4. Kapitel
Mit leicht zitternden Fingern zog Tess den Schlüssel, den ihr der Anwalt ihrer Tante zugeschickt hatte, aus der Jackentasche. Sie hatte Mühe, ihn in das altmodische Türschloss zu stecken.
Als sie die Haustür öffnete, schlug ihr der typische Geruch entgegen, der untrennbar mit ihrer Kindheit verbunden war. Obwohl die Luft abgestanden und muffig roch, war deutlich der süße Duft von den mit Lavendel gefüllten Stoffsäckchen wahrzunehmen, die ihre Tante Ellen jedes Jahr im Spätsommer selbst genäht und in den Kleiderschränken verteilt hatte. Tess erinnerte sich, dass sie als Kind immer heimlich eines der Säckchen aus ihrem Kleiderschrank geholt und unter ihrem Kopfkissen versteckt hatte. Sie hatte es geliebt, beim Einschlafen den vertrauten Geruch in der Nase zu haben.
Hinter der Haustür lagen direkt das Wohnzimmer und die offene Küche. Dort hingen wie in jedem anderen Zimmer des Hauses zahlreiche sorgfältig gerahmte Zeichnungen und Skizzen von Ellen. Sie hatte als Illustratorin für Kinderbücher gearbeitet und ihre gelungensten Werke an den Wänden verewigt. Da Ellen es nicht gemocht hatte, wenn Tess und Jared ihr beim Malen zugesehen hatten, hatten sie die Bilder immer erst nach deren Vollendung zu Gesicht bekommen. Deshalb war die Fertigstellung jedes neuen Kunstwerks mit Spannung von den beiden erwartet worden.
Bei dem Gedanken daran überkam Tess wieder tiefe Trauer, gepaart mit einem schlechten Gewissen. Sie erinnerte sich nur noch zu gut an das letzte Gespräch, dass sie hier im Haus mit ihrer Tante geführt hatte. Es war am Tag ihres Auszugs gewesen. Sie hatte das Auto mit ihren Sachen vollgepackt und war bereit, in Richtung San Francisco loszufahren. Anstatt ihr zu helfen, hatte Ellen am Küchentresen gestanden und sie stumm beobachtet. Als Tess sich hatte verabschieden wollen, hatte Ellen gezischt: »Du tust es also wirklich. Du rennst vor unseren Problemen weg und lässt mich hier allein.«
»Ich renne nicht weg«, hatte Tess widersprochen, obwohl sie natürlich wusste, dass ihre Tante nicht ganz falsch lag mit ihrem Vorwurf. »Ich gehe nur in eine andere Stadt, um zu studieren. Und du könntest doch einfach mitkommen. Was hält dich denn noch in Shadow Lake?«
Ellen hatte spöttisch aufgelacht. »Das weißt du ganz genau. Mein Sohn liegt hier irgendwo verscharrt. Und ich werde nicht eher weggehen, bis ich ihn gefunden habe.«
Wie so oft hatte Tess nur fassungslos den Kopf geschüttelt. Ihre Tante hatte sich inzwischen so darauf versteift gehabt, dass Jared auch dem – wie sie es nannte – wahnsinnigen Mörder zum Opfer gefallen war, dass sie alle anderen Möglichkeiten kategorisch ausschloss.
Als Tess sie dann zum Abschied umarmen wollte, war Ellen vor ihr zurückgewichen.
Das war das Schlimmste, was du in diesem Augenblick tun konntest, dachte Tess. Diese Geste hatte den endgültigen Bruch zwischen ihnen eingeleitet. Noch beim Verlassen des Hauses hatte Tess sich geschworen, niemals zurückzukehren. Sie hatte zwar noch ein paar Mal mit ihrer Tante telefoniert, als sie in San Francisco lebte, aber es war jedes Mal eher ein höflicher Austausch von Floskeln gewesen als ein vertrautes Gespräch.
Tess wischte sich mit dem Handrücken über ihre brennenden Augen. Wenn sie doch nur die Gelegenheit gehabt hätte, sich mit Ellen vor ihrem Tod zu versöhnen! Oder ihr wenigstens hätte erklären können, warum sie sich so verhalten hatte, sich so hatte verhalten müssen. Dass sie gar nicht anders gekonnt hatte.
Aber es war zu spät. Diese Gelegenheit würde es niemals geben.
Tess merkte, wie ihre Entschlossenheit sie langsam verließ. Es war doch ein Fehler gewesen, hierher zurückzukehren, gestand sie sich ein. Wäre sie in Kalifornien geblieben, hätte sie sich diese ganze Gefühlsduselei ersparen können.
