29. Kapitel

 

Greg Koborski lief in seiner winzigen Küche auf und ab. Seine fahrigen Bewegungen verrieten, in welch desolatem Gemütszustand er sich befand.

Vorhin hatte er beobachtet, dass Tess schon wieder Besuch von diesem Kerl bekommen hatte. Und die Begrüßung zwischen den beiden hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Der flüchtige Kuss auf die Wange war dabei gar nicht das Problem gewesen. Aber als Greg gesehen hatte, welche Blicke Tess dem anderen Mann dabei zugeworfen hatte, war ihm ganz schlecht geworden. Er lachte höhnisch auf. Sie hatte ihn ja regelrecht angeschmachtet. Noch immer drehte sich ihm der Magen um bei dem Gedanken daran, dass sie jetzt mit ihm allein im Nachbarhaus war, nur ein paar Meter entfernt, aber gleichzeitig unerreichbar.

Er verzog verbittert das Gesicht, als er daran dachte, wie distanziert sie dagegen ihn am Vortag behandelt hatte. Zuerst hatte er sich eingeredet, dass sie vielleicht nur schüchtern war und ein bisschen Zeit brauchte, um aufzutauen. Doch als er vorhin gesehen hatte, wie sie diesen Kerl angehimmelt hatte, musste er sich eingestehen, dass es wohl doch an seiner Person lag. Hätte er bloß nicht versucht, sie anzufassen, als sie bei der Besichtigung von Ellens Haus im Schlafzimmer gestanden hatten. Ihm hätte doch klar sein müssen, dass sie sich dadurch bedrängt fühlen musste. Zu einer Frau wie Tess musste man ganz behutsam eine Beziehung aufbauen, aber die Zeit hatte er nicht. Sie konnte jeden Tag Shadow Lake verlassen und wieder zurück nach San Francisco gehen.

In einem plötzlichen Gefühlsausbruch schlug er mit der Faust auf die Arbeitsplatte. »Verdammt, diese Frau bringt mich noch um den Verstand!«, zischte er.

Wenn er wenigstens wüsste, was die beiden da anstellten. Vielleicht tranken sie ja nur Tee zusammen und aßen ein paar Kekse. Er lachte spöttisch auf. Das glaubte doch kein Mensch. Zwischen den beiden lief etwas, das war ganz offensichtlich.

Er warf einen flüchtigen Blick zu seinem Schreibtisch hinüber. Eigentlich hätte er sich unbedingt hinsetzen und an seinem Artikel weiterarbeiten müssen. Der Chefredakteur hatte ihn inzwischen schon mehrfach angemahnt. Außerdem warteten zwei weitere Aufträge, die er noch nicht einmal angefangen hatte. Aber ihm war klar, dass an konzentriertes Arbeiten heute nicht mehr zu denken war.

Wenn er bloß irgendwie diese Frau aus dem Kopf bekommen könnte! Langsam wurde das wirklich zur Besessenheit.

Wieder sah er aus dem Fenster. Inzwischen war es fast dunkel. Er selbst hatte kein Licht angemacht. So konnte er besser nach draußen sehen. Bei Tess dagegen sah er einen Lichtschimmer durch die Vorhänge fallen.

Greg ging in Gedanken den Grundriss von Ellens Haus durch. Bei dem kleinen Haus war es nicht schwierig zu identifizieren, welches Fenster zu welchem Raum gehörte. Das Zimmer, in dem Licht brannte, musste das Wohnzimmer sein. Wenigstens ist es nicht das Schlafzimmer, schoss es ihm durch den Kopf. Dann grinste er spöttisch. Naja, das musste ja nichts heißen. Das Sofa im Wohnzimmer sah schließlich auch ganz bequem aus …

Er zwang sich, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen.

Dann fasste er einen Entschluss. Er musste wissen, was die beiden da trieben, sonst würde er heute überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen. Er schnappte sich seinen Hausschlüssel, der auf der Sitzfläche des Sofas gelegen hatte, und warf sich seine Jacke über. Anschließend verließ er das Haus.

Ganz leise, um kein Aufsehen zu erregen, zog er die Haustür hinter sich zu. In gebückter Haltung schlich er durch den Garten auf Ellens Haus zu. Es gab zwar einen Zaun zwischen ihrem und seinem Grundstück, aber der war schon seit Ewigkeiten nicht mehr repariert worden. Greg hatte es sich immer wieder vorgenommen, doch jetzt war er ganz froh darüber, dass er bisher noch nicht dazu gekommen war.

Er schlüpfte durch eines der großen Löcher im Zaun und lief vorsichtig auf das Fenster zu, das er vorher dem Wohnzimmer zugeordnet hatte. Die Vorhänge waren zugezogen, aber zwischen ihnen befand sich ein schmaler Spalt, durch den das Licht der Wohnzimmerlampe fiel.

Geduckt pirschte sich Greg unter das Fenster. Dabei achtete er sorgsam darauf, nicht in die weiche Erde des Blumenbeets zu treten, das Ellen erst vor ein paar Wochen unterhalb des Fensters angelegt hatte. Er wollte Tess schließlich nicht durch verdächtige Fußspuren in ihrem Garten ängstigen.

Langsam und vorsichtig richtete er sich auf, bis er ins Zimmer spähen konnte. Da nur ein schmaler Spalt zwischen den Vorhängen offenstand und sich zudem das Deckenlicht in der Fensterscheibe spiegelte, rechnete Greg kaum damit, entdeckt zu werden. Der Nachteil bestand allerdings darin, dass es ihm durch die Gardinen selber schwerfiel, etwas im Raum zu erkennen.

Er kniff ein Auge zu und ließ den Blick im Zimmer herumwandern. Zuerst fiel ihm das leere Sofa auf. Dann versuchte er, in die Küche zu blicken. Auch dort war niemand zu sehen. Er drehte den Kopf und lehnte ihn ganz nah an die Fensterscheibe. Endlich entdeckte er Tess! Er runzelte verwundert die Stirn, als er sah, dass sie neben dem unbekannten Kerl am Computer saß.

Beinahe hätte er vor Erleichterung laut aufgelacht. Was machten die beiden da? Arbeiteten sie zusammen? Oder lernten sie?

Was immer es auch war, jedenfalls schien es harmlos zu sein.

Wesentlich besser gelaunt als vorher machte sich Greg auf den Rückweg zu seinem Haus. Während er durch den dunkeln Garten schlich, ging ihm ein Gedanke nicht aus dem Kopf: Vielleicht hatte er doch noch Chancen bei Tess.

See der Schatten - Kriminalroman
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