5. Kapitel
Am nächsten Morgen machte sich Tess nach dem Frühstück auf den Weg zum Friedhof von Shadow Lake. An diesem Tag, genau zwei Wochen nach dem Flugzeugunglück, sollte endlich die Beerdigung ihrer Tante stattfinden. Es hatte lange gedauert, bis die sterblichen Überreste der Opfer des Flugzeugunglücks freigegeben worden waren. Viele von ihnen waren völlig verbrannt und nur anhand von zahnärztlichen Unterlagen zu identifizieren gewesen.
Während der kurzen Autofahrt versuchte Tess, das ungute Gefühl zu unterdrücken, das sie überkam. Wie sollte sie die folgenden Stunden nur überstehen? Neben ihrem eigenen schlechten Gewissen, weil sie sich nicht mehr mit Ellen hatte aussprechen können, quälte sie der Gedanke an die Beileidsbezeugungen, die sie über sich ergehen lassen müsste.
Sie fragte sich, wer zu Ellens Beerdigung kommen würde. In einem kleinen Ort wie Shadow Lake, wo jeder jeden kannte, waren Begräbnisse gesellschaftliche Ereignisse. Eine Teilnahme war so etwas wie eine Pflichtveranstaltung, es sei denn, man hatte triftige Gründe dafür, nicht zu erscheinen. Daher ging Tess davon aus, dass die meisten Einwohner von Shadow Lake anwesend sein würden, und sei es nur, um sie selbst neugierig zu begaffen und den aktuellen Klatsch und Tratsch auszutauschen. Sie hoffte inständig, dass sie die Fassung bewahren und nicht vor den Augen des versammelten Ortes zusammenbrechen würde.
Dass zumindest der letzte Teil ihrer Befürchtungen unbegründet gewesen war, stellte sich kurz darauf heraus. Außer ihr und Reverend Cole, der die Zeremonie leitete, war nur noch ein einziger Trauergast anwesend: Rosie Bergman, eine alte Freundin von Ellen, die schon lange vor Jareds Verschwinden nach Portland gezogen war. Die beiden Frauen hatten über die Jahre losen Kontakt gehalten.
Rosie wartete am Eingang des Friedhofs und begrüßte Tess herzlich, als sie ankam. Die alte Dame wirkte kleiner, als sie eigentlich war, denn sie hielt sich extrem gebückt und auf einen Stock gestützt. Tess war bestürzt, wie alt sie aussah. Doch als sie nachrechnete, stellte sie fest, dass Rosie bereits die Achtzig überschritten hatte. Umso mehr freute sie sich, dass die alte Freundin ihrer Tante den weiten Weg aus Portland auf sich genommen hatte, um Ellen die letzte Ehre zu erweisen, und das sagte sie ihr auch.
»Ach weißt du, Schätzchen«, erwiderte Rosie heiser. »In meinem Alter gibt es nicht mehr so viele liebe Menschen, die noch bei einem sind. Da sollte man jeden Freund auf seinem letzten Weg begleiten. Man weiß schließlich nie, wann man selbst an der Reihe ist.«
Tess nickte. Das weiß man in keinem Alter, dachte sie mit einem flüchtigen Blick auf den weiter südlich gelegenen Teil des Friedhofs. Dort lag Joannas Grab. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sich bei ihrem Begräbnis alle Einwohner des Ortes auf dem Friedhof versammelt hatten. Auch Reporter von mehreren Zeitungen und sogar zwei Fernsehteams waren dort gewesen. Schnell verdrängte sie den Gedanken daran und ging neben Rosie langsam zu der Stelle, an der Ellen begraben werden sollte.
Dort wartete bereits der Reverend. Dass dieser sofort mit der Begrüßung begann, sobald Rosie und sie an Ellens Sarg standen, erstickte Tess` Hoffnung auf weitere Trauergäste im Keim. Er zumindest schien mit keinem der Einwohner von Shadow Lake zu rechnen.
Das strahlend schöne Wetter an diesem Tag passte überhaupt nicht zu Tess` Stimmung. Überall auf dem Friedhof streckten Tulpen und Zierlauch ihre Blüten in die Sonne, die jungen Blätter der umstehenden Bäume waren freundlich hellgrün und die Vögel zwitscherten fröhlich.
Von all dem bekam Tess jedoch nichts mit. Wie gelähmt stand sie am Rand des Grabes. In diesem Moment fühlte sie keine Trauer, keinen Schmerz. Es war einfach nur eine tiefe, dunkle Leere in ihr. Vorsichtig strich sie über das dunkle, seidig schimmernde Holz des Sarges. Sie hatte die gesamte Bestattung telefonisch organisieren müssen, war sich aber sicher, dass ihre Wahl Ellen gefallen hätte. Zumindest dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches. Krampfhaft vermied Tess sich vorzustellen, wie der Inhalt des Sarges wohl aussehen mochte.