Aber dann schüttelte sie vehement den Kopf. Nein, so schnell wollte sie nicht aufgeben. Sie schleppte die Schatten ihrer Vergangenheit schon viel zu lange mit sich herum. Es wurde Zeit, endlich damit fertig zu werden.
Sie beschloss, sich mit Taten abzulenken, anstatt ins Grübeln zu verfallen und sich ihrer Trauer hinzugeben. Sie lief zurück zu ihrem Auto, holte so viel ihrer Sachen, wie sie auf einmal tragen konnte, und brachte sie ins Haus. Beinahe automatisch stieg sie die schmale Holztreppe hoch und öffnete die Tür zu ihrem alten Zimmer.
Als sie sah, dass ihre Tante es genau so belassen hatte, wie es bei ihrem Auszug gewesen war, spürte sie einen dicken Kloß im Hals. Es schien ihr fast so, als hätte Ellen doch noch auf ihre Rückkehr gewartet.
Auf den abgenutzten Holzdielen lag immer noch der bunte Flickenteppich, den sie als Kind so gern gehabt hatte. Die Zeichnungen, die Ellen nur für sie angefertigt hatte, hingen gerahmt an den Wänden. Sogar der Kaktus, den sie jahrelang gepflegt hatte, stand noch in einem Topf auf der Fensterbank. Tess staunte, wie groß er geworden war.
Tess ging zu ihrem Regal und zog ein paar der alten Bücher hervor, die sie während ihrer Highschoolzeit regelrecht verschlungen hatte. Sie war überrascht, als ihr aus einer abgewetzten Ausgabe ihres damaligen Lieblingsbuchs ein Foto von Andy Cunningham entgegen fiel. Sie hatte das Bild lange vergessen, das sie mit fünfzehn Jahren zwischen den Seiten versteckt hatte. Damals war sie total in den schwarzhaarigen Jungen mit den leuchtend blauen Augen verknallt gewesen. Ein Jahr später, als er mit seinen Eltern nach Minnesota gezogen war, hatte sie dagegen eher Erleichterung empfunden. Sie lächelte. Vom ersten Freund verlassen zu werden, war in diesem Alter eben eher eine Demütigung als wirklicher Liebeskummer.
Nachdem Tess ihre Kleider im Schrank verstaut hatte, sah sie sich in den anderen Räumen des Hauses um. Auch hier hatte sich nicht viel verändert. Die Tür zu Jareds Zimmer ließ sie allerdings geschlossen. Sie fühlte sich noch nicht stark genug, mit den Erinnerungen in diesem Raum konfrontiert zu werden.
Stattdessen konzentrierte sich Tess auf das, was dringend erledigt werden musste. Sie goss die vor sich hinwelkenden Topfpflanzen und sortierte die verdorbenen Lebensmittel aus dem Kühlschrank aus.
Kopfschüttelnd warf sie ein ganzes Netz mit schimmligen Orangen in den Mülleimer. Sie wusste, dass sich Ellen nach Joannas Tod im Ort sehr unbeliebt gemacht hatte. Freunde hatte sie mit Sicherheit keine mehr in Shadow Lake gehabt. Aber Tess hatte trotzdem gedacht, in so einem kleinen Ort wären die Menschen in einer Notlage füreinander da. Dass sich keiner der Nachbarn nach ihrem Tod wenigstens um das Nötigste gekümmert hatte, war für sie wie ein Schlag ins Gesicht.
Nachdem alles Wichtige erledigt war, packte Tess ihr letztes mitgebrachtes Sandwich aus, ließ sich auf das breite, bequeme Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Ein bisschen Ablenkung konnte sie jetzt gut gebrauchen.
Sie zappte sich durch die verschiedenen Kanäle, während sie lustlos auf dem wie Pappe schmeckenden Brot herumkaute. Auch das Fernsehprogramm war nicht gerade nach ihrem Geschmack. Neben jeder Menge Werbespots liefen alte Liebesschnulzen, idiotische Reality-Shows und die Wiederholungen einiger Serien. Tess blieb bei einer Tierdokumentation aus dem australischen Dschungel hängen. Das fand sie zumindest einigermaßen interessant.
Aber nur wenige Minuten später schaltete sie das Gerät wieder aus. Sie konnte sich ohnehin nicht auf das Programm konzentrieren, da ihre Gedanken immer wieder in die Vergangenheit abschweiften. Minutenlang saß sie schweigend auf dem Sofa und dachte nach.
