27. Kapitel

 

Nachdem Tess gegangen war, lief Kate unruhig in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Vielleicht wäre es besser gewesen, ihre frühere Freundin gar nicht erst reinzulassen. Sie hätte sie direkt vorn an der Tür abfertigen können. Oder besser noch, sie hätte so tun können, als wäre niemand zu Hause. Aber dazu war es jetzt zu spät.

Andererseits hatte sie durch Tess` Besuch immerhin erfahren, dass Tess nicht so ahnungslos war, wie sie gehofft hatte.

Was wusste sie? Hatte sie etwa Verdacht geschöpft? Und was war mit ihren Andeutungen über Claire Meyers und Susannah MacIntyre? Konnte es wirklich sein, dass die beiden einem irren Killer zum Opfer gefallen waren?

Kate überlegte hin und her, suchte nach einem Motiv, aber schließlich schüttelte sie den Kopf. Laut des Berichts des Sheriffs war Claire Meyers bei einem Unfall ums Leben gekommen, und Susannah MacIntyre hatte Selbstmord begangen. In beiden Fällen hatte es nicht die Spur eines Zweifels gegeben, also war daran nicht zu rütteln, oder etwa doch?

Nervös nagte Kate an ihrer Unterlippe. Immerhin hatte der Sheriff schon einmal in einem wichtigen Fall völlig falsche Schlüsse gezogen, warum sollte also dieses Mal auf seine Ermittlungen Verlass sein?

Kate schnappte sich ihren rot-weißen Kater Jekyll, der faul auf dem Sessel gelegen hatte, und begann ihn geistesabwesend zu kraulen. Jekyll wehrte sich gegen die ungewohnt grobe Behandlung. Er begann zu zappeln und sich zu winden, bis er sich aus Kates Griff gelöst hatte. Dann sprang er auf den Boden, machte kurz einen Buckel und verschwand zügig in der Küche.

»Du hast ja recht. Entschuldige, mein Großer«, rief Kate ihm hinterher.

Dann seufzte sie auf und ließ sich auf den Sessel fallen, in dem Jekyll vorher gelegen hatte. Die aufgewärmte Sitzfläche hatte etwas seltsam Beruhigendes an sich. Trotzdem hatte sie Mühe, ihre Gedanken zu ordnen.

Was hatte Tess über Millie Walls gesagt? Eigentlich nicht viel. Sie hatte lediglich angedeutet, dass Millie eventuell nicht freiwillig aus Shadow Lake verschwunden sein konnte. Aber das war mit Sicherheit Unsinn. Millie hatte es schon immer von hier weggezogen. Sie wollte die Welt sehen, dorthin gehen, wo etwas los war. Bestimmt war sie inzwischen in irgendeiner Großstadt und ließ es sich gut gehen, irgendwo an der Westküste – oder sogar in Europa.

Kate lächelte. Europa würde Millie bestimmt gefallen. Andererseits war Millie immer sehr anhänglich und auch sehr mitteilsam gewesen, zumindest gegenüber ihren Freundinnen. Wahrscheinlich hatte sie das als Ausgleich zu ihrer kaputten Familie gebraucht. Dass Millie irgendwo glücklich und zufrieden lebte, ohne sich auch nur bei einer ihrer alten Freundinnen zu melden, wäre schon seltsam gewesen. Es würde überhaupt nicht zu ihr passen, in diesem Punkt stimmte sie mit Tess überein. Vor allem in Zeiten von E-Mail und sozialen Netzwerken, mit deren Hilfe es so leicht war, Kontakt zu halten.

Einer spontanen Eingebung folgend setzte sich Kate an ihren Computer. Nachdem sie im Internet eine Suchmaschine aufgerufen hatte, tippte sie Millies Namen ins Eingabefeld ein und klickte auf den Suchen-Button. Es wurden zwar einige Treffer angezeigt, aber als Kate die einzelnen Seiten aufrief, musste sie feststellen, dass keiner etwas mit der Millie zu tun hatte, die sie suchte.

Sie überlegte. Vielleicht hatte Millie ja in den letzten Jahren geheiratet und den Familiennamen ihres Mannes angenommen. Als Nächstes probierte sie es daher nur mit dem Vornamen Millie, zusammen mit dem Geburtsdatum. Zum Glück erinnerte sie sich sofort an Millies Geburtstag, denn Millie war genau drei Tage älter als sie selbst. Aber auch diese Suche ergab nichts Brauchbares.

»Verdammt, Millie, wo steckst du?«, murmelte Kate. Sie merkte, dass sie immer unruhiger wurde.

Nervös trommelte sie mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Die Ungewissheit über den Verbleib ihrer früheren Freundin nagte an ihr. Viel mehr Gedanken machte sie sich jedoch über Tess. Was war, wenn sie immer weiter nachbohrte? Wenn sie nicht aufhörte, unangenehme Fragen zu stellen?

Kate fasste einen Entschluss. Sie öffnete ihr E-Mail-Programm, tippte eine Adresse ein und klickte dann mit der Maus ins Textfeld. Die Nachricht, die sie eingab, umfasste nur wenige Worte: Du musst vorsichtig sein. Tess schnüffelt herum.

Sie klickte auf den Senden-Button und wartete, bis die Mail versandt war. Dann rief sie den Ordner auf, der die gesendeten Mails enthielt, und löschte den Inhalt komplett.

Nachdem sie fertig war, blieb sie noch ein paar Minuten sitzen. Erst als sie sich wieder spürbar beruhigt hatte, stand sie auf und folgte ihrem Kater in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen.

Während sie geistesabwesend in ihrem Salat herumstocherte, versuchte sie sich selbst immer wieder einzureden, dass alles in Ordnung war. Aber ohne Erfolg. Sie wurde das Gefühl nicht los, einen entscheidenden Fehler gemacht zu haben.

See der Schatten - Kriminalroman
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