19. Kapitel

 

Schon seit fast zwei Stunden stand Cristina Gomez an der Auffahrt des Highways und wartete darauf, dass irgendjemand sie mitnahm. Zum Glück war das Wetter gut. Die Sonne schien und es war trocken. Allerdings konnte es nicht allzu lange dauern, bis es gegen Abend langsam abkühlte. Sie hoffte, dass sie vorher ein wenig Glück hatte und einen Fahrer fand, der sie ein Stück mitnahm.

Als sich wieder ein Wagen näherte, strich sie sich die Haare aus der Stirn, setzte ein freundliches Lächeln auf und hielt ihr Pappschild hoch, auf das sie mit dickem schwarzen Stift gut leserlich das Wort Kalifornien gemalt hatte.

Der Fahrer blickte zwar in ihre Richtung, fuhr aber mit unverminderter Geschwindigkeit an ihr vorbei. Dabei schüttelte er noch missbilligend den Kopf.

Enttäuscht ließ Cristina ihr Schild wieder sinken und verzog das Gesicht. So ein blöder Idiot! Glotzen, aber nicht anhalten, diese Art von Leuten nervte sie am meisten. Übellaunig äffte sie das tadelnde Kopfschütteln nach. Wenn sie so etwas hätte sehen wollen, hätte sie auch gleich zu Hause bei ihren Eltern bleiben können. Die wussten ja auch immer alles besser.

Sie warf einen skeptischen Blick zum Himmel. Es war schon ganz schön spät und die Sonne stand recht tief. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis es dunkel würde. Sie seufzte. Wenn das so weiterging, würde sie heute gar nicht mehr hier wegkommen. Und dann? Sie überlegte, wo sie die Nacht verbringen konnte. Freunde hatte sie keine hier in der Nähe, dafür war sie schon zu weit weg von zuhause. Das Geld, das sie dabei hatte, würde zwar möglicherweise noch für eine Übernachtung in einem billigen Motel reichen. Aber eigentlich hatte sie gehofft, nicht alle Reserven aufbrauchen zu müssen, bevor sie in Los Angeles angekommen war.

Dass sie dort gut über die Runden kommen würde, da war sie sich sicher. Immerhin war Los Angeles die Stadt der Schönen und Reichen, da gab es bestimmt eine Möglichkeit, sich ein paar Dollar zu verdienen. Sie würde eine Menge einflussreiche Leute kennenlernen. Und dann würde es auch nicht lange dauern, bis sie für den Film entdeckt wurde. Sie wusste, dass es unzählige Mädchen gab, die denselben Traum hatten wie sie, aber sie hatte keinerlei Zweifel, dass sie es schaffen könnte. Sie war schließlich etwas Besonderes, nicht so wie die ganzen Durchschnittsblondinen, die es sonst in die Stadt der Engel zog.

Cristina grinste still vor sich hin. Es war schon immer ihr Traum gewesen, eines Tages nach Hollywood zu gehen und ein großer Star zu werden. Und jetzt war sie diesem Ziel näher als jemals zuvor. Sie würde berühmt werden, denn sie war anders als diese Einheitsschönheiten, die sonst immer in den Kinofilmen auftauchten. Mit der Hand fuhr sie sich durch die Haare. Von Natur aus waren diese schwarz, was ihre mexikanische Abstammung verriet. Daher hatte sie die rechte Seite lang gelassen. Glatt und glänzend fielen ihr die Haare über die Schulter. Die linke Seite dagegen hatte sie ganz kurz schneiden lassen und knallrot gefärbt. Zusammen mit den Piercings, die ebenfalls nur ihre linke Gesichtshälfte zierten, ergab das eine Mischung aus zwei ganz unterschiedlichen Typen. Manchmal hatte sie sich zuhause an ihrem Computer einen Spaß daraus gemacht, ein Foto von sich in der Mitte zu teilen und jeweils zu spiegeln. Dabei kamen dann einerseits eine brave, schwarzhaarige Schönheit und andererseits eine wilde Punklady heraus.

Mit einem süffisanten Lächeln dachte sie daran, wie es wohl aussehen würde, wenn sie von der Polizei aufgegriffen würde und man Bilder von ihr machte. Keiner würde glauben, dass die beiden Profilfotos von ein und derselben Person stammten.

Dann aber schob sie den Gedanken zur Seite. Mit der Polizei sollte sie lieber nichts zu tun haben, zumindest nicht in den nächsten Monaten. Wenn sie aber erst einmal 18 geworden war, stellte das ja auch kein Problem mehr dar. Dann konnte sie sowieso machen, was sie wollte.

Als ein bulliger Truck um die Ecke bog, schöpfte Cristina neue Hoffnung. Die Fahrer waren oft tagelang allein unterwegs, daher hatten die meisten nichts gegen ein bisschen nette Gesellschaft einzuwenden. Mit einem strahlenden Lächeln, das fast alle ihre blitzend weißen Zähne zeigte, hielt sie ihr Pappschild hoch.

Doch der Fahrer sah sie nur missmutig an, wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und gab Gas. Wäre Cristina nicht mit einem schnellen Satz zur Seite gesprungen, hätte er sie vielleicht sogar angefahren. Die schwarze Hälfte ihrer Haare flatterte wild im Luftzug des Trucks.

»Du verdammter Hurensohn!«, brüllte Cristina dem Fahrer hinterher und gab ihm mit ein paar ziemlich unfeinen Gesten zu verstehen, was sie von ihm hielt.