Irgendwann reichte es ihr jedoch. Sie raffte sich auf und beschloss, nicht länger zu grübeln. Stattdessen ging sie zu der Wand des Wohnzimmers, die Ellen über und über mit Fotos dekoriert hatte. Unzählige Kinderbilder vom Baby- bis zum Highschoolalter von Tess und Ellens Sohn Jared hingen neben Bildern von Tess` Eltern und Ellens Mann Jonathan, die vor etlichen Jahren gemeinsam bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Für Ellen war es damals selbstverständlich gewesen, nicht nur ihren Sohn Jared allein aufzuziehen, sondern sich auch noch um die knapp ein halbes Jahr jüngere Tess zu kümmern. So waren die beiden wie Geschwister aufgewachsen.
Mit geschlossenen Augen bemühte sich Tess, sich an ihre Eltern zu erinnern, an ein Gesicht, ein Lächeln, eine Stimme. Doch es gelang ihr nicht. Alles, was sie von ihrer Mutter und ihrem Vater wusste, war das, was andere ihr über die beiden erzählt hatten. Auch ihre Gesichter kannte sie nur von Fotos. Sie war noch zu klein gewesen, als sie den Unfall gehabt hatten, um eigene Eindrücke von ihrer Mutter und ihrem Vater behalten zu haben. Im Gegenteil, immer wenn sie versuchte, an ihre Mutter zu denken, kam ihr ganz automatisch das Gesicht ihrer Tante in den Sinn. Ellen hatte ihr die Eltern so gut ersetzt, dass sie eigentlich nie das Gefühl gehabt hatte, etwas zu vermissen.
»Aber dich vermisse ich, Tante Ellen«, flüsterte Tess traurig. Und insgeheim gestand sie sich ein, dass ihr auch Jared immer noch fehlte. Sie seufzte und wandte sich den anderen Bildern zu.
Tess fiel auf, dass es an der Wand keine Fotos aus den letzten sieben Jahren gab. Das neueste Bild zeigte sie zusammen mit Jared an seinem achtzehnten Geburtstag. Während sie selbst wie ein Honigkuchenpferd in die Kamera grinste, zog Jared eine seiner berühmten Grimassen. Sogar auf diesem nicht besonders vorteilhaften Bild war deutlich sein Charme zu erkennen, mit dem er fast alle um den Finger hatte wickeln können.
Tess nahm das Bild von der Wand und betrachtete es lange. Bei dem Gedanken daran, wie stolz sie immer darauf gewesen war, dass er die Rolle des großen Bruders bei ihr eingenommen hatte, lächelte sie traurig. Er war immer für sie da gewesen, auch wenn sein übertriebener Beschützerinstinkt sie manchmal an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte. Wieder seufzte sie. Sein Geburtstag war einer der letzten wirklich glücklichen, unbeschwerten Tage ihres Lebens gewesen. Tess spürte, wie ihr bei der Erinnerung daran die Tränen in die Augen stiegen, doch diesmal kämpfte sie nicht dagegen an.
Wenn sie an jenem verhängnisvollen Abend doch bloß nicht ihre Jacke im Auto vergessen hätte! Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen.
Sie erinnerte sich immer noch an jedes Detail des grausamen Anblicks. So oft war sie die Ereignisse in Gedanken durchgegangen, hatte sie wie einen Film vor ihrem inneren Auge abspielen lassen, dass sie ihr unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt waren.
Es waren vor allem Joanna leblose Augen, die sie seitdem Nacht für Nacht verfolgten. Aber auch tagsüber, wenn sie gar nicht damit rechnete, blitzen die Bilder manchmal in ihren Gedanken auf.
Sie schloss die Augen und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Für ein paar Momente erlebte sie noch einmal den Abend, an dem sie Joanna gefunden hatte. Es waren allerdings immer nur Bruchstücke. Vieles dazwischen fehlte einfach, wie bei einem Filmriss.
So konnte sie sich genau daran erinnern, wie Joanna zwischen den Steinen gelegen hatte. Nicht nur der entsetzliche Anblick, sondern vor allem der Geruch des Bluts ließ sie seitdem nicht los. Sie wusste noch genau, dass Jared nicht dort gewesen war. Aber sie hatte keine Ahnung, ob sie nach ihm gerufen, ihn gesucht hatte. Auch der Rückweg von der Landzunge fehlte in ihrer Erinnerung komplett.