Während der kurzen Beerdigungszeremonie drehte sich Tess unwillkürlich immer wieder um und suchte die Umgebung mit den Augen ab. Fast erwartete sie, Jared irgendwo hinter den Grabsteinen zu entdecken. Dass Ellen ohne ihn beerdigt wurde, kam ihr einfach nicht richtig vor. Aber natürlich kam Jared nicht.
Nachdem Ellens Sarg in das Grab hinabgelassen worden war und der Reverend ein paar tröstende Worte gesprochen hatte, bedankte sich Tess bei Rosie für ihr Kommen und lud sie noch in Ellens Haus ein. Die alte Dame wollte aber nicht länger bleiben, sondern gleich wieder den Rückweg nach Portland antreten. Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedete sie sich.
Anschließend wandte sich Tess an Reverend Cole.
»Ich hätte nicht gedacht, dass niemand aus Shadow Lake von Tante Ellen Abschied nehmen will«, sagte sie mit unverhohlenem Schmerz in der Stimme. »Trotz allem, was in den letzten Jahren passiert ist, hat sie es nicht verdient, so behandelt zu werden.«
Der Reverend legte ihr die Hand auf den Arm und lächelte ihr verständnisvoll zu. »Seit dem Mord hat sich viel verändert, Tess. Ihre Tante hatte es sicherlich nicht leicht, aber die Schuld liegt nicht nur bei den anderen. Ich fürchte, auch Ellen hat viele Fehler gemacht.«
»Ich weiß.« Tess nickte. »Ich habe es ja am eigenen Leib erfahren, wie schwierig der Umgang mit ihr geworden war. Aber dass keiner aus dem Ort hergekommen ist …« Sie vollendete den Satz nicht.
Kurz nach Joannas Tod hatte die Hexenjagd begonnen. Alle Bewohner von Shadow Lake waren davon überzeugt, dass Jared Joanna im Streit erstochen hatte und dann geflüchtet war, um seiner Strafe zu entgehen. Am Anfang wurde nur hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, Ellen hätte ihrem Sohn zur Flucht verholfen. Aber je länger Jared verschwunden war, umso heftiger wurden die Anfeindungen. Selbst Tess war ab und zu verdächtigt worden, an Joannas Tod beteiligt gewesen zu sein.
Ellen hatte nie geglaubt, dass ihr Sohn Joanna getötet hatte. Sie war immer davon ausgegangen, dass irgendein Unbekannter nicht nur Joanna, sondern auch Jared umgebracht hatte und seine Leiche verschwinden ließ. Dabei hatte sie die unglaublichsten Verschwörungstheorien entwickelt und sich immer weiter hineingesteigert. Natürlich war nach dem Mord die komplette Umgebung des Sees abgesucht worden, allerdings ohne Erfolg. Jared hatte man nicht gefunden. Trotzdem hatte Ellen nicht locker gelassen.
Tess zwang sich zu einem Lächeln, das allerdings recht gequält ausfiel. »Sie hat es mir nie verziehen, dass ich es zumindest für möglich gehalten habe, Jared könnte doch der Täter gewesen sein«, berichtete sie leise. »Verstehen Sie mich richtig«, fügte sie schnell hinzu, »ich glaube nicht, dass Jared ein bösartiger Mensch war, überhaupt nicht. Aber ich kannte ihn so gut wie sonst kaum jemand. Ich weiß, wie aufbrausend er manchmal sein konnte, und wenn er sich wirklich über etwas aufgeregt hat …« Sie biss sich auf die Unterlippe und seufzte.
»Nun«, begann Reverend Cole. Er schien seine Worte genau abzuwägen, bevor er weitersprach. »Ich denke, Sie sollten versuchen, Ihren Frieden mit Ihrer Tante zu machen, Tess. Versuchen Sie, ihr ihre Fehler zu verzeihen. Immerhin hat sie das Schlimmste durchgemacht, das einer Mutter passieren kann. Sie hat ihr Kind verloren, auf welche Weise auch immer.«
Tess nickte. »Ich weiß. Ich wünschte nur, ich hätte mich vor ihrem Tod noch mit ihr aussprechen können. Es kam alles so plötzlich.«
»Ich bin mir sicher, tief in ihrem Herzen hat Ihnen Ellen nichts nachgetragen«, gab der Reverend mit mildem Lächeln zurück. Nachdem er ihr noch versprochen hatte, dass sie sich mit allen Problemen an ihn wenden könne, verabschiedete sich Tess und verließ den Friedhof.
Als sie über den Parkplatz auf ihren Wagen zulief, dachte sie noch einmal über das nach, was sie gerade besprochen hatten. Es stimmte, dachte sie. Tante Ellen hatte wirklich das Schlimmste durchgemacht. Aber in einem Punkt hatte der Reverend sich geirrt: Das Schlimmste war nicht, dass ihr Sohn entweder tot war oder sich eines Mordes schuldig gemacht hatte. Das Schlimmste an allem war die Ungewissheit.