Dann ließ sie sich enttäuscht auf dem Boden nieder. Sie zog die langen Beine in den Schneidersitz und lehnte den Kopf auf den Rucksack, der ihre wichtigsten Habseligkeiten enthielt. Einen winzig kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie ihr Vorhaben nicht lieber aufgeben und nach Green Springs zurückkehren sollte. Wahrscheinlich würde ihr Geld gerade noch für das Busticket nach Hause reichen. Aber dann schüttelte sie energisch den Kopf. Nein, nichts war schlimmer, als bei ihren Eltern zu Kreuze kriechen zu müssen.

Die wir haben es dir ja gleich gesagt und du hättest besser gleich auf uns gehört-Sprüche konnte sie nicht mehr hören. Sicher, ihre Eltern machten sich nur Sorgen um sie und wollten immer nur ihr Bestes. Sie liebten ihre Tochter und würden alles tun, um sie zu beschützen. Doch gerade das war ja das Problem. Sie hatte diese Überfürsorglichkeit und die ständige Bevormundung endgültig satt. Deshalb war sie abgehauen. Hätte sie mehr Freiheiten gehabt, hätte sie auch mal ihre eigenen Erfahrungen sammeln und aus ihren Fehlern lernen dürfen, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Aber so hatte sie das Gefühl gehabt, in Green Springs einfach keine Luft mehr zu bekommen. Sie musste raus, um wieder atmen zu können.

Mit einem Anflug von Gewissensbissen dachte Cristina an ihre Eltern, die sich bestimmt schon schreckliche Sorgen um sie machten. Sie sah ihren Vater beinahe vor sich, wie er unruhig in der Küche auf und ab lief und sich die Haare raufte, während ihre Mutter auf der kleinen Eckbank saß und still vor sich hinweinte. Bei der Vorstellung spürte sie ein sehnsüchtiges Ziehen.

Andererseits waren sie ja eigentlich selbst schuld. Sie hätten sich ja auch nicht in so einem winzigen Kaff niederlassen brauchen. Wären sie damals nach L.A. gezogen oder wenigstens nach San Francisco, hätte Cristina ganz andere Möglichkeiten gehabt. Dort wäre sie als Latina auch nicht immer die Außenseiterin gewesen. Weiter südlich gab es viel mehr von ihrer Sorte. Dort hätte sie viel einfacher Freunde gefunden.

»Aber so habt ihr mich ja fast schon dazu gezwungen, abzuhauen und allein mein Glück zu suchen«, sagte Cristina. Im Trotz hatte sie laut gesprochen.

Ein paar Minuten blieb sie noch sitzen, dann entschied sie, dass es wohl besser wäre, sich ein Quartier für die Nacht zu suchen. Sie stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie einen weiteren Wagen, der sich der Auffahrt näherte.

»Also gut, noch einen letzten Versuch«, murmelte sie leise und hielt wieder ihr Schild hoch. Das Lächeln gelang ihr dieses Mal nicht ganz so strahlend, aber es reichte aus. Wider Erwarten wurde der Wagen langsamer und stoppte direkt neben ihr.

Der Fahrer ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. »Na, wo soll es denn hingehen?«, fragte er freundlich.

»L.A. oder San Francisco«, gab Cristina zurück. Sie hoffte, dass ihr eingesetzter Charme seine Wirkung nicht verfehlen würde. »Aber das Ziel ist gar nicht so wichtig, Hauptsache ich komme in Richtung Süden weiter.«

Der Fahrer grinste. »So weit fahre ich zwar nicht, aber die Richtung stimmt schon. Wenn du willst, kann ich dich bis Shadow Lake mitnehmen.«

»Ja klar, gern.« Von dem Ort hatte Cristina zwar noch nie etwas gehört, aber jede Meile in Richtung Süden brachte sie ein Stückchen näher an ihr Ziel. So schnell sie konnte, schnappte sie sich ihren Rucksack, öffnete die Beifahrertür des Chryslers und ließ sich auf den weichen Ledersitz gleiten. Wenn sie erst einmal im Wagen saß, hatte der Typ kaum noch eine Möglichkeit, es sich anders zu überlegen.

Bei einem weiteren Blick auf den Fahrer wurde sie ein wenig verlegen. Er hatte ein markantes Gesicht und wirkte durchtrainiert. Sie musste zugeben, dass er ausgesprochen gut aussah, fast wie ein Filmstar. Wäre er ein paar Jahre jünger – oder sie ein paar Jahre älter gewesen, hätte sie sich glatt in ihn verlieben können. Etwas schüchtern lächelte sie ihn an.

Auch der Fahrer musterte sie forschend. Sein Blick glitt über ihren ganzen Körper und blieb dann wieder in ihrem Gesicht hängen. »Bist du nicht ein bisschen zu jung, um allein unterwegs zu sein?«, erkundigte er sich in skeptischem Tonfall.

»Wieso? Ich bin achtzehn«, log Cristina ohne Schwierigkeiten. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, einen Ausweis von ihr zu verlangen, oder sie sogar zur Polizei zu bringen. Es gab manchmal diese überfürsorglichen Typen. Sie versuchte, möglichst erwachsen zu wirken. »Mein Name ist übrigens Cristina«, sagte sie mit gespieltem Selbstbewusstsein.

»Also gut, Cristina, dann machen wir uns mal auf den Weg«, gab der Fahrer zurück. Und nach einem prüfenden Blick in den Rückspiegel gab er Gas.

See der Schatten - Kriminalroman
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