Irgendwann musste sie zurückgestolpert sein und einen Wagen angehalten haben, der auf der Straße in Richtung Medford unterwegs gewesen war. Man hatte ihr später erzählt, dass es sich um einen Farmer aus Klamath Falls gehandelt hatte. Anscheinend war sie ihm direkt vor das Auto gelaufen und hatte ihn damit zum Anhalten gezwungen. Als sie nur unverständliches Zeug von sich gegeben hatte, war er glücklicherweise geistesgegenwärtig genug gewesen, sofort die Polizei zu verständigen.
Das Nächste, an das Tess sich erinnerte, war Sheriff Marcks, der sie ununterbrochen mit Fragen bombardiert hatte, während ein Sanitäter fürsorglich eine Decke um ihre Schultern gelegt und ihr heißen Tee eingeflößt hatte. Sie hatte auf der Trage eines Krankenwagens gesessen und mechanisch die Fragen des Sheriffs beantwortet. Unzählige Menschen waren um sie herumgelaufen und die blitzenden Lichter der Streifenwagen und des Krankenwagens hatten sie geblendet. Irgendwann war dann Ellen gekommen und hatte sie tröstend in den Arm genommen.
Nie würde Tess den Gesichtsausdruck ihrer Tante vergessen, eine Mischung aus Erleichterung, Sorge und nackter Angst. Immer wieder hatte sie nach Jared gefragt, aber Tess hatte nur stumm den Kopf geschüttelt. Sie wusste nicht, was mit ihm passiert war.
Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Jared blieb seit diesem Abend spurlos verschwunden.
Ohne es selbst zu bemerken, wischte sich Tess eine Träne von der Wange. In Gedanken ging sie noch einmal Schritt für Schritt die Ereignisse dieses Abends durch. Jedes Detail klopfte sie auf seine Bedeutung ab. War ihr irgendetwas entgangen? Irgendeine Kleinigkeit, die sie nicht beachtet hatte, die aber wichtig war? Die vielleicht endlich die Frage beantwortete, wo Jared war?
Doch so sehr sich Tess auch anstrengte, ihr fiel nichts Neues ein.
Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollte es auch, nach so vielen Jahren?«, sagte sie laut zu sich selbst.
Sie versuchte, an etwas Anderes zu denken. Das gemeinsame Foto von Jared und ihr hängte sie wieder an die Wand. Stattdessen betrachtete sie eines, das sie zusammen mit ihrer Freundin Kate zeigte. Auf dem Bild waren sie sechs oder sieben Jahre alt. Sie hatten sich mit Tüchern, alten Hüten, Ketten aus Holz- und Glasperlen von Tante Ellen und jeweils einem Paar von ihren hochhackigen Schuhen ausstaffiert. Außerdem hatten sie heimlich einen von Ellens Lippenstiften aus dem Badezimmer geholt und sich damit knallrote Kussmünder gemalt. Auf diese Weise hatten sie öfter »feine Dame« gespielt. Die Zahnlücken in ihren grinsenden Gesichtern bildeten einen skurrilen Kontrast zu den rot geschminkten Lippen.
Tess verzog ihr Gesicht zu einem gequälten Lächeln. Sie und Kate hatten sich gern verkleidet, selbst als sie schon etwas älter gewesen waren als auf dem Foto. Auch andere Interessen hatten die beiden geteilt. Sie mochten dieselbe Musik, die gleiche Art von Filmen, dieselben Bücher. Sogar ihr Freundeskreis war derselbe gewesen. Allerdings nur bis zu Joannas Tod. Ihre Freundschaft war zerbrochen, als Tess aus Shadow Lake weggezogen war.
Wieder begannen Tess` Gedanken um den Abend am See zu kreisen. Unwillkürlich fragte sie sich, was sie hätte anders machen müssen, um den Verlauf des Abends zu ändern, sodass der Mord nicht geschehen wäre. Die Antwort war eigentlich ganz einfach: irgendetwas! Jede kleine anders getroffene Entscheidung hätte bewirken können, dass Joanna heute noch am Leben wäre.
Tess schloss die Augen. Sie wusste genau, dass es zu nichts führte, wenn sie sich selbst quälte, aber sie schaffte es nicht, an etwas Anderes zu denken. Ihr größter Fehler war es vermutlich gewesen, Jared und Joanna allein am See zurückzulassen.
Hätte ich doch damals nur nicht meine Jacke im Auto gelassen!, dachte sie wie schon so viele Male zuvor.