstein samt dem Zettel mit der Botschaft aus ihrer Umhängetasche und knallte ihn vor dem Sheriff auf den Tresen. Ruth warf ihr einen entsetzten Blick zu, aber sie ignorierte es. Ihr war es auch egal, dass das Holz des Tresens wahrscheinlich ein paar Kratzer abbekommen hatte. Sie war darauf gefasst gewesen, dass Ruth sie unfreundlich behandeln würde, aber die Reaktion des Sheriffs hatte sie wütend gemacht. Der Kerl sollte jetzt verdammt nochmal seinen Job machen! Sie war es leid, nicht ernst genommen zu werden.

»Dieser Stein«, erklärte sie nachdrücklich, »ist gestern Nacht durch mein Wohnzimmerfenster geflogen gekommen. Damit wir uns richtig verstehen, das Fenster war nicht offen. Ich habe jetzt eine zertrümmerte Scheibe und kann nicht mehr im Haus übernachten. Diese nette Botschaft war mit einem Gummiband an dem Stein befestigt. Sie faltete den Zettel auseinander und drehte ihn so, dass der Sheriff die Nachricht darauf lesen konnte.

»Hhm, das ist natürlich eine hässliche Angelegenheit«, meinte Marcks. Mit Genugtuung registrierte Tess die leichte Verlegenheit in seiner Stimme. Der Sheriff starrte auf den Zettel und kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Hast du erkennen können, wer den Stein geworfen hat?«

Tess schüttelte den Kopf. »Es war schon dunkel. Außerdem war ich so geschockt durch den lauten Knall und die herumfliegenden Glassplitter, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, zum Fenster zu stürzen und nachzusehen, wer das getan hat.«

Marcks hob den Pflasterstein auf und wog ihn prüfend in der Hand, während er überlegte. »Also, an dem Stein werden wir wohl keine Fingerabdrücke finden, die Oberfläche ist viel zu unregelmäßig. Und den Zettel können wir wohl auch vergessen, da wird auch nichts mehr drauf sein. Wenn der Täter einigermaßen intelligent ist, hat er wahrscheinlich ohnehin Handschuhe getragen.« Er blickte auf und sah Tess fragend an. »Hat noch jemand beobachtet, was passiert ist?«

»Ryan MacIntyre war gerade bei mir«, antwortete Tess wahrheitsgemäß. Wieder schossen die Augenbrauen des Sheriffs nach oben. Anscheinend war er der Einzige in Shadow Lake, der noch nichts von den Gerüchten gehört hatte, die über sie und Ryan inzwischen in Umlauf waren. Trotzdem fuhr Tess ungerührt fort: »Aber er hat genauso wenig gesehen wie ich. Ob es sonst noch jemanden gibt, der den Steinewerfer beobachtet hat, weiß ich nicht. Das herauszufinden scheint mir auch eher Ihre Aufgabe zu sein.«

»Jetzt hör mir mal zu, mein Mädchen«, meinte der Sheriff in gönnerhaftem Ton, »Wir werden uns natürlich in den nächsten Tagen ein bisschen umhören, aber versprich dir nicht zu viel davon. Deine Tante hat sich hier in den letzten Jahren eine Menge Feinde gemacht, da ist der Kreis der Verdächtigen groß. Ich denke übrigens, dass der Stein eher ihr galt als dir. Du solltest die Angelegenheit also nicht zu persönlich nehmen.«

Tess hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten, als sie antwortete. Sie war kurz vorm Explodieren.

»Erstens bin ich nicht ihr Mädchen«, gab sie mit vor Zorn verengten Augen zurück. »Und zweitens gelange ich langsam aber sicher zu der Überzeugung, dass meine Tante die Einzige hier im Ort war, die wirklich nach der Wahrheit gesucht hat. Und anscheinend war sie nicht mehr allzu weit davon entfernt.«

»Was willst du damit sagen?«, bellte Marcks empört. »Glaubst du etwa, wir haben bei dem Mord an dem Miller-Mädchen irgendetwas vertuscht?«

Tess schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht«, antwortete sie ehrlich. »Ich denke nur, dass Sie sich viel zu früh auf Jared als Täter festgelegt und gar nicht mehr in andere Richtungen ermittelt haben. Außerdem sind auch bei den Todesfällen von Claire Meyers und Susannah MacIntyre nicht alle Unstimmigkeiten geklärt worden. Und beim Verschwinden von Millie Walls haben Sie erst gar nichts unternommen.«

Während Tess ihre Anschuldigungen vorgebracht hatte, hatte sich das Gesicht des Sheriffs dunkelrot verfärbt.

»Was bildest du dir eigentlich ein?«, blaffte er Tess an. »Es ist zweifelsfrei geklärt, dass Claire Meyers durch einen Unfall umgekommen ist und dass die MacIntyre sich selbst das Licht ausgeknipst hat. Und was Millie Walls angeht, hatten wir keinen Anlass, überhaupt zu ermitteln. Sie war volljährig, als sie von hier abgehauen ist, und sie hat ihre Sachen von zuhause mitgenommen. Außerdem hat keiner eine Vermisstenanzeige gestellt, nicht einmal ihre Eltern, und das spricht ja wohl Bände!«

Er schlug wütend mit der Faust auf den Tresen. Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um, verschwand in seinem Zimmer und schmiss die Tür mit viel Schwung hinter sich zu.

Tess verfolgte seinen Abgang mit einem leichten Kopfschütteln. Eigentlich hätte sie sich gleich denken können, dass ihr der Besuch hier nichts bringen würde, aber einen Versuch war es wert gewesen. Aus den Augenwinkeln beobachtete Tess noch, wie Ruth und der Deputy leise miteinander tuschelten und immer wieder zu ihr herübersahen. Aber sie versuchte, es nicht weiter zu beachten.

Als sie die Polizeistation verließ und wieder auf die deutlich wärmere Straße hinaustrat, fluchte sie immer noch lautlos vor sich hin. Auch wenn sie selbst sich eben nicht gerade vorbildlich verhalten hatte, war es doch kaum zu glauben, was für ein ignoranter Sturkopf dieser Sheriff war!

See der Schatten - Kriminalroman